Werkstatt rollaid: Wie Ausgedientes wieder dient

Bernhard Wissler
  |  08. Oktober 2021
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rollaid / Bernhard Wissler

Win – win – win: Zugegeben, der Slogan ist etwas abgegriffen, aber für die Werkstatt rollaid passt er perfekt. Denn diese verbindet die soziale und berufliche Integration Jugendlicher und junger Erwachsener in der Schweiz, die humanitäre Hilfe im Ausland und das Recycling von wertvollem Material.

Auf einen Blick

  • Rollaid betreibt eine Werkstatt, in der Jugendliche und junge Erwachsene mit schulischen, familiären, sozialen, gesundheitlichen und psychischen Hemmnissen fachtechnisch und agogisch betreut werden. 
  • Mit seinen drei Standbeinen soziale und berufliche Integration, humanitäre Hilfe sowie Recycling und bewusster Umgang mit Ressourcen verbindet das Projekt soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit.
  • Der Verein Rollaid finanziert sich über Spendengelder.

«Was geschieht eigentlich mit meinem alten Rollstuhl?», diese Frage äussern Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, wenn sie ihr altes Gefährt ersetzen. Obwohl die Grundqualität des Materials ausserordentlich gut ist, gibt es in der Schweiz oft keine Möglichkeit, gebrauchte Hilfsmittel für Menschen mit Beeinträchtigungen wieder einzusetzen. Oft werden sie entsorgt.

In Ländern mit grosser Armut stellen sich Menschen mit Behinderungen eine ganz andere Frage: «Wie und wo kann ich einen Rollstuhl bekommen?» Für die Betroffenen in Entwicklungsländern ist der Rollstuhl nicht nur ein Hilfsmittel für eine bessere Mobilität. Er erleichtert die soziale Integration, ermöglicht den Zugang zu Schule, Ausbildung oder Arbeit, entlastet die Familienangehörigen und trägt damit zu einem Leben in Würde bei.

Für Betroffene in Entwicklungsländern trägt ein Rollstuhl zu einem Leben in Würde bei.

Der Bedarf an geeigneten Arbeitsplätzen für die berufliche Integration junger Menschen ist in der Schweiz sehr gross. Das Reparieren ausgemusterter Hilfsmittel umfasst eine Vielzahl an unterschiedlichen Tätigkeiten, die sich ausgezeichnet in verschiedene Arbeitsschritte unterteilen und so auf die Bedürfnisse und Kompetenzen der Zielgruppen anpassen lassen. Hierzu braucht es eine entsprechend eingerichtete, fachtechnisch und agogisch geführte Werkstatt. In Kooperation mit Qualifutura, einem Unternehmen für die soziale und berufliche Integration Jugendlicher und junger Erwachsener betreibt der Verein rollaid seit 2017 die Werkstatt rollaid in Interlaken.

In kurzer Zeit hat der Verein rollaid ein dichtes Netzwerk an Zulieferstellen und abnehmenden Hilfsorganisationen aufgebaut sowie weitere Berührungspunkte zu Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft geschaffen. Die Art und Weise, wie das Projekt die Ziele soziale und berufliche Integration, humanitäre Hilfe sowie Recycling verbindet, wird von allen am Prozess Beteiligten anerkannt und geschätzt.

Win 1– Soziale und berufliche Integration

Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die temporär in der Rollaid-Werkstatt arbeiten, handelt es sich um 15 bis 24-Jährige mit verschiedenen schulischen, familiären, sozialen, gesundheitlichen und psychischen Hemmnissen. Sie kämpfen mit Sucht, Schulden, Delinquenz und/oder den Herausforderungen, die durch einen Migrationshintergrund entstehen können. Neben anderen Unterstützungsangeboten soll die Arbeit in der Werkstatt rollaid sie befähigen, in einen Beruf und dadurch in die Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu finden.

In der Werkstatt werden die Jugendlichen fachtechnisch durch rollaid und agogisch durch Qualifutura betreut. Die Werkstatt bietet den jungen Menschen einen anregenden, herausfordernden und gleichzeitig geschützten Raum, um den Einstieg oder Wiedereinstieg in einen beruflichen Alltag zu schaffen.

Die Werkstatt bietet den jungen Menschen einen anregenden, herausfordernden und gleichzeitig geschützten Raum, um den Einstieg oder Wiedereinstieg in einen beruflichen Alltag zu schaffen.

Die Wiederaufbereitung der gesammelten, ausgemusterten Hilfsmittel stellt vom einfachen Sortieren von Ersatzteilen bis zum Entwickeln komplexer Lösungsstrategien eine breite Palette an Inhalten bereit. Dadurch lassen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen gezielt begleiten und unterstützen. Sie erhalten die Gelegenheit, ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entdecken und im weiteren Verlauf ihre Stärken und Kompetenzen auszubauen. Das handwerkliche Tätigsein vermag die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen in vielerlei Hinsicht zu fördern.

Dass die reparierten Rollstühle an Betroffene in Ländern mit grosser Armut abgegeben werden, ist für die Mehrzahl der Teilnehmenden ein wichtiger Faktor. Sie erleben, dass ihre Arbeit Menschen zugutekommt, deren Lebenssituation besonders hart ist. Weil jeder instandgesetzte Rollstuhl am Ende geprüft werden muss, indem man sich reinsetzt und fährt, machen die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem neue Erfahrungen und verändern im wahrsten Sinn des Wortes ihren Blickwinkel auf die Situation ihrer Mitmenschen mit Behinderungen. Entsprechend wird der Einsatz von den Jugendlichen denn auch wahrgenommen: «Ich finde die Werkstatt rollaid gut, weil ich viel Neues, Technisches gelernt habe, aber auch Menschliches.»

Win 2 – Humanitäre Hilfe

Gemäss Schätzungen der WHO sind weltweit etwa 65 Mio. Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen. Nicht einmal die Hälfte davon hat tatsächlich einen Rollstuhl zur Verfügung und nur wenige bekommen einen, der ihren Bedürfnissen entspricht (WHO 2010). Besonders auf der südlichen Halbkugel, in Teilen Asiens, aber auch in osteuropäischen Ländern fehlt es an Hilfsmitteln für Menschen mit Beeinträchtigungen, insbesondere an Rollstühlen. Die Werkstatt rollaid liefert jährlich knapp 1000 Rollstühle an Hilfsorganisationen, die unter anderem in Äthiopien, Armenien, Burkina Faso, Bulgarien, Nepal und Syrien tätig sind. Der berühmte Tropfen auf den heissen Stein, aber im Leben der Betroffenen ein entscheidender Unterschied.

Wenn die eingesetzten Hilfsmittel am Zielort unterhalten und repariert werden können, ist eine lange Einsatzdauer gewährleistet.

Um die humanitäre Hilfe nachhaltig zu gestalten, ist es wichtig, nicht nur die fehlenden Rollstühle und Ersatzteile abzugeben, sondern auch die geeigneten Versorgungsstellen und Reparaturwerkstätten sowie das Fachwissen im Bereich Rehatechnik vor Ort zu verankern. Im Partnerprojekt Addis Guzo in Äthiopien sind die nötige Infrastruktur und das entsprechende Know-how vorhanden. Deshalb gehen ein Grossteil der durch die Werkstatt rollaid revidierten Rollstühle (ca. 700 jährlich) und viele Ersatzteile an diese Organisation. Wenn die eingesetzten Hilfsmittel am Zielort unterhalten und repariert werden können, ist eine lange Einsatzdauer gewährleistet.

Win 3 – Recycling

Es sind unvorstellbare Mengen an Material und Gütern, die weltweit tagtäglich finanziert, produziert, transportiert und – schliesslich – viel zu oft auch aussortiert werden. Ein linearer Prozess mit einer riesigen Sogwirkung, dem wir uns als Konsumenten nur schwer entziehen können. Darunter fallen bei uns auch die Hilfsmittel aus dem Bereich Medizinaltechnik. Auch wenn die Hilfsmittel, die die Invalidenversicherung (IV) abgibt, einfach, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen, ist der Qualitätsanspruch an das Material in der Schweiz vergleichsweise hoch. Vorschriften im Bereich der Produktehaftung schreiben in der Regel vor, dass bei Reparaturarbeiten nur Originalersatzteile eingesetzt werden dürfen. Diese sind oft sehr teuer oder bei älteren Modellen nicht mehr erhältlich. Dadurch stimmt das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei Reparaturen oft nicht mehr. Zusammen mit dem ständigen Nachschub an neuen Hilfsmitteln erschwert diese Entwicklung den Wiedereinsatz gebrauchter Hilfsmittel in der Schweiz zunehmend. Eine Tendenz, die dem Verein rollaid zwar mehr Material beschert, aber aus Nachhaltigkeitsüberlegungen unsinnig ist. Weil es diese Vorschriften in den Zielländern (noch) nicht gibt, kann die Werkstatt rollaid Ersatzteile verschiedener Hersteller kombinieren und so einen Grossteil der Rollstühle wieder funktionstüchtig machen.

Mit dem Recycling der ausgemusterten Hilfsmittel setzt rollaid einen kleinen Pfahl in den nie abreissenden Strom von neuen Produkten. Vielmehr noch; durch die Verbindung der humanitären Hilfe mit dem Recycling setzt der Verein ein eigentliches länderübergreifendes Kreislaufkonzept für Hilfsmittel um (siehe u.a. BAFU 2021). Denn das Recycling umfasst nicht nur die Gewinnung von Ersatzteilen, sondern auch die Reparatur noch funktionstüchtiger Hilfsmittel und das Wiederaufbereiten und den Zusammenbau defekter Rollstühle zu neuen Modellen. Dabei werden Ersatzteile verwendet, die gesammelt oder durch die Demontage schwer beschädigter Rollstühle gewonnen wurden. Erst was weder in der Werkstatt von rollaid noch in den Versorgungsstellen und Reparaturwerkstätten der Hilfsorganisationen Verwendung findet, wird dem kommunalen Recycling oder der Deponie zugeführt.

Mit dem Recycling der ausgemusterten Hilfsmittel setzt rollaid einen kleinen Pfahl in den nie abreissenden Strom von neuen Produkten.

Neben den Rollstühlen sammelt der Verein viele weitere Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen, wie Rollstuhl-Zuggeräte, Rollatoren, Gehstöcke oder Therapiegeräte. Der Anschaffungswert des Materials beträgt schätzungsweise vier Millionen Franken. Gut 70 Prozent davon kommen aus den Hilfsmitteldepots der IV, die der Verein SAHB (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Hilfsmittelberatung für Behinderte und Betagte) bewirtschaftet. Es sind Hilfsmittel der IV-Versicherten, die ersetzt wurden oder nicht mehr zweckdienlich sind. Um den inländischen Absatzmarkt für Hilfsmittel nicht mit geflicktem Material zu konkurrenzieren, hat sich rollaid in einer Vereinbarung mit der SAHB verpflichtet, das Material kostenlos an Hilfsorganisationen abzugeben, die im Ausland tätig sind. Die Zusammenarbeit mit den SAHB-Stellen funktioniert sehr unkompliziert und partnerschaftlich.

«Why do you give us used wheelchairs and not new ones?», wollten die äthiopischen Behörden vom Manager der Partnerorganisation Addis Guzo wissen. Die plausible und unangenehm ehrliche Antwort darauf war, dass der Anschaffungspreis für neue Rollstühle für eine Hilfsorganisation zu hoch ist. Gleichzeitig konnte der Projektleiter aber auf zwei entscheidende Vorteile hinweisen, die den Unterschied machen: Erstens stellt die ausgezeichnete Qualität der Gebrauchtrollstühle aus der Schweiz eine lange Einsatzdauer der Rollstühle sicher und übertrifft die Lebensdauer neuer Billigprodukte bei Weitem. Zweitens decken die ausgemusterten Rollstühle eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen Modellen ab. Dies ermöglicht es der Rollstuhltechnikerin und den -technikern des Vereins Addis Guzo, die Hilfsmittel auf die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen. So lassen sich auch Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die nicht in einem Standardmodell sitzen können, mit einem Rollstuhl versorgen.

Durch die tägliche Arbeit mit rezykliertem Material stehen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Werkstatt von rollaid permanent in der Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit. Sie erleben, dass gebrauchte Güter sinnvoll wiedereingesetzt werden und dass Material, das nicht mehr verwendet werden kann, sauber getrennt entsorgt wird. Dabei verinnerlichen sie die Nachhaltigkeit nicht nur im ökologischen, sondern auch im sozialen Sinn. Denn während die Jugendlichen und jungen Erwachsenen an ihren eigenen sozialen Kompetenzen arbeiten, realisieren sie, dass sie mit den wiederaufbereiteten Hilfsmitteln auch anderen zu mehr Selbstbestimmung und sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten verhelfen: «Die Arbeit, die wir hier in der Werkstatt vollbringen, die bewirkt etwas. Zwar ist das Ergebnis erst ein paar tausend Kilometer weiter anzutreffen, aber du weisst, wofür du morgens aufstehst, und du weisst, dass es nicht so ein Hurradigei-0815-Scheiss ist, sondern etwas, das Sinn macht.»

Win – Win – Win

Die Werkstatt rollaid ist ein Gewinn für die jungen Menschen, die den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt schaffen wollen, für die Menschen mit einer Behinderung, die ein Hilfsmittel erhalten, und für die Menschen und Organisationen, die dem Verein ihre ausgemusterten Rollstühle abgeben, im Wissen, dass diese irgendwo wieder gute Dienste leisten. Die Anerkennung dafür ist gross. Seit dem Start im November 2017 erhielt rollaid vier Auszeichnungen.

Literaturverzeichnis

Bundesamt für Umwelt (BAFU 2021): Kreislaufwirtschaft (Website).

World Health Organization. Regional Office South-East Asia (WHO 2010): Fact Sheet on Wheelchairs.

Ergotherapeut, Rollstuhlfachmann; Geschäftsleiter von rollaid.
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