Politik der frühen Kindheit muss in kommunaler Hand bleiben

Kindererziehung ist Aufgabe der Eltern. Der Staat kann diese dabei unterstützen und be­gleiten. Damit familienergänzende Angebote bedarfsgerecht und wirksam sind, müssen sie auf die lokalen Gegebenheiten ausgerichtet sein. Die Gemeinden nehmen in der frühen Kindheit daher eine Schlüsselrolle ein.
Claudia Hametner
  |  04. Juni 2021
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In den Gemeinden ist die Bedeutung der frühen Förderung von Kindern im Vorschulbereich sowohl aus sozial- als auch aus bildungspolitischer Sicht weitgehend anerkannt. Mit «früher Förderung» ist dabei nicht gemeint, dass Kinder möglichst früh eine Fremdsprache erlernen oder ihr spezielles musikalisches Talent entfalten können. Vielmehr geht es darum, die Entwicklungschancen der Kinder zu verbessern und die Eltern in ihrer wichtigen Erziehungsaufgabe zu stärken. Die Kinderbetreuung soll in erster Linie Sache der Eltern bleiben. Der Staat kann die Eltern mit entsprechenden familienergänzenden Angeboten unterstützen, beraten und begleiten. Gemeinsam schaffen Eltern und Anbieter der familienergänzenden Kinderbetreuung gute Startbedingungen für eine erfolgreiche Entwicklung der Kinder.

Die Familien- und Kinderpolitik ist primär Sache der Gemeinden In den letzten Jahren hat sich in den Gemeinden viel getan; zahlreiche Projekte wurden lanciert, Strukturen und Angebote im Bereich der frühen Kindheit auf- bzw. ausgebaut. Nicht zuletzt auch dank der befristeten Finanzhilfen, die der Bund seit 2003 für die familienergänzende Kinderbetreuung ausrichtet (BSV 2021). In den Gemeinden besteht heute eine breite Palette von familienergänzenden Angeboten im Vorschulbereich wie Spielgruppen, Tagesfamilien, Mütter- und Väterberatung, Kindertagesstätten (Kitas), aber auch Angebote der Nachbarschaftshilfe. Immer mehr Gemeinden werden in der frühen Förderung aktiv und setzen das Thema auf die politische Agenda. Als Anlaufstellen für Familien unterstützen sie die Vernetzung der relevanten Akteure vor Ort, beteiligen sich an der Finanzierung der Infrastrukturen wie auch an der Subventionierung von Betreuungsplätzen, um mittels Betreuungsgutscheinen die Kosten der Eltern zu senken.

Zunehmend wichtig sind auch Investitionen in die frühe Sprachförderung. Gemeinden und ihre Schulen sind vermehrt mit dem Problem konfrontiert, dass sich Kinder beim Kindergarten- oder Schuleintritt in der Ortssprache nur schlecht ausdrücken können. Entsprechend lancieren Gemeinden spezifische Förderprogramme, damit solche sprachlichen Defizite bereits vor der Einschulung erkannt und angegangen werden.

Angebote der frühen Förderung machen eine Gemeinde für Familien attraktiv, weil sie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Familien, die nicht auf ein Netz von Verwandten und Bekannten zurückgreifen können, sind auf solche Betreuungsangebote angewiesen. Für Alleinerziehende sind sie eine wichtige Voraussetzung, um erwerbstätig zu sein.

Die Planung der Angebote sollte lokal bzw. regional vernetzt erfolgen Die Zuständigkeiten für die einzelnen Angebote der frühen Förderung sind in den Gemeinden auf unterschiedliche Abteilungen und Ressorts verteilt. So sind Kitas in der Regel im Sozialbereich, die Mütter- und Väterberatung im Gesundheitsbereich und die frühkindliche Sprachförderung bei der Bildung oder der Integrationsförderung angesiedelt. Zahlreiche Angebote sind auch aus rein privater Initiative entstanden. Oft fehlt der Überblick, und der Informationsaustausch unter den Beteiligten ist nicht gegeben. Es ist daher zielführend, sich innerhalb der Verwaltung zu vernetzen und gemeinsam eine kommunale Strategie der frühen Kindheit zu entwickeln. Die kommunale Strategie unterstützt die Gemeinden darin, die Planung der Angebote abgestimmt und koordiniert vornehmen und finanzielle Mittel gezielter einsetzen zu können. Grössere Städte verfügen in der Regel über eine solche Strategie. Auch immer mehr kleinere und mittlere Gemeinden sind dabei, kommunale Konzepte und Leitbilder im Bereich der frühen Kindheit zu entwickeln mit dem Ziel, langfristig und ressourcenschonend planen und umsetzen zu können. Die vom Schweizerischen Gemeindeverband (SGV) in Zusammenarbeit mit dem BSV entwickelte Orientierungshilfe für kleinere und mittlere Gemeinden (BSV/SGV 2018) sowie Programme, wie Primokiz2 (RADIX 2021), und das Label Kinderfreundliche Gemeinde (UNICEF 2021) unterstützen Gemeinden in diesen strategischen Entwicklungsprozessen. Die kantonalen Fachstellen im Bereich der Familienpolitik sind wichtige Anlaufstellen und bieten verschiedene Instrumente und Dienstleistungen, die den Gemeinden die Umsetzung von Programmen und Projekten im Vorschulbereich erleichtern.

In einigen Kantonen sind die Zuständigkeiten im Vorschulbereich zwischen Kanton und Gemeinden gesetzlich geregelt. So regelt im Kanton Aargau seit 2016 ein Rahmengesetz die familienergänzende Kinderbetreuung (SAR 815.300; Gesetz über die familienergänzende Kinderbetreuung, KiBeG; Kanton AG 2021). Am Beispiel des Kantons Aargau lässt sich gut zeigen, dass ein Rahmengesetz mit einer einheitlichen Regelung allenfalls sinnvoll, ein identisches Versorgungsmodell für urbane und ländliche Gebiete, für kleinere und grosse Gemeinden aber nicht gleichermassen notwendig ist. Auch mit Vorliegen einer kantonalen Gesetzgebung über die familienergänzende Kinderbetreuung bleibt es wichtig, dass die Gemeinden die Angebotsgestaltung an der lokalen bzw. regionalen Nachfrage ausrichten und unterschiedliche Schwerpunkte setzen können. Die Weiterentwicklung des kommunalen Angebots sollte sich primär an den Bedürfnissen der Familien orientieren und nicht verordnet werden. Gerade für kleinere und mittlere Gemeinden bietet auch die interkommunale Zusammenarbeit im Bereich der frühen Förderung grosses Potenzial. Im Rahmen regionaler Netzwerke bzw. kommunaler Zweckverbände können die Gemeinden die Planung und Umsetzung der Angebote so gemeinsam und abgestimmt angehen.

Es braucht keinen Verfassungsartikel für die Kinderbetreuung Mit dem im Februar 2021 veröffentlichten Bericht (Bundesrat 2021) zur Politik der frühen Kindheit nimmt der Bundesrat aus Sicht des SGV eine gute Auslegeordnung der rechtlichen Grundlagen und der föderalen Aufgabenteilung im Bereich der frühen Kindheit vor. U. a. hält er darin fest, dass «bereits eine Vielzahl von Massnahmen getroffen wird, um schweizweit qualitativ hochstehende und für alle Bevölkerungsgruppen zugängliche Angebote im Bereich der Politik der frühen Kindheit zu fördern». Gleichzeitig nennt der Bericht auch Lücken und Verbesserungspotenziale und zeigt verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten auf Bundesebene auf.

Aus Sicht des SGV ist es grundsätzlich richtig, dass der Bundesrat sich mit den vorgeschlagenen Massnahmen im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Grundlagen bewegt. Dabei teilt der SGV seine Auffassung, dass insbesondere die Verbesserung der statistischen Datengrundlagen ein erhebliches Entwicklungspotenzial aufweist. Verlässliche datengestützte Entscheidungsgrundlagen vorliegen zu haben kann wesentlich dazu beitragen, die Planung und Steuerung eines bedarfsgerechten Angebots in den Kantonen und Gemeinden zu vereinfachen. Ebenso ist zu begrüssen, dass der Bundesrat den regelmässigen fachlichen Austausch und die Koordination der Bundesämter verstärken möchte, die auf Bundesebene in die Politik der frühen Kindheit involviert sind. Für weitere spezifische Bundeskompetenzen bzw. neue Bundesaufgaben in der frühen Kindheit sieht der SGV aktuell keinen Handlungsbedarf.

Entscheidend ist insbesondere ein gutes Zusammenspiel zwischen Kanton und Gemeinden. Die Mehrheit der Kantone verfügt heute über eine Strategie der frühen Kindheit und stellt die Vernetzung und den Erfahrungsaustausch mit den Gemeinden sicher. Auch die mit dem Thema befassten kantonalen Direktorenkonferenzen SODK, EDK und GDK setzen sich gemeinsam für eine kohärente und koordinierte interkantonal abgestimmte Politik der frühen Kindheit ein. Diesen Weg gilt es weiter auszubauen, um in Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden und der Wirtschaft gemeinsam Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.

Der bundesrätliche Bericht greift für einige Fachorganisationen und Verbände zu kurz. Sie fordern eine nationale Strategie zur frühen Förderung und erachten einen Verfassungsartikel für notwendig. Aus staatspolitischen Überlegungen ist das aus Sicht des SGV der falsche Weg. Bedarfsgerechte und wirksame Angebote der frühen Kindheit sind auf die lokalen Gegebenheiten und Bedürfnisse auszurichten. Folglich muss der Vorschulbereich im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden und Kantone bleiben. Diese beiden Staatsebenen haben in den letzten Jahren viel in die familienergänzende Kinderbetreuung investiert und werden das auch in Zukunft tun und zwar bedarfsgerecht. Eine schweizweite Verpflichtung und allfällige neue Bundesnormen, wie Kantone und Gemeinden den Vorschulbereich regeln müssen, lehnt der SGV ab. Der Bund kann die familienergänzende Kinderbetreuung auf Basis der bestehenden rechtlichen Grundlagen unterstützen, dafür braucht es weder eine neue Verfassungsnorm noch weitreichende neue Bundeskompetenzen.

Die kommunalen Behörden sollen auch in Zukunft über einen genügend grossen Handlungsspielraum verfügen, um ihre Angebote gemäss dem unmittelbaren Bedarf und den lokalen Gegebenheiten entwickeln und umsetzen zu können. Der SGV bringt sich neben seiner politischen Arbeit über eine entsprechende Kommunikation in seiner Zeitschrift «Schweizer Gemeinde» sowie im Rahmen von Partnerschaften mit Dritten in die fachliche Diskussion zum Thema der frühen Kindheit ein.

Stv. Direktorin, Leiterin Politik, 
Schweizerischer Gemeindeverband.
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