Teilhabe bis ins hohe Alter

Ältere Menschen sind eine heterogene Gruppe, deren Vielfalt in Zukunft noch ­zunehmen wird. Eines haben jedoch viele gemeinsam: die Fähigkeit und Bereitschaft, sich aktiv am ­gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Eine umfassende Alterspolitik sollte deshalb die Teilhabe älterer Menschen bis ins hohe Alter fördern.
Jonathan Bennett
  |  13. März 2019
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Viele Menschen in der Schweiz haben gute Chancen, ein hohes Alter zu erreichen und dürften zudem den grössten Teil der Lebensphase Alter bei guter Gesundheit verbringen. Das Alter präsentiert sich heute daher oft als langer Lebensabschnitt, der dem Individuum im Vergleich zu anderen Lebensphasen recht grosse Gestaltungsspielräume eröffnet. Das lässt sich damit erklären, dass einschränkende Rahmenbedingungen, wie etwa die eigene Erwerbstätigkeit und die Betreuung bzw. finanzielle Unterstützung der Kinder, in der späteren Lebensphase wegfallen oder zumindest in den Hintergrund treten. Intensive Zeiten der Sorge für die eigenen Eltern finden oft noch während der eigenen Erwerbstätigkeit statt, wohingegen Betreuungs- und Pflegeaufgaben zugunsten eines Lebenspartners oder einer Lebenspartnerin häufig erst ab 80 Jahren anfallen.

Die Altersforschung befasst sich schon seit längerem vermehrt mit den Potenzialen älterer Menschen und betrachtet das Altsein nicht primär als individuelles und gesellschaftliches Risiko. Die angesprochenen neuen Freiheiten tragen dazu bei, dass die individuellen Ausprägungen des Älterwerdens und Altseins ausgesprochen vielfältig sind. Hinzu kommt, dass ältere Menschen bereits auf längere Lebensläufe zurückblicken, in denen sie unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen hatten. Im Zusammenspiel mit den Unterschieden bei der sozialen Herkunft und der Bildung führt dies im höheren Lebensalter zu einer Akzentuierung der Vielfalt. Das kalendarische Alter ist deshalb kein aussagekräftiger Indikator dafür, wie gesund jemand ist, welche Leistungen eine Person noch erbringen kann und will und wie alt sie sich selbst fühlt.

Paradigmenwechsel: von Rückzug zu Aktivität –
 von gesellschaftlicher zu individueller Verantwortung Bevor einige Überlegungen zur möglichen Ausgestaltung von Alterspolitik angestellt werden, soll zunächst ein Blick auf einen wichtigen Paradigmenwechsel in der gerontologischen Theoriebildung geworfen werden. In der lange einflussreichen Disengagement-Theorie (Cumming/Henry 1961) wurde das Altern als das Übernehmen einer von der Gesellschaft definierten Rolle betrachtet, die durch Rückzug und Passivität gekennzeichnet ist. Dabei bewerteten die Autoren dieses Disengagement nicht primär negativ, sondern betonten vielmehr dessen Unausweichlichkeit als ein vom Individuum kaum zu beeinflussendes Merkmal der Lebensphase Alter. Dem Rückzug der älteren Menschen wiesen sie gesellschaftlich durchaus erwünschte Begleiterscheinungen zu, etwa die Übergabe zentraler gesellschaftlicher Rollen an nachfolgende Generationen. Dieses Zurückweichen aus der Mitte der Gesellschaft ging einher mit einem gegenüber heute deutlich geringeren Mass an gesellschaftlichen Erwartungen an die Älteren, zum Beispiel was die Verantwortung für den Erhalt der individuellen Gesundheit oder das freiwillige Engagement für zivilgesellschaftliche Belange betrifft. Der Zugang von Cumming und Henry (1961) steht in starkem Gegensatz zu neueren gerontologischen Theorien, die die Aktivität des älteren Menschen betonen. Ansätze, wie jener des erfolgreichen Alterns (Rowe/Kahn 1997), legen den Akzent vermehrt auf die individuelle Beeinflussbarkeit des Älterwerdens. Im gleichen Masse, wie der Einfluss des Individuums auf sein Altern zunimmt, steigt allerdings auch die dem Einzelnen zugewiesene Verantwortung für das «gelingende Altern».

Diese Entwicklungen der gerontologischen Theoriebildung können in einen grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt werden. Denn die gesellschaftliche Gruppe der älteren Menschen wird zunehmend von Personen geprägt, deren Leben in relativer sozialer und materieller Sicherheit stattgefunden hat. Wie Inglehart (1997) international vergleichend aufzeigte, fördern diese Rahmenbedingungen einen Wertewandel in Richtung Selbstentfaltung und -verwirklichung und eine geringere Betonung von Anpassung und Pflichterfüllung. Oft wird diese Entwicklung auch als Individualisierung bezeichnet (Oyserman et al. 2002). Im Zuge der Individualisierung gewinnen tendenziell Rechte gegenüber Pflichten an Gewicht, steht die Sorge um das Persönliche und Private im Vordergrund und werden Autonomie und Selbsterfüllung betont; gleichzeitig wird aber auch die Bedeutung eigener Leistung hervorgehoben. Wichtige Folgen der Individualisierung sind eine verringerte Konformität und eine Diversifizierung der Gesellschaft (Baumann 2001). Allerdings ist für unsere Gegenwart wohl weniger eine Dominanz ganz bestimmter Werthaltungen als vielmehr das Vorhandensein einer Wertepluralität kennzeichnend. Aufgrund der dargestellten Entwicklung dürfen wir aber davon ausgehen, dass viele der neuen Älteren ihr Älterwerden reflektieren und gesellschaftlichen Zuweisungen und Konventionen bezüglich des Alterns kritisch gegenüberstehen. Die Pluralität der Altersstile dürfte deshalb wohl eher noch weiter zunehmen und Selbstbestimmung und Individualität dürften für ältere Menschen noch wichtiger werden.

Bemühungen um einen globalen Politikansatz In der Kommunikationsgesellschaft (Münch 1991) existieren ältere Menschen nicht einfach, sondern werden auch auf eine ganz bestimmte Weise dargestellt. Kennzeichnend für diese Darstellung ist immer noch, dass das Alter oft als letzte Phase eines typischen Lebenslaufs mit den klar abgegrenzten Abschnitten Lernen, Arbeiten und Ausruhen gesehen wird. Mit dieser letzten Phase werden in der Regel zunehmende Abhängigkeit, Abbau und Verlust verbunden.

Vor diesem Hintergrund ist es als ein wichtiger Fortschritt anzusehen, dass die Weltgesundheitsorganisation bei der Wahrnehmung der Lebensphase Alter in der Publikation «Aktiv Altern: Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln» (WHO 2002) eine Akzentverschiebung hin zu einem vom Individuum aktiv gestaltbaren Lebensabschnitt vorgenommen hat. Inzwischen bevorzugt die WHO (2017) allerdings den Begriff des Healthy Ageing, den sie ebenfalls sehr breit fasst. In besagtem Rahmenwerk werden drei Säulen vorgestellt, auf die die Politik hinarbeiten sollte, wenn sie ein aktives Älterwerden ermöglichen will. Es sind dies Gesundheit, Sicherheit und Teilhabe.

Was die Gesundheit betrifft, unterstreicht die WHO insbesondere die Bedeutung chronischer Krankheiten für das Leben im Alter. Da die Prävention chronischer Krankheiten in der Regel bereits in jüngeren Jahren ansetzen muss, wird betont, wie wichtig die Einnahme einer Lebensspannenperspektive für die öffentliche Gesundheitspolitik ist. Der Gesundheitszustand im Alter ist nach diesem Verständnis das Ergebnis der gesundheitsrelevanten Einflüsse über den gesamten Lebenslauf.

Die Säule Sicherheit betrifft in der Schweiz in erster Linie die finanzielle Sicherheit von älteren Menschen. Auch wenn die materielle Situation der älteren Bevölkerung in unserem Land vergleichsweise gut ist, verträgt sich die trotzdem existierende Altersarmut schlecht mit einer Gesellschaft, die älteren Menschen Teilhabe und Partizipation ermöglichen will (vgl. zum Beispiel Pilgram/ Seifert 2009).

Mit Teilhabe meint die WHO (2002) schliesslich die fortgesetzte Teilnahme an und Einbindung in soziale, ökonomische, kulturelle, spirituelle und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten. Daraus lässt sich ableiten, dass eine umfassende und zukunftsorientierte Alterspolitik mehr beinhaltet als die Organisation und Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen.

Aktives Altern muss umfassend umgesetzt werden Während sich die WHO mit dem genannten Rahmenwerk schon recht früh für ein differenziertes Altersbild eingesetzt und ein breites Verständnis des aktiven Alterns vertreten hat, hat sich die konkrete politische Umsetzung oft auf eine zu enge Auslegung dieses Begriffs konzentriert. Wie Boudiny (2013) aufzeigt, krankt die konkrete Umsetzung des aktiven Alterns auf politischer Ebene oft daran, dass nur einzelne der von der WHO betonten Schwerpunkte angegangen werden. Im Vordergrund der Umsetzung stehen nicht selten ökonomische oder gesundheitsbezogene Interventionen. Da sich die alternde Gesellschaft und der sinkende Bevölkerungsanteil im erwerbsfähigen Alter auf die Finanzierung der Renten auswirken, ist es naheliegend, dass viele politische Interventionen darauf abzielen, die sich abzeichnenden Finanzierungslücken zu schliessen. Auch ist es legitim, dass im Zusammenhang mit dem Anstieg der älteren und hochaltrigen Bevölkerung die Zunahme der Gesundheitskosten thematisiert wird. Die Einschränkung auf ökonomische und gesundheitsbezogene Aspekte wird allerdings dem Grundgedanken des aktiven Alterns nicht gerecht, weil damit soziale, kulturelle, spirituelle und bürgerschaftliche Aspekte von Aktivität ausgeklammert werden.

Zudem sei kritisch angemerkt, dass viele ökonomische und gesundheitspolitische Interventionen ihre Wirkung ausschliesslich auf der Angebotsseite erzeugen (Boudiny 2013). Es wird zum Beispiel die Möglichkeit geschaffen, länger zu arbeiten, indem das Rentenalter erhöht wird, oder es werden Anreize zur Frühpensionierung eliminiert. In Bezug auf die Gesundheit werden oft Angebote zur Förderung der körperlichen Betätigung bei älteren Menschen geschaffen. Dagegen fehlt es an politischen Interventionen, die das Thema auf der Nachfrageseite adressieren, also sicherstellen, dass die geschaffenen Möglichkeiten überhaupt breit genutzt werden können. Bezogen auf den Arbeitsmarkt könnten nachfrageseitige Bemühungen etwa dem Abbau von Altersdiskriminierung, der Wertschätzung älterer Mitarbeiter und der Investition in Aus- und Weiterbildung älterer Menschen dienen. Die Aufforderung, an gesundheitsförderlichen Aktivitäten teilzunehmen, wäre zugleich auch eine Investition in die gesundheitsbezogene Kompetenz und Motivation älterer Menschen. Die oft formulierte Forderung nach freiwilligem Engagement älterer Menschen würde durch die Förderung von Kursen und Trainings zur Befähigung der Freiwilligen höheren Alters und die öffentlich kommunizierte Wertschätzung für dieses Engagement ergänzt.

Die Umsetzung der Politik des aktiven Alterns macht oft ein weiteres Problem sichtbar: Die Gruppe der hochaltrigen Menschen spielt darin meist eine untergeordnete Rolle. Den möglichen sinnstiftenden Tätigkeiten in der Phase der oft fragileren Hochaltrigkeit wird vermutlich deshalb zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie dem stereotypen Bild von Aktivität widersprechen. Auch dies zeigt, wie wichtig es ist, Aktivität umfassend zu verstehen und nach Wegen zu suchen, sie bis zum Lebensende zu ermöglichen.

Schlussfolgerungen für die Alterspolitik Was können wir aus diesen Ausführungen lernen? Zum einen sicherlich, dass ein breites Verständnis vom aktiven Altern den Blick auf die ganze Lebensspanne richtet und vielfältigste Formen des Aktivseins einschliesst. So können etwa Lern­erfahrungen auch in späteren Lebensphasen helfen, soziale Kontakte zu entwickeln oder aufrecht zu erhalten und altersbedingte kognitive Probleme zu verzögern (Phillipson/Ogg 2010). Aktives Altern wird zu einem vielversprechenden politischen Ansatz, wenn er die Vielfalt der Stile des Alterns nicht ignoriert (Boudiny 2013) und sich als eine umfassende Strategie versteht, mit der Partizipation ermöglicht und das Wohlbefinden über den ganzen Lebenslauf optimiert wird. Interventionen können auf der individuellen Ebene des Lebensstils ansetzen, sollten aber auch organisatorische bzw. Managementaspekte umfassen, zum Beispiel in der Arbeitswelt oder bei der Einbindung älterer Freiwilliger. Zudem sollten sie auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene Wirkung entfalten, etwa durch eine verstärkte alterspolitische Zusammenarbeit verschiedener öffentlicher Verwaltungsbereiche auf lokaler wie auch auf Bundesebene (Walker 2018).

Fragt man sich, worin das Gemeinsame eines breit angelegten Ansatzes des aktiven Alterns bestehen könnte, ist der Beizug der ökologischen Gerontologie hilfreich (Wahl et al. 1999). Diese betont, dass das individuelle Altern immer in einer bestimmten Umwelt stattfindet und als kontinuierlicher Anpassungs- und Mitgestaltungsprozess verstanden werden kann. Die zentrale Fähigkeit für das Gelingen des aktiven Alterns ist die Umweltanpassung, die mit zunehmendem Alter oft zu einer grösseren Herausforderung wird. Altersbedingte Einschränkungen, etwa des Hör- und Sehvermögens, spielen dabei eine wichtige Rolle. Umso wichtiger wird es, dass die Umweltbedingungen die Anpassungs- und Mitgestaltungsprozesse des älter werdenden Menschen erleichtern. Die Förderung von geeigneten Wohnmöglichkeiten ist zweifellos ein zentraler Aspekt. Doch auch im wohnungsnahen weiteren Umfeld – also etwa im Stadtquartier, der Nachbarschaft oder dem Dorf – können Umweltfaktoren zum aktiven Altern beitragen. Mit dem Begriff der Sozialraumorientierung wird angesprochen, dass in der wohnungsnahen Umgebung viel dafür getan werden kann, dass ältere Menschen in ihrem Alltag mobil bleiben, wichtige soziale Kontakte pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können (Rüssler/Heite 2017). Die von der WHO (2007) angestossene Initiative «Altersfreundliche Städte» hat in diesem Zusammenhang wichtige Impulse gesetzt, die auch in der Schweiz aufgenommen wurden (vgl. www.altersfreundlich.net und Simon Stocker, «Alterspolitik der Stadt Schaffhausen», S. 46–49). Die diesbezüglichen Bemühungen richten in jedem Fall das Haupt­augenmerk auf Aspekte der baulichen Infrastruktur und der sozialen Umwelt. Nimmt man ein umfassendes Verständnis des aktiven Alterns zum Massstab, so sollte eine sozialraumorientierte Alterspolitik der Erhaltung der Anpassungs­fähigkeit von Menschen bis ins hohe Alter dienen, ihnen die Pflege oder den Aufbau emotional wichtiger sozialer Kontakte ermöglichen und strukturelle Barrieren abbauen.

  • Literaturverzeichnis
  • Walker, Alan (2018): «Why the UK Needs a Social Policy on Ageing», in Journal of Social Policy 47 (02), S. 253–273.
  • Rüssler, Harald; Heite, Elisabeth (2017): «Kommunen als Orte Sozialer Altenarbeit», in Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 50 (5), S. 446–450.
  • World Health Organisation (WHO) (2016): Global strategy and action plan on ageing and health, [Genf: WHO]: www.who.int > Publications > iris.
  • Boudiny, Kim (2013): «‹Active ageing›: from empty rhetoric to effective policy tool», in Ageing and Society 33 (6), S. 1077–1098.
  • Phillipson, Chris; Ogg, Jim (2010): Active Ageing and Universities: Engaging Older Learners. Research Report, London: Universities UK.
  • Pilgram, Amélie; Seifert, Kurt (2009): Leben mit wenig Spielraum, Zürich: Edition Pro Senectute.
  • World Health Organisation (2007): Global Age-Friendly Cities: A Guide, Genf: WHO: www.who.int > Publications > iris.
  • Oyserman, Daphna; Coon, Heather M.; Kemmelmeier, Markus (2002): «Rethinking Individualism and Collectivism: Evaluation of Theoretical ­Assumptions and Meta-Analyses», in Psychological Bulletin 128 (1), S. 3–72.
  • World Health Organisation (2002): Aktiv Altern: Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln, Genf: WHO: www.who.int > iris.
  • Bauman, Zygmunt (2001): Community: Seeking Safety in an Insecure World, Cambridge, UK: Polity Press.
  • Wahl, Hans-Werner; Oswald, Frank; Mollenkopf, Heidrun (1999): «Alter und Umwelt – Beobachtungen und Analysen der Ökologischen Gerontologie», in Wahl, Hans-Werner; Mollenkopf, Heidrun; Oswald, Frank (Hg.), Alte Menschen in ihrer Umwelt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 13–22.
  • Inglehart, Ronald (1997): Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton: Princeton University Press.
  • Rowe, John W.; Kahn, Robert L. (1997): «Successful Aging», in The ­Gerontologist 37 (4), S. 433–440.
  • Münch, Richard (1991): Dialektik der Kommunikationsgesellschaft,Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 880, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Cumming, Elaine; Henry, William Earl (1961): Growing Old, the Process of Disengagement. New York: Basic Books.
Dr. phil., Leiter Institut Alter, Berner Fachhochschule.
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