Politik der frühen Kindheit im Kanton Thurgau

Die ersten Lebensjahre sind entscheidend für den weiteren Bildungs- und Lebensverlauf eines Menschen. Deshalb fördert der Kanton Thurgau in enger Zusammenarbeit mit Politischen Gemeinden und Schulgemeinden bedarfsgerechte Angebote im Frühbereich.
Jasmin Gonzenbach-Katz
  |  04. Juni 2021
  • Chancengerechtigkeit
  • Familie
  • Gesellschaft
  • Kinder

Seit dem Jahr 2015 hat der Kanton Thurgau seine Bestrebungen im Bereich der Frühen Förderung konzeptionell festgehalten. Das zweite und aktuelle «Konzept Frühe Förderung Kanton Thurgau 2020–2024» (Kt. Thurgau 2020) schliesst an das bisherige Grundverständnis und die Grundlagen aus dem Vorgängerkonzept «Frühe Förderung Kanton Thurgau 2015–2019» (Kt. Thurgau 2015) an. Es beschreibt die Zuständigkeiten, Herausforderungen und strategischen Ziele. Verschiedene Massnahmen zeigen den Handlungsradius des Kantons auf und geben Anregungen an die Politischen Gemeinden, Schulgemeinden und weitere Organisationen.

Definition Frühe Förderung

  • Die Lebensphase des kleinen Kindes, die in der Schwangerschaft beginnt und mit Eintritt in den Kindergarten (i. d. R. mit vier Jahren) endet, steht im Fokus der Frühen Förderung.
  • Frühe Förderung unterstützt alle Kinder in der Entwicklung ihrer sozialen, emotionalen, kognitiven, körperlichen und psychischen Fähigkeiten, damit sie einen guten Start ins Leben haben.
  • Frühe Förderung unterstützt (werdende) Eltern darin, ihren Kindern ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem sie sich kindgerecht entwickeln können.

Angebote und Zuständigkeiten Die zahlreichen Angebote der Frühen Förderung basieren auf unterschiedlichen Grundlagen. Indizierte Angebote (z. B. sonderpädagogische Massnahmen, Kindesschutz) verfügen über klare Zuständigkeiten und gesetzliche Grundlagen und es besteht ein einheitliches Dienstleistungsangebot. Währenddessen verfügen die selektiven Angebote (z. B. aufsuchende Elternarbeit, Angebote zur Sprachförderung, Sozialberatung) nur teilweise über gesetzliche Grundlagen. Entsprechend existiert kein einheitliches Dienstleistungsangebot und die Zuständigkeiten sind nicht immer klar. Im Bereich der allgemeinen Angebote rund um die Geburt sowie für Beratung und Prävention sind die Zuständigkeiten klar und gesetzlich geregelt. Für die familienergänzende Kinderbetreuung lassen die gesetzlichen Grundlagen den Gemeinden eine hohe Autonomie bei der Umsetzung. Insgesamt führen diese verschiedenen Ausgangslagen der einzelnen Angebote zu einer unterschiedlichen Angebotsbreite in einer Gemeinde oder Region. Um die Chancengerechtigkeit zu erhöhen, braucht es kohärente und qualitativ gute Angebote, die aufeinander abgestimmt sind.

Handlungsfelder und bisherige Entwicklung Im Juni 2010 wurde die kantonale Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen (KJF) gegründet. Seitdem koordiniert sie Entwicklungen in der Familienförderung, Elternbildung und -beratung, Kinder- und Jugendförderung sowie der Frühen Förderung. Die Fachstelle KJF berät Gemeinden und Organisationen zu aktuellen Fragestellungen. Sie unterstützt kommunale sowie kantonale Projekte fachlich, ideell und/oder finanziell, primär mittels Anschubfinanzierung. Das aktuelle Konzept Frühe Förderung (Kt. Thurgau 2020) enthält insgesamt 27 Massnahmen in vier Handlungsfeldern (vgl. Grafik G1), deren Ziele zusammen mit ausgewählten Massnahmen nachfolgend vorgestellt werden.

Um eine wirksame Frühe Förderung im Kanton zu etablieren, braucht es in erster Linie ein klares politisches Commitment, sowohl auf kantonaler als auch auf kommunaler Ebene. Deshalb erarbeitet der Kanton Thurgau zusätzliche gesetzliche Grundlagen für die Frühe Förderung. Die Finanzierung der Angebote soll so gestaltet sein, dass sie für alle Familien zugänglich und bezahlbar sind, ohne dass bei der Qualität Abstriche gemacht werden müssen. Kommunale Bestandsaufnahmen und Konzepte sind für die Zielerreichung wichtig, ebenso die Information der Familien über die bestehenden Angebote.

Handlungsfeld 1: Grundlagen, Information und Sensibilisierung

Ziel: Die Anliegen und Zielsetzung der Frühen Förderung sind bekannt, gesetzlich verankert und die Finanzierung ist geregelt.

Massnahme: Selektives Obligatorium für die vorschulische Sprachförderung Im Jahr 2020 wurden gesetzliche Grundlagen für die vorschulische Sprachförderung erarbeitet. Das Vernehmlassungsverfahren wurde Ende Januar 2021 abgeschlossen (Kt. Thurgau 2021). Die klaren Grundlagen und Zuständigkeiten zielen darauf ab, die sprachlichen Kompetenzen der Kinder vor dem Kindergarteneintritt zu stärken. Ein selektives Obligatorium soll sicherstellen, dass alle Kinder mit Förderbedarf erreicht werden. Für die Ausarbeitung dieser Grundlagen war der Wissensaustausch mit Verantwortlichen anderer Kantone besonders wertvoll. Dieser erfolgte fast ausschliesslich bilateral, da national kaum gebündelte Informationen oder ein koordinierter Austausch bestehen.

Massnahme: Vorprojekt zur Erarbeitung gesetzlicher Grundlagen im Bereich Kind, Jugend und Familie Neben den ungenügenden Sprachkompetenzen stellen auch sehr heterogene soziale und motorische Kompetenzen beim Kindergarteneintritt eine Herausforderung für die betroffenen Kinder und Kindergartenlehrpersonen dar. Der Regierungsrat beauftragte deshalb im März 2021 das Departement für Erziehung und Kultur, Handlungsoptionen zu erarbeiten, um den Zugang zu den Angeboten der Frühen Förderung sicherzustellen. Das Ziel ist, dass die nötigen Angebote vorhanden sind und die Zusammenarbeit bzw. Triage der Akteurinnen und Akteure geregelt und finanziert ist. Der interkantonale Austausch erfolgte in den bisherigen Vorbereitungen punktuell und könnte in institutionalisierter Form für nationale und kantonale Weiterentwicklungen gewinnbringend sein. Die Grundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten, die der Bundesrat in seinem Bericht zur Politik der frühen Kindheit (Bundesrat 2021) für den Frühbereich generell nennt, sind kongruent mit den im Projektverlauf konstatierten Einschätzungen und den Erfahrungen der Fachstelle KJF. Insgesamt scheinen sich die konsultierten Fachexpertinnen und Fachexperten im Entwicklungsbedarf einig zu sein. Wie die politischen Entscheide letztlich gefällt werden, ist schwer abzuschätzen, beeinflusst den Handlungsspielraum und die Ergebnisse jedoch massgeblich. An dieser Stelle ist (insbesondere betreffend die Finanzierung) auch die Subsidiarität des Bundes und der Kantone sowie die Autonomie der Gemeinden zu beachten.

Handlungsempfehlungen Die Fachstelle KJF unterstützt die Gemeinden bei Bestandsaufnahmen der Frühen Förderung und bei der Erarbeitung von Konzepten. Bisher verfügen im Kanton Thurgau ca. 10 Prozent der Politischen Gemeinden über ein Konzept oder eine Strategie oder sind dabei, solche zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang nutzten zahlreiche Gemeinden das Beratungsangebot Primokiz2 der Schweizerischen Gesundheitsstiftung, das Anfang Juli 2021 von einer neuen Programmphase abgelöst wird (Radix 2021).

Handlungsfeld 2: Bedarfsgerechte Angebote der Frühen Förderung

Ziel: Alle Familien mit kleinen Kindern haben in ihrer Gemeinde oder Region ­Zugang zu einem vielfältigen, qualitativ hochwertigen und bedarfsgerechten Angebot der Frühen Förderung.

Die Unterstützung der Eltern in ihrer Betreuungs- und Erziehungsaufgabe sowie die Stärkung ihrer Ressourcen und Kompetenzen stehen im Vordergrund. Die Zuständigkeit zur Erreichung der Ziele liegt in erster Linie bei den Politischen Gemeinden und der Kanton unterstützt diese darin.

Massnahme: Subsidiäre Mitfinanzierung kantonaler und kommunaler Projekte oder Angebote Die Politischen Gemeinden sind in der Regel Lebensmittelpunkt der Familien. Es ist ihre Verantwortung, für ein bedarfsgerechtes Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung zu sorgen, verschiedene Beratungsangebote bereitzustellen und kommunale Projekte der Frühen Förderung (z. B. Familienzentren, aufsuchende Elternarbeit) finanziell zu unterstützen. Insbesondere Projekte wie Spielgruppen mit alltagsintegrierter Sprachförderung, aufsuchende Angebote, Familienzentren oder Eltern-Kind-Gruppen sind häufig auf Anschubfinanzierung angewiesen, bis sie sich in einer Gemeinde etabliert haben und teilweise auch darüber hinaus. Die subsidiäre Mitfinanzierung und fachliche Begleitung durch die Fachstelle KJF trägt dazu bei, bewährte und neue Angebote lokal zu verankern, sodass die Familien diese bedarfsgerecht nutzen können. Die Gelder für die subsidiäre Mitfinanzierung stammen je hälftig vom Kanton und aus dem kantonalen Integrationsprogramm 2018–2021 (KIP 2; SEM 2021), das durch das Staatssekretariat für Migration getragen wird.

Massnahme und Handlungsempfehlung: Gestaltung kindgerechter Lebensräume und Begegnungsorte für Familien Begegnung und Bewegung im Freien tragen zu einer gesunden körperlichen, sozialen und psychischen Entwicklung bei. Damit diese Lebensräume weiterbestehen – oder, wo nötig, neugestaltet werden –, fördert die Fachstelle KJF zusammen mit dem Departement für Bau und Umwelt die Verankerung des Themas «kindgerechte Lebensräume» in der Raumplanung auf kantonaler und kommunaler Ebene. Nationale Initiativen wie «Kinderfreundliche Gemeinden» (Unicef 2021) sowie die «Richtlinien für Spielräume» (Pro Juventute Schweiz 2019) unterstützen sowohl die kantonalen als auch die kommunalen Vorhaben.

Handlungsfeld 3: Vernetzung und Zusammenarbeit

Ziel: Die Koordination der Angebote im Frühbereich ist kommunal, regional und kantonal ressortübergreifend sichergestellt und die relevanten Akteurinnen und Akteure sind miteinander vernetzt.

Der Austausch und die Zusammenarbeit von privaten und öffentlichen Anbieterinnen und Anbietern sowie von Fachpersonen stärkt gelingende Übergänge zwischen den Angeboten von der Schwangerschaft bis zum Eintritt in den Kindergarten.

Massnahme: «Guter Start ins Kinderleben» Das im Jahr 2013 initiierte Projekt «Guter Start ins Kinderleben», das die Vernetzung und Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure im Frühbereich mit Fokus Früherkennung von Kindswohlgefährdung stärkt, ist etabliert und entwickelt sich kontinuierlich weiter. Eine Broschüre, Instrumente zur Gefährdungseinschätzung, regelmässige Intervision, anonyme Fallberatung und jährliche Netzwerktreffen fördern die Zusammenarbeit der Berufsgruppen der Bereiche Gesundheit, Soziales und Betreuung. Infolge der Erweiterung der Zielgruppe (bisher: null bis drei Jahre; neu: null bis vier Jahre) ist die weitere Bekanntmachung des Netzwerks und der Instrumente ein Schwerpunkt im Jahr 2021.

Weitere Massnahmen zur Vernetzung Seit 2018 koordiniert die Fachstelle KJF eine kantonale Fachgruppe Frühe Förderung, in der sich Vertretungen aus der kommunalen und kantonalen Verwaltung und aus verschiedenen Fachbereichen mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen. Zugleich sind die Mitglieder Botschafterinnen und Botschafter des Frühbereichs und stellen den Wissenstransfer sicher.

Die Vernetzung und Zusammenarbeit der Fachpersonen und weiterer Involvierter innerhalb der Gemeinde liegt in deren Verantwortung und ist zentral. Deshalb erfolgte im Jahr 2021 eine Benennung von Ansprechpersonen für Frühe Förderung in den Politischen Gemeinden.

Handlungsfeld 4: Qualität und Weiterbildung

Ziel: Kompetentes Personal und gute Rahmenbedingungen gewährleisten eine hohe Qualität der Angebote im Frühbereich.

Die Fachstelle KJF nimmt in erster Linie eine beratende Funktion zur Erreichung dieses Ziels ein. Qualitätsziele sollen bei Anpassungen der kantonalen Gesetzgebungen oder bei kommunalen Leistungsvereinbarungen Berücksichtigung finden. Dazu gehören beispielsweise die Anforderungen an die Qualifikation des Personals oder die Unterstützung der Anbieter bei der Qualitätsentwicklung. Kommunale und kantonale Finanzierungsmodelle fördern gute Arbeitsbedingungen, eine angemessene Entlöhnung und genügend zeitliche Ressourcen für Teamsitzungen, Supervision und Weiterbildung.

Massnahme: Stärkung der Spielgruppen Die Stärkung der Spielgruppen steht im Zusammenhang mit der vorschulischen Sprachförderung sowie einem allfälligen selektiven Obligatorium. Die Fachstelle KJF unterstützt die im Jahr 2021 neu gegründete Geschäftsstelle der Fach- und Kontaktstelle Spielgruppen Thurgau. Diese wiederum berät ihre Mitglieder oder interessierte Gemeinden und unterstützt diese in der Qualitätsentwicklung.

Massnahme: Weiterbildung für Fachpersonen und Ehrenamtliche Die Fachstelle KJF bietet jährlich vergünstigte oder kostenlose Weiterbildungen im Bereich transkulturelle Kompetenzen an. Der Ausbau von Weiterbildungen zur alltagsintegrierten Sprachförderung ist ein Schwerpunkt im Jahr 2021. Diese Weiterbildungen richten sich an Kita-Personal, Spielgruppenleitende und Tagesfamilien.

Interkantonale und nationale Zusammenarbeit Der Bundesratsbericht über die Politik der frühen Kindheit (Bundesrat 2021) nennt die Verbesserung der transversalen Zusammenarbeit und Koordination der Bundesbehörden als eine mögliche Handlungsoption. Dies ist sehr zu unterstützen, denn Familien bewegen sich (im Idealfall) ebenfalls durchgängig in den Bereichen Raumplanung, Gesundheit, Soziales, Integration, Bildung, Freizeit etc.

Der Bundesrat betont die positive Wirkung von Angeboten gerade für sozial benachteiligte Familien. Angesichts des grossen Handlungsbedarfs bei der Zuweisung von Familien an bestehende Angebote erscheint der bedarfs- und chancengerechte sowie erschwingliche Zugang zu den Angeboten im Frühbereich umso wichtiger. National abgestimmte Grundlagen könnten die bisherigen, zahlreichen Bestrebungen von Fachpersonen, Organisationen und Kantonen nachhaltig unterstützen.

BsC in Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, Fachexpertin der Fachstelle für Kinder-, Jugend- und Familienfragen, Kanton Thurgau.
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