Paradigmenwechsel bei der Berentung junger Personen?

Eine neue Studie über Eingliederungssysteme in vergleichbaren europäischen Ländern ­bestätigt den Bundesrat darin, dass die eingeschlagene Richtung bei der ­Weiterentwicklung der IV mit einem frühen, konsequenten und beharrlichen Einsatz des bestehenden ­Instrumentariums zielführender ist als ein verschärfter Zugang zur Rente für Junge, wie er mit einer Erhöhung des Mindestrentenalters bisweilen gefordert wird.
Rienk Prins, Christina Eggenberger, Martin Wicki
  |  02. Juni 2017
    Recht und Politik
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Um der anhaltend hohen Anzahl von Berentungen junger Menschen aus gesundheitlichen, v. a. psychischen Gründen entgegenzuwirken, wird unter Berufung auf einen OECD-Bericht (OECD 2014) und entsprechende Reformen der Rentensysteme diverser europäischer Länder verschiedentlich eine Anhebung des Mindestrentenalters gefordert. Damit es deren Ausgestaltung, Umsetzung und Wirkung besser einordnen kann, liess das BSV einen Ländervergleich erstellen, dessen Resultate nachfolgend vorgestellt und eingeordnet werden.

Jung und erwerbsunfähig: auf der Suche nach Massnahmen Die Schweiz ist nicht das einzige Land mit einer unverändert hohen Anzahl junger Menschen, die eine IV-Rente beziehen. Auch in anderen europäischen Ländern liegt die Zahl der jungen Menschen, die aufgrund eines gesundheitlichen (v. a. psychischen) Problems eine Invalidenrente erhalten, auf hohem Niveau oder steigt noch an. Dieser Trend betrifft Personen, die einige Jahre erwerbslos waren, ebenso wie Schulabgängerinnen und Schulabgänger oder junge Stellensuchende mit Behinderungen. Die Studie untersuchte fünf Länder, die ihre landesweiten Reformen umgesetzt und zum Teil bereits evaluiert haben. Das Ziel dieser Gesamt- und Teilreformen war es, die Rentenabhängigkeit junger Menschen anzugehen und möglichst zu vermeiden. Pilotprojekte und Versuche waren nicht Gegenstand der Studie.

Es galt, diverse Forschungsfragen zu klären: Wie wurden die Reformen konzipiert und welche spezifischen Programme oder Massnahmen wurden geplant? Wie wurden sie umgesetzt? Welche Positionen vertraten die verschiedenen Akteure? Wie wirkten sich die Reformmassnahmen aus und welche Erkenntnisse lassen sich (nach kurzer Zeit oder nach einigen Jahren Praxis) daraus ziehen?

Für die Studie wurden westeuropäische Länder ausgewählt, in denen kürzlich mit Reformen versucht wurde, eine Berentung junger Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen möglichst zu vermeiden. Namentlich handelt es sich um Dänemark, Österreich, die Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich. Für jedes Land stellten unabhängige Experten die vergleichbaren Informationen nach einheitlichen Vorgaben und basierend auf einer gemeinsamen Methodik zusammen, wobei sich die Verfahren der Datenerhebung unterscheiden konnten. In einigen Ländern (z. B. Schweden) konnte mit bereits vorhandenen Evaluationen gearbeitet werden. In anderen Ländern hingegen lag die Implementation der Reformen noch nicht lange her oder die Evaluationsforschung hat sich (noch) nicht etabliert. In diesem Fall mussten Interviews und auch Zwischenergebnisse (insbesondere zu Umsetzung und Auswirkungen) herangezogen werden.

Autorinnen und Autoren der einzelnen Länderstudien

Dänemark: Tobias Carstensen, MSc, unabhängiger Sozialforscher, Kopenhagen.

Niederlande: Edwin Luitzen De Vos, MSc, Sozialforscher und Inhaber CHAMP Research & Consultancy, Amsterdam.

Österreich: Michael Fuchs, MSc, Sozialforscher, European Center for Welfare Policy and Research, Wien.

Schweden: Sara Hultqvist, PhD, Nordic Centre for Welfare and Social Issues, Universität Lund.

Vereinigtes Königreich: Sarah Woodin, PhD, Research Associate Centre for Disability Studies, University of Leeds.

Die Studie wurde zwischen Mai und Oktober 2016 durchgeführt. Die fünf Länderberichte halten die gesammelten Informationen in standardisierter Form fest und enthalten meist mehrere Anhänge mit detaillierten Informationen. Sie dienten als Grundlage für einen vergleichenden Synthesebericht, auf dem wiederum der vorliegende Artikel beruht. Der Bericht vergleicht die Reformen, deren Hintergründe sowie Umsetzungsaspekte und hält Ergebnisse und (erste) Erkenntnisse fest. In den Faktenblättern zu den einzelnen Ländern sind die wichtigsten Reformaspekte, Auswirkungen, Statistiken, Schlussfolgerungen, laufenden Diskussionen und Entwicklungen zusammengefasst.

Länder und Reformen Die Reformen in den einzelnen Ländern umfassen folgende Massnahmen:

  • Dänemark hat altersabhängige Beschränkungen für den Anspruch auf Invalidenleistungen (40 Jahre) und ein spezielles Förderprogramm (2013) eingeführt.
  • Schweden hat 2003 für Versicherte unter 30 Jahren altersabhängige Beschränkungen für den Bezug von Invalidenrenten implementiert. Zudem wurden neue erwerbsfördernde Massnahmen eingeführt.
  • Österreich hat 2014 den Grundsatz «Reha vor Pension» gestärkt, die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Invaliditätspension verschärft und das Rehabilitationsgeld sowie bereits 2011 Dienstleistungen für die betriebliche Sekundärprävention entwickelt.
  • Das Vereinigte Königreich hat u. a. die Schwelle für die Anspruchsberechtigung angepasst sowie spezifische Eingliederungs- und Förderprogramme beispielsweise für junge Personen mit psychischen Beeinträchtigungen geschaffen.
  • In den Niederlanden gibt es seit vielen Jahren ein spezielles Unterstützungsprogramm für junge Menschen mit Behinderungen. 2010 wurde es reformiert und zielt nun auf eine Senkung der Rentenabhängigkeit, eine höhere Erwerbsquote und einen besseren Übergang zwischen (Sonder-)Schule und Arbeitsmarkt ab.

Zielsetzungen der Reformen Einige Reformen verfolgten spezifisch das Ziel, die Sozialversicherungen zu entlasten. Es galt zu verhindern, dass immer mehr junge Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu Langzeitbezügerinnen und -bezügern werden, und Handlungsansätze zu finden, um deren Zahl zu verringern (Schweden: 2003; Dänemark: 2013). Gewisse Reformen sind ausserdem auf zuvor gescheiterte Massnahmen zurückzuführen. Spezifische Ziele, die nicht erreicht wurden, waren beispielsweise die Senkung der Anzahl Neubezügerinnen und -bezüger von Invalidenrenten, das Verhindern eines Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt und die bessere Nutzung der (verbleibenden) Erwerbsfähigkeit junger Menschen mit Behinderungen. Auch liess sich der Zugang (junger) Menschen mit Behinderungen zu bestehenden Instrumenten und Dienstleistungen und deren Nutzung durch die Betroffenen nicht wesentlich verbessern. In Österreich wurde zum Beispiel der Sozialversicherungsgrundsatz «Reha vor Pension» zu wenig beachtet.

Die Reformen einiger Länder (z. B. Dänemark, Österreich, Vereinigtes Königreich) richteten sich spezifisch gegen die – absolute oder relative – Zunahme von psychischen Problemen bei jungen Menschen. Weitere Reformgründe waren die unzureichende Nutzung bestehender Instrumente sowie die Schwierigkeiten junger Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. In zwei Ländern (Niederlande, Vereinigtes Königreich) gaben Sparmassnahmen den Ausschlag für neue Massnahmen, in einem Land (Österreich) galt es, steigenden Sozialversicherungsausgaben zu begegnen.

Sehr unterschiedliche Massnahmen In vier Ländern zielen die Reformen darauf ab, verschärfte Voraussetzungen für den Anspruch auf Invalidenleistungen (Rente) zu schaffen und die Auszahlungsbedingungen anzupassen. Gleichzeitig wurden Massnahmen und Angebote eingeführt oder weiterentwickelt, um die Arbeitsmarktbeteiligung und Erwerbstätigkeit von jungen Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu verbessern:

  • Spezifische Förderprogramme, einschliesslich einer (interdisziplinären) Abklärung der Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie individuelle, «massgeschneiderte» Pakete zielen auf eine bessere Bildung sowie Verbesserungen im Bereich berufliche Fähigkeiten, Stellensuche oder Unterstützung am Arbeitsplatz (Niederlande).
  • Intensivierung der Frühintervention im Anfangsstadium der Erkrankung, beispielsweise sobald Krankentaggeld bezogen wird (Schweden).
  • Präventivmassnahmen (Österreich), wie die Beratung von Einzelpersonen und Betrieben, umfassen konkrete Ratschläge, Unterstützung für Arbeitgeber oder Teamschulungen für den Umgang mit psychischer Belastung am Arbeitsplatz.
  • Spezifische Gesundheitsförderungsprogramme, die an junge Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gerichtet sind (z. B. «Individual Access to Psychological Therapies» IAPT im Vereinigten Königreich).

Umsetzung braucht Zeit Es hat sich gezeigt, dass die Einführung und Konkretisierung von Reformen grosse organisatorische Herausforderungen mit sich bringen. Zum einen werden oftmals neue operative Teams oder Case Manager sowie neue Instrumente benötigt. In den meisten Ländern wurden mit der Reform auch neue Strukturen, Instrumente, Abläufe und Verantwortlichkeiten geschaffen. Zum andern gehen die Einarbeitung und Anwendung neuer Massnahmen in der Implementierungsphase meist langsam voran und nehmen einige Zeit in Anspruch. Die Anlaufzeit für die neuen Verfahren, Instrumente oder Angebote war ebenfalls lang. Grund dafür waren anfängliche Organisationsprobleme wegen fehlenden Personals (oder fehlender Erfahrung) und ungenügender Bekanntmachung der neuen Dienstleistungen und Angebote in der Öffentlichkeit (z. B. keine Informationskampagnen).

Ausserdem wurden eher grundlegende Schwierigkeiten oder Schwächen der staatlichen Akteure bei der Wahrnehmung ihrer administrativen Kompetenzen festgestellt. Reformen erfordern oft eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten oder es stellen sich neue Aufgaben, die übernommen (und finanziert) werden müssen. Dabei erschweren mehrere grundsätzliche Faktoren oder Voraussetzungen die Umsetzung:

  • Meist gilt es, eine langjährige strikte Trennung zwischen medizinischer Rehabilitation (erfolgt in der Regel während der Krankschreibung) und beruflicher Eingliederung (in der Regel nach Stabilisierung des Gesundheitszustands) zu überwinden.
  • Im fragmentierten Sozialsystem verfügen die selbstverwalteten öffentlichen Stellen über eine gewisse Unabhängigkeit. Das schränkt die erforderliche neue Zusammenarbeit bisweilen ein. Ausserdem vertreten die betroffenen Einrichtungen oft unterschiedliche Standpunkte darüber, wer die Aufgaben wie Abklärungen, Leistungszahlung und Leistungserbringung übernehmen soll.
  • Auch regionale Unterschiede können die Umsetzung behindern, beispielsweise regionale Diskrepanzen in der medizinischen und psychologischen Versorgung oder das Nebeneinander öffentlicher und privater Leistungserbringer, die ein unterschiedliches Eingliederungs-, Berufsbildungs- oder Einzelcoachingangebot verantworten.
  • Ein Schwachpunkt der Reformen betrifft die Rolle und die Bedürfnisse der Arbeitgeber: Oft werden bei der Ausgestaltung und Umsetzung neuer Programme die (potenziellen) Arbeitgeber nicht ausreichend berücksichtigt.

Neben diesen allgemeinen Aspekten wurden auch interessante länderspezifische Einflussfaktoren auf den Erfolg der Umsetzung von Reformen gefunden:

  • Schweden kennt mit dem System der sogenannten one stop shops regional oder lokal verankerte, gemeinsam finanzierte zentrale Anlaufstellen, in denen sich gemischte Teams von Fachpersonen aus der Sozialversicherungsanstalt, dem staatlichen Arbeitsamt, Gemeinden und Provinzverwaltungen um die Klienten kümmern.
  • Im Vereinigten Königreich laufen die Reformen nicht über die Sozialversicherungsanstalten, sondern über die Regierung, die diverse kleine und grosse private Leistungserbringer mit Koordinationsaufgaben und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen betraut. Diese übernehmen nötige Abklärungen oder unterstützen bei der Stellensuche und am Arbeitsplatz.
  • Unbeabsichtigt können bestimmte Entwicklungen einander auch entgegenlaufen: So hatte in den Niederlanden die (zeitgleiche) Umstrukturierung von Arbeitsämtern und Sozialversicherungsanstalten negative strukturelle Auswirkungen auf die Zusammenarbeit einzelner ihrer Stellen, die zur gleichen Zeit neue Aufgaben zur Unterstützung junger Personen mit Behinderungen übernahmen.

Moderate Auswirkungen Folgende vier allgemeine Schlussfolgerungen lassen sich aus den Reformen ziehen: Erstens zeigt sich, dass die Zahl der Anmeldungen und der jungen Neurentnerinnen und Neurentner durch strengere Voraussetzungen für den Anspruch auf Invalidenleistungen gesenkt werden kann (z. B. Dänemark, Österreich, Schweden). Zweitens benötigen Personen, deren Anmeldung abgelehnt wurde und die an Eingliederungsprogrammen teilnehmen, nach wie vor finanzielle Unterstützung. Mehrere Länder (z. B. Dänemark, Niederlande, Schweden) geben an, dass sich die Leistungsabhängigkeit über einen langen Zeitraum erstrecken kann (in einigen Ländern dauert die Teilnahme an Massnahmen und Angeboten bis zu drei oder fünf Jahre). Drittens zeichnet sich für Personen, die versuchen, nach solch spezifischen Programmen in der Arbeitswelt Fuss zu fassen, je nach Zielgruppe ein gemischtes Bild. In verschiedenen Ländern ist der Anteil der Reformansätze, die es Betroffenen ermöglichen, eine Stelle zu finden oder ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können, (sehr) niedrig. Andere Länder hingegen (z. B. Österreich, Vereinigtes Königreich) verzeichnen für bestimmte Zielgruppen wie junge Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine deutlich höhere Eingliederungsrate. Allerdings zeigte sich in allen Ländern, dass ein Grossteil der jungen Menschen mit Behinderungen nach der Teilnahme an spezifischen Programmen weiterhin von Sozialleistungen abhängig ist, beispielsweise von Krankengeld (Schweden) oder vom Zuschuss zum Mindesteinkommen (Österreich).

Erkenntnisse zur Organisation und Koordination Reformen sind komplex, denn sie betreffen nicht nur ein bestimmtes System, sondern umfassen immer auch Anpassungen mehrerer Programme oder die Einführung verschiedener Massnahmen zur gleichen Zeit. Dies erschwert die Evaluation einzelner Elemente und schafft Herausforderungen für die beteiligten Akteure.

Ausserdem finden Reformen nicht in einer isolierten Umgebung statt: Das institutionelle Umfeld oder die politischen Paradigmen können sich jederzeit ändern. Dies war insbesondere im Vereinigten Königreich der Fall, wo im Zuge von Sparmassnahmen geschützte Werkstätten geschlossen wurden. Betroffen waren aber auch die Niederlande. Dort wurden die Eingliederungsaufgaben dezentralisiert und an die Gemeinden übertragen und gleichzeitig das Budget gekürzt.

Neue organisatorische Strukturen oder Organisationen brauchen Zeit, um sich im neuen Umfeld zu entwickeln. Alle Länderberichte führen verschiedene Probleme auf, deren Bewältigung eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt:

  • Um die Effizienzsteigerung zu erreichen, die mit den Reformen angestrebt werden, und um unnötige Leerläufe oder eine unklare Verteilung der Aufgaben unter den beteiligten Behörden zu vermeiden, sind Zusammenarbeit und Koordination ebenso gefragt wie eine klare Benennung und Zuweisung der Aufgaben. Einzig in Schweden wurde dieser Punkt mit dem Ansatz der one stop shops von Anfang an berücksichtigt.
  • Oft müssen (neue) interdisziplinäre Teams gebildet werden, die ihre Dienstleistungen zusammenführen und Prioritäten setzen sollten. Es kann jedoch sein, dass die Akteure an ihren früheren Zuständigkeiten oder eingespielten Prioritäten in der Betreuung ihrer Klientengruppen festhalten wollen.
  • In vielen Ländern wird aufgrund einer langen Tradition vor allem auf medizinische Rehabilitationsmassnahmen zurückgegriffen, während die berufliche Eingliederung und Schulung oder die Unterstützung bei der Stellensuche kaum Beachtung finden.

Ausblick In einigen Ländern sind die Reformen erst kürzlich erfolgt und es ist deshalb zu früh, um bereits wieder über Reformen zu sprechen. In anderen hingegen werden Revisionen oder Anpassungen in Betracht gezogen. Die Länderberichte enthalten jeweils ein Kapitel zu solchen Entwicklungen. Diese lassen vier Tendenzen erkennen.

Erstens können eine Neuausrichtung der massgebenden politischen Positionen oder eine neue Regierungszusammensetzung die politische Agenda und damit auch das Gesicht einer bereits begonnenen, aber noch nicht gänzlich implementierten Reform verändern, indem sich während ihrer Umsetzung das Verständnis über die Aufgaben der Regierung, über die Eigenverantwortung und/oder Befähigung der Betroffenen, oder aber über die Rolle von finanziellen Anreizen ändert. Zweitens werden viele Programme aufgrund ihrer geringen positiven Auswirkungen beispielsweise auf die Beschäftigungsquoten angepasst. Oder es kommen «Ersatzlösungen» zum Tragen, die die Überweisung von einem Leistungssystem in ein anderes beinhalten.

Drittens gibt es aber auch Massnahmen, die ausgeweitet werden. Zum Beispiel kommen erwiesenermassen bewährte Unterstützungsmodelle in Eingliederungsprogrammen breiter zum Einsatz (z. B. im Vereinigten Königreich: IAPT-Ansatz). Ausserdem erhöhen einige Länder ihr Budget für die psychiatrische Gesundheitsversorgung (z. B. Schweden). In Österreich wird die Prävention durch eine intensivierte Beratung Arbeitnehmender, die arbeitsunfähig (krankgemeldet) sind, verstärkt.

Schliesslich informieren einige Länderberichte über laufende regional verankerte Versuche und Pilotprojekte zur Verbesserung der Angebote für junge Menschen mit Behinderungen. Ein Beispiel dafür sind auf Schülerinnen und Schüler ausgerichtete Programme, mit denen die Stellensuche verbessert werden soll (z. B. Österreich), oder neue Formen der interdisziplinären Kooperation, sei dies im Rahmen von «Rehabilitationsteams» (Österreich) oder «Koordinationsstellen» (z. B. Schweden).

Rienk Prins


 

Die Prins-Studie im Kontext der Weiter­entwicklung IV Entgegen dem allgemeinen abnehmenden Trend bei den Invalidenrenten im Zuge der letzten IV-Revisionen, ist die Zahl junger IV-Neurentner nicht zurückgegangen. Auslöser für IV-Renten sind bei jungen Menschen häufig psychische Erkrankungen und wenn eine IV-Rente ausgerichtet wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr oder eines Eintritts ins Erwerbsleben tief. Daraus leitet der OECD-Bericht die Empfehlung ab, über eine Beschränkung des Zugangs zu einer IV-Rente für junge Personen nachzudenken (OECD 2014, 158). Eine zweite Studie, die auf die Profile von jungen Personen mit psychischen Krankheiten fokussierte, wozu die Forschenden 500 IV-Dossiers auswerteten, stellte fest, dass Schizophrenien oft erst spät erkannt werden. Die Betroffenen erhalten meist schlechte Prognosen und gelangen sehr häufig frühzeitig in die Rente, ohne dass intensive Eingliederungsbemühungen stattgefunden hätten (Baer et al. 2015, 128 f., 145 f.). Ähnliches wird für Versicherte mit affektiven und neurotischen Störungen sowie Entwicklungsstörungen konstatiert. Die Autoren empfehlen, dass für junge Personen das Mindestrentenalter deutlich angehoben und stattdessen rehabilitative Massnahmen über längere Zeit eingesetzt werden sollten (Baer et al. 2015, 148). Auf solche Massnahmen wird auch im ländervergleichenden Schlussbericht der OECD hingewiesen: Hervorgehoben wird Dänemark, wo der Zugang zur Rente für junge Menschen stark eingeschränkt (Mindestalter 40) und stattdessen eine umfassende, interdisziplinäre Rehabilitation aufgebaut wurde (OECD 2015, 152).

Die Forderung, das Mindestrentenalter wie etwa in Dänemark anzuheben, wurde in mehreren Vernehmlassungsantworten zur Weiterentwicklung der IV aufgegriffen (Bigovic 2017, 28 f.). Um genauer zu erfahren, welche Reformen mit welchen Mitteln und welchen Wirkungen in Dänemark und anderen Ländern mit vergleichbarer Problematik angegangen wurden, liess das BSV kurzfristig die Expertise Prins erstellen.

Die erhobenen und systematisierten Erfahrungen zeigen ein differenziertes Bild der Reformmassnahmen. Alle untersuchten Länder haben besondere Massnahmen getroffen und verschiedene Instrumente implementiert, um junge Personen statt in die Rente in die Ausbildung und Erwerbstätigkeit zu führen. Gelegentlich sind diese mit Zugangseinschränkungen zur Invalidenrente verbunden, in jedem Fall mit einem Ausbau rehabilitativer – medizinischer wie beruflicher – Massnahmen. Dabei wird deutlich, dass die kontextuellen Bedingungen und die Umsetzung der Massnahmen von zentraler Bedeutung sind. Zugangsbeschränkungen zur Rente als reine Sparmassnahme greifen zu kurz, müssen doch für den Lebensunterhalt anderweitig Mittel bereitgestellt werden. Wenn die Reformen die Erwerbsfähigkeit der jungen Personen tatsächlich stärken sollen, sind aktivierende und begleitende Massnahmen nötig und für deren Umsetzung genügend Zeit einzuplanen. Interessanterweise gleichen viele der Massnahmen, welche die Studie aufgreift, den mit den letzten IVG-Revisionen in der Schweiz eingeführten Neuerungen, etwa der interinstitutionellen Zusammenarbeit oder den Frühinterventions- und Integrationsmassnahmen. Die Vorschläge der Weiterentwicklung der IV zielen ergänzend und verstärkend in diese Richtung. Einen konsequenten Einsatz des bestehenden Eingliederungsinstrumentariums hält der Bundesrat für zielführender als die Erhöhung des Mindestrentenalters.

Christina Eggenberger & Martin Wicki

Dr. rer. soc., unabhängiger Forscher und Berater im Bereich der Sozialversicherungen und Schwerbehindertenpolitik, Maarssen, Niederlande.
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Lic. rer. soc., Co-Leiterin nationales Forschungsprogramm zur Invalidenversicherung, Geschäftsfeld Invalidenversicherung, BSV.
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Lic. phil. I, Bereich Forschung und Evaluation (bis Ende Oktober 2021), BSV.
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