Soziale Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit in der Entwicklungshilfe

Patrik Berlinger
  |  08. Oktober 2021
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Caritas / Hasan Belal

Bei der Umsetzung der Agenda 2030, die in ihrem Grundsatz «Niemanden zurücklassen» will, weist der Bundesrat der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle zu. Auch die Caritas richtet sich in ihrer Projektarbeit bewusst und überzeugt nach diesem Leitmotiv aus.

Auf einen Blick

  • Die Entwicklungszusammenarbeit ist in der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) kein Thema.
  • Um die Agenda 2030 in ärmeren Ländern zu fördern, setzt der Bundesrat auf die Internationale Zusammenarbeit (IZA).
  • Die IZA-Programme fokussieren u.a. auf den Schutz Migrierender, indem sie z. B. die Gewalt gegen Frauen und Mädchen bekämpfen. Überdies fördern sie die wirtschaftliche, politische und soziale Integration in den Herkunftsländern: So unterstützen sie die Teilhabe an politischen Prozessen, eine bessere Grundbildung oder die Integration in den lokalen Arbeitsmarkt.
  • Mit ihren Migrationsprojekten im Kosovo, in Syrien und in Kambodscha fördert auch Caritas soziale Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit.

Diesen Sommer hat der Bundesrat die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) verabschiedet. Sie bestimmt den Handlungsrahmen für die Umsetzung der Agenda 2030 (United Nations 2015) in der Schweiz und benennt drei Schwerpunktthemen, bei denen «auf Bundesebene ein besonderer Handlungs- und Abstimmungsbedarf zwischen Politikbereichen besteht» – darunter die Förderung der «Chancengleichheit und des sozialen Zusammenhalts» (SNE 2030, S. 4). Für die Umsetzung der Strategie hat der Bundesrat fünf wichtige «Leitlinien für die Bundespolitik» festgelegt. Aus der Sicht ärmerer Länder ist die vierte Leitlinie zentral: Die Schweiz will darauf hinarbeiten, ihre «Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung» (PCSD, Policy Coherence for Sustainable Development) zu erhöhen (SNE 2030, S. 8).

Entwicklungspolitische Kohärenz ist kaum fassbar

Wirklich fassbare Ziele und konkrete Schritte, wie sich die Schweiz bei Kohärenzfragen verbessern möchte, sucht man in der SNE 2030 allerdings vergeblich. Entsprechend unverbindlich heisst es, die Schweiz sei «bestrebt», negative Auswirkungen ihres politischen Handelns auf Entwicklungsländer zu vermeiden (SNE 2030, S. 29).

Die SNE 2030 enthält keine Zielsetzungen zum SDG 17 «Globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung»; kein Wort zum Unterziel der Agenda 2030, das eine Verbesserung der entwicklungspolitischen Verträglichkeit von Politik und Praxis gegenüber dem Ausland anstrebt (Target 17.14 zu PCSD). Das ist bedauerlich. Denn seit Jahren kritisiert der Ausschuss für Entwicklungshilfe der OECD (DAC, Development Assistance Committee) die Schweiz wegen ihrer mangelhaften entwicklungspolitischen Kohärenz: Die Schweiz leiste zwar ausgezeichnete Entwicklungszusammenarbeit, verstosse aber in vielen Bereichen der Aussenpolitik gegen die Interessen armer Länder und behindere dadurch deren nachhaltige Entwicklungschancen (OECD 2019).

Entwicklungspolitische Kohärenz setzt voraus, dass alle relevanten Departemente und Bundesstellen ihren Beitrag für eine inklusive, chancengerechte und nachhaltige Entwicklung hierzulande und weltweit leisten.

Entwicklungspolitische Kohärenz setzt voraus, dass alle relevanten Departemente und Bundesstellen ihren Beitrag für eine inklusive, chancengerechte und nachhaltige Entwicklung hierzulande und weltweit leisten. Mit Unterstützung des Parlaments muss die Verwaltung dafür sorgen, dass die Gestaltung der verschiedenen Politiken die Ziele und Massnahmen der bewährten Entwicklungshilfe nicht untergräbt. Bundesrat und Parlament müssen sich fragen:

  • Wie gross sind unlautere Finanzflüsse und schädliche Gewinnverschiebungen zur Steueroptimierung aus Entwicklungsländern in die Schweiz?
  • Welche Auswirkungen haben unsere Nahrungs- und Futtermittelimporte und unsere Klima- und Biodiversitätspolitik im Globalen Süden?
  • Werden Schweizer Waffen in Bürgerkriegen und fragilen Kontexten eingesetzt, etwa in Syrien oder im Jemen?
  • Welche Auswirkungen haben unsere Freihandelsabkommen auf Bestimmungen über geistiges Eigentum, die das Recht auf Gesundheit betreffen?
  • Unternehmen hier ansässige multinational tätige Konzerne genug, damit ihre Zulieferfirmen und Tochterunternehmen Kinderarbeit verhindern und Umweltschäden vorbeugen?

Internationale Zusammenarbeit ist wichtiger Bestandteil der SNE 2030

Geht es darum, die Agenda 2030 in ärmeren Ländern zu fördern, kommt der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) die zentrale Rolle zu. Umso bedauerlicher ist es, dass sich der Bundesrat zu Target 17.2, die Investitionen für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen, nicht äussert. Zur Umsetzung des SNE-2030-Schwerpunktthemas «Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt» schreibt der Bundesrat dann aber richtigerweise, die Schweiz trage mit ihrer IZA zur Armutsreduktion bei und unterstütze Menschen darin, ein selbstbestimmtes Leben zu führen (SNE 2030, S. 29). Dabei werde dem Versprechen der Agenda-2030 Leave No One Behind (Niemanden zurücklassen) besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Schweiz achte darauf, geschlechterbasierte Benachteiligungen abzubauen und die Teilhabe von Frauen und Mädchen am ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Leben zu stärken. Im Besonderen setze man sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Bevölkerungsteile ein – von diskriminierten und ausgegrenzten Gruppen, Menschen mit Behinderungen, Kindern, Minderheiten, Flüchtlingen, intern Vertriebenen, Migrantinnen und Migranten sowie von Armut jeglicher Art betroffener Menschen (SNE 2030, S. 32).

Soziale Inklusion in der IZA-Strategie 2021–2024

Die internationalen Ziele der SNE 2030 sind mehr oder weniger deckungsgleich mit jenen der «IZA-Strategie 2021–2024» (Bundesrat 2020), deren Umsetzung massgeblich in der Verantwortung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) liegt. Gleich auf der zweiten Seite steht, dass sich das Engagement der IZA an den Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung, der humanitären Tradition der Schweiz und an Werten wie Verantwortung, Chancengleichheit und Weltoffenheit orientiere (Bundesrat 2020, S. 2). Berechtigterweise hält die Strategie fest, dass die IZA in Entwicklungsländern eine wichtige Rolle bei der Förderung der sozialen Inklusion und der Chancengleichheit für alle spielt (Bundesrat 2020, S. 20).

Die Schweiz achtet darauf, geschlechterbasierte Benachteiligungen abzubauen und die Teilhabe von Frauen und Mädchen am ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Leben zu stärken.

Eines der vier Ziele befasst sich mit der Förderung einer menschenwürdigen Migration (Bundesrat 2020, S. 26). So unterhält die Schweiz IZA-Programme in der Prävention (z. B. durch ein Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts), in Schutz und Integration von Migrierenden in den Herkunftsländern (z. B. durch die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen) sowie bei wirtschaftlichen, politischen und sozialen Perspektiven (z. B. durch Unterstützung der Teilhabe an politischen Prozessen, bessere Grundbildung oder bessere Integration in den lokalen Arbeitsmarkt) (Bundesrat 2020, S. 32).

Auch Caritas fördert die soziale Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit

Auch Caritas legt ein besonderes Augenmerk auf soziale Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel Projekte im Migrationsbereich zeigen (Caritas-Themenpapier 2021): Im Kosovo verfolgt Caritas das Ziel, zurückkehrende Personen nachhaltig zu reintegrieren, sodass ihnen in ihrer Heimat gute sozio-ökonomische Lebenschancen erwachsen. Im konfliktgeplagten Syrien liegt der Fokus auf der Stärkung der Lebensgrundlagen von vulnerablen jungen Syriern. Sie und ihre Haushalte werden darin unterstützt, ihre soziale und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erhöhen – etwa mittels Schulung von Lebenskompetenzen und technischem und unternehmerischem Know-how sowie durch finanzielle Unterstützung bei der Gründung von Kleinstunternehmen.

In Kambodscha bietet Caritas mit ihren Projekten sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen sowie Strassenkindern und Opfern von Menschenhandel umfassenden Schutz und informelle Schulbildung, sodass sie in den öffentlichen Schulen reintegriert werden und berufliche Perspektiven entwickeln können. Ferner erhalten Opfer von Menschenhandel oder häuslicher Gewalt sowie arme alleinstehende Mütter eine Chance, Berufs- und Lebenskompetenzen zu erwerben, die zu mehr sozialer und finanzieller Eigenständigkeit führen. Sie bekommen einen sicheren Lebensraum, gesunde Nahrung und Gesundheitsversorgung. Und sie nehmen an psychosozialen Betreuungsgesprächen teil.   

Leiter Fachstelle Entwicklungspolitik, Caritas Schweiz.
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