Perspektive statt Rente: Suva ­vermittelt verunfallte Arbeitnehmer

Über die Initiative Berufliche Reintegration der Suva erhielten in den letzten fünf ­Jahren 180 verunfallte Arbeitnehmer eine neue berufliche Perspektive. Dafür suchte die Suva ­Betriebe, die bereit waren, geeignete Arbeitsplätze bereitzustellen. Damit sparte sie bisher 30 Mio. Franken an Rentenzahlungen ein.
Gabriela Hübscher
  |  04. März 2016
  • Eingliederung
  • Unfallversicherung

Vom Tunnelbauer zum Uhrenmacher, vom Gerüstmonteur zur Fachperson Betreuung, vom Anlagenführer zum Bus-Chauffeur: Drei tragische Schicksale, ausgelöst durch einen Berufsunfall; drei Menschen, die nicht in ihren ursprünglichen Beruf zurückkehren konnten; drei Verunfallte, die eine neue Perspektive brauchten und ihre Chance nutzten. Dank der Initiative Berufliche Reintegration (IBR) der Suva absolvierten sie eine Ausbildung und sind heute alle wieder in der Berufswelt eingegliedert.

Eine Lücke geschlossen  Ein schwerer Unfall verändert das Leben der Betroffenen meist dramatisch. Sie haben nicht nur Schmerzen und viele medizinische Fragen, sondern stehen oft auch vor einer unklaren beruflichen Zukunft. In dieser Situation erhalten sie die gezielte Unterstützung der Suva, die sich beispielsweise um Organisatorisches kümmert, eng mit Ärzten und Arbeitgebern zusammen­arbeitet und bei Bedarf auch Stellenvermittler und Berufsberater beizieht. Für eine erfolgreiche Wiedereingliederung braucht es ein überdurchschnittliches Engagement aller Beteiligten. Die Suva hat die IBR vor fünf Jahren ins Leben gerufen und unterstützt damit gezielt jene Verunfallten, die keinen Anspruch auf eine entsprechende Leistung der Invalidenversicherung (IV) haben. Sei es, weil sie ohne Ausbildung keinen Umschulungsanspruch haben oder weil die IV aus einem anderen Grund nicht aktiv wird. In anderen Fällen arbeiten die beiden Versicherungen zusammen, indem die IV eine Grundleistung entrichtet und die Suva über die IBR eine Zusatzleistung übernimmt, die im Interesse des Versicherten ist. «In solchen Fällen ist es wichtig, dass wir schon früh eng mit der IV zusammenarbeiten können», sagt Ad­rienne Schüpbach, IBR-Verantwortliche und Case Managerin bei der Suva-Agentur Bern.

Früh und kompetent betreut (www.suva.ch/wiedereingliederung)

Statistisch gesehen passieren jede Stunde über 50 Unfälle, daraus resultieren jährlich rund 460 000 Unfälle, die die Versicherten der Suva melden. Es ist ihr ein grosses Anliegen, Verunfallte nicht nur individuell und ganzheitlich zu betreuen, sondern auch auf ihrem Weg zurück ins Arbeitsleben zu begleiten. Denn Verunfallte haben bessere Chancen auf Heilung und Wiedereingliederung, wenn sie frühzeitig und kompetent betreut werden – nicht nur von der Suva, sondern auch von ihrem gesamten Umfeld. Von einer raschen Rückkehr an den Arbeitsplatz profitieren alle – der Verunfallte und seine Familie, seine Arbeitskollegen und sein Arbeitgeber. Oberstes Ziel ist es, dass die Verunfallten – wenn immer möglich – an den alten Arbeitsplatz zurückkehren. Mit der Initiative Berufliche Reintegration unterstützt die Suva Verunfallte, die nicht an ihren bisherigen Arbeitsplatz zurückkehren können und die keine Leistungen für berufliche Massnahmen von der Invalidenversicherung (IV) erhalten.

Ein Glücksfall  Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei der IBR um eine Stellenvermittlung durch die Suva. Diese sucht Unternehmen, die eine verunfallte Person drei bis zwölf Monate lang einarbeiten oder während sechs bis 24 Monaten ausbilden, diese danach fest anstellen oder ihre Festanstellung in einem anderen Betrieb fördern. Eher selten gehen Arbeitgeber von sich aus auf die Suva zu, so wie Daniel Gattiker von der Gattag AG. Er führt ein kleines Personalvermittlungsunternehmen und hörte von der IBR. «Mir gefiel diese Idee auf Anhieb. Denn ich bin überzeugt, dass viele Bezüger von Sozialversicherungsleistungen gerne arbeiten möchten», sagt er. Bereits ein paar Tage nach seinem Anruf bei der Suva lag ein Dossier auf seinem Schreibtisch, zwei Wochen später hatte ein verunfallter Lastwagenchauffeur seinen ersten Arbeitstag in Gattikers Unternehmen. Nun arbeitet er den Mann als Stellenvermittler ein, mit dem Ziel, ihn in einem 100-Prozent-Pensum fest anzustellen.

Ein Glücksfall, findet Adrienne Schüpbach. «Üblich ist es, dass wir sehr aktiv sein müssen, damit wir Leute platzieren können.» Hat sie einen geeigneten Betrieb gefunden, leistet sie vor allem Überzeugungsarbeit. Seit 2011 konnte die Suva über die IBR 180 verunfallte Personen wieder ins Erwerbs­leben eingliedern. Davon absolvierten 55 Personen eine neue Ausbildung, und 125 Personen wurden in eine neue Tätigkeit eingearbeitet.

Anreize für Arbeitgeber  Während der Einarbeitungs- oder Ausbildungszeit unterstützt die Suva den Arbeitgeber, indem sie die Taggeldleistungen des Verunfallten weiter zahlt. So muss der Arbeitgeber dem Verunfallten keinen Lohn ausrichten. Dazu übernimmt sie die notwendigen betrieblichen Eingliederungsmassnahmen wie Arbeitsplatzanpassungen oder Kurse. Nach Abschluss der Massnahme entrichtet sie ein Honorar von maximal 10 000 Franken, je nach Aufwand und Erfolg. Erleidet die einzugliedernde Person während der Ausbildung einen Unfall, so wirkt sich dieser nicht negativ auf die Suva-Prämie des versicherten Betriebes aus.

30 Mio. Franken an Rentenzahlungen eingespart.

Bessere Perspektive, weniger Rente  Die Finanzierung der IBR erfolgt mit Prämiengeldern. Deshalb können davon lediglich Verunfallte profitieren, bei denen die Eingliederungsmassnahmen eine Rentenverminderung von mindestens zehn Prozent bewirken und die mit einer geringeren Erwerbseinbusse rechnen müssen. Seit der Lancierung der IBR hat die Suva rund 30 Mio. Franken an Rentenzahlungen eingespart. Dieses Geld gibt sie in Form von tieferen Prämien an die Versicherten zurück.

Trotz Anreizsystem ist es nicht einfach, Arbeitgeber zu finden, die Verunfallte aus fremden Betrieben bei sich ein­arbeiten oder ausbilden. Denn Unternehmen mit geeigneten Arbeitsplätzen erhalten ähnliche Anfragen auch von anderen Organisationen. Die Wirtschaftslage beeinflusst das Angebot ebenfalls. Adrienne Schüpbach vermittelt keine verunfallten Personen an Unternehmen bloss wegen des ­finanziellen Anreizes. Der Arbeitgeber müsse überzeugt sein, dass ein solcher Mitarbeiter weitere Vorteile bringen könne – dass er etwa gut für das Team sei oder dass er durch die neue Chance eine hohe Motivation an den Tag lege.

Verunfallte als Vorbilder  Dies kann Marlies Stettler, Personalverantwortliche des Handelsunternehmens Kiener + Wittlin, bestätigen. «Mit einem Eingliederungsprogramm kann ein Unternehmen nur gewinnen», ist sie überzeugt. Ihre Firma hat mit verschiedenen Integrationsprogrammen unterschiedlicher Institutionen viel Erfahrung gesammelt. Zum Beispiel mit einem von der Suva vermittelten Bauarbeiter, der nach seinem Unfall in der Logistik eingearbeitet wurde und darauf Vollzeit fest angestellt werden konnte. Heute absolviert der ehemalige Bauarbeiter eine Logistik-Lehre. «Dieser Mitarbeiter nimmt eine grosse Vorbildfunktion ein, da er einen extrem starken Willen hat», sagt Marlies Stettler. Für ein Team sei es bereichernd zu sehen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man einfach ohne Schmerzen arbeiten kann. «Manchmal hilft es, die Relationen zurechtzurücken, wenn man Leute sieht, die im Leben nicht so viel Glück hatten.» Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration sei aber auch, dass das Team offen und tolerant gegenüber den gesundheitlichen Einschränkungen der Betroffenen sei.

Mit einem Eingliederungsprogramm kann ein Unternehmen nur gewinnen.

Die Voraussetzungen  Die Suva unterstützt mit der Initiative Berufliche Reintegration Arbeitnehmende, die von der Suva versichert sind und die nicht in ihre angestammte Tätigkeit zurückkehren oder im Unfallbetrieb nicht anderweitig beschäftigt werden können. Das ärztliche Zumutbarkeitsprofil und die Praxisabklärung der IV oder der Suva müssen allerdings klar ausweisen, dass der Versicherte wieder eingegliedert beziehungsweise an einen neuen Arbeitgeber vermittelt werden kann. Die IBR-Verantwortlichen auf den 18 Suva-Agenturen erkennen schnell, ob sich ein Verunfallter für die Initiative eignet und die nötige Motivation und Sozialkompetenz, insbesondere Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, mitbringt.

Während der Einarbeitungs- oder Ausbildungszeit begleitet der zuständige Case Manager der Suva den Verunfallten und das Unternehmen weiterhin eng. «Dies ist für uns wichtig, falls Probleme auftauchen», sagt Adrienne Schüpbach. Allerdings brechen Konflikte häufig erst nach Abschluss dieser Phase aus; etwa weil sich das Anforderungsprofil der Tätigkeit ändert, der Arbeitgeber plötzlich mehr vom Arbeitnehmer verlangt, als im Vorfeld abgemacht wurde, oder der Verunfallte noch nicht gänzlich bereit ist, in den Berufsalltag zurückzukehren. Solche Schwierigkeiten sind indes selten.

Soziale Verantwortung  2015 hat die Suva ein weiteres, ähnlich gelagertes Anreizsystem für Betriebe ins Leben gerufen, die ihre über 50-jährigen verunfallten Mitarbeitenden in eine neue Tätigkeit einarbeiten. Die Unternehmen erhalten bei erfolgreichem Abschluss der Massnahme ebenfalls eine Entschädigung. Dabei steht neben finanziellen Beweggründen auch die Wahrnehmung sozialer Verantwortung im Mittelpunkt.

Mediensprecherin, Suva Luzern.
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