Medizinische Beurteilung und Begutachtung in der IV

Seit der Abkehr des Bundesgerichts von der Überwindbarkeitsvermutung bei somatoformen Störungen verfolgt die IV konsequent die Umsetzung eines offenen, ressourcenorientierten und einheitlichen Abklärungsverfahrens, das für alle Gesundheitsschäden gleichermassen gilt.
Monika Hermelink, Ralf Kocher
  |  15. Dezember 2017
    Recht und Politik
  • Invalidenversicherung

Die von unabhängigen medizinischen Experten erstellten Gutachten zur Klärung versicherungsmedizinischer Sachverhalte sind für die IV von grundlegender Bedeutung im Hinblick auf eine mögliche Leistungszusprache. Sie müssen den normativen Vorgaben des Bundesgerichts entsprechen und nach den Regeln der medizinischen Kunst erstellt werden. Somit haben sie sowohl rechtlichen wie auch medizinischen Ansprüchen zu genügen. Mit dem Entscheid 141 V 281 vom 3. Juni 2015 hat das Bundesgericht mit den sog. Standardindikatoren neue, verbindliche Normen für die Erstellung von Gutachten aufgestellt. Den IV-Stellen als rechtsanwendende Behörden obliegt die Prüfung, ob die Gutachterinnen und Gutachter sich daran gehalten haben und ob die medizinisch festgestellten funktionellen Einschränkungen schlüssig und widerspruchsfrei nachgewiesen sind: „Je genauer und sorgfältiger der medizinische Sachverständige die Diagnose erhoben, die Einschränkungen der funktionellen Leistungsfähigkeit eingeschätzt und die Kausalität zwischen Gesundheitsschaden und funktioneller Einschränkung dem Rechtsanwender begründet hat, desto weniger Spielraum verbleibt diesem, zu einer abweichenden Beurteilung zu gelangen“ (Gächter/Meier 2015).

Stufengerechte medizinische Abklärung Im Rahmen des Amtsermittlungsverfahrens obliegt es den IV-Stellen nach der Anmeldung einer versicherten Person als erstes alle bereits vorhandenen Informationen, die als Entscheidungsgrundlagen für die rasche Klärung der Leistungsbegehren notwendig sind, möglichst rasch und unkompliziert zu beschaffen und auszuwerten. Hierzu ist mit der versicherten Person gleich zu Beginn des Verfahrens zu klären, ob die IV-Stelle von allen relevanten Personen und Stellen (involvierte Versicherer, Arbeitgeber, behandelnde Ärzte etc.) ausreichend informiert worden ist. Im Rahmen dieses ressourcenorientierten Abklärungsfahrens spielen zudem die behandelnden Ärztinnen und Ärzte eine entscheidende Rolle. Sie sollen wenn immer möglich einbezogen werden und zwar im mündlichen Austausch wie auch durch gezieltes Anfordern schriftlicher Arztberichte (Jentzsch/Lüthi 2017). Entsprechende Weisungen an die IV-Stellen wurden im Verfahrensbereich bereits auf Anfang 2017 eingeführt.

Die vielschichtigen Informationen sind von den IV-Stellen und ihren Ärztinnen und Ärzten in der Form versicherungsinterner medizinischer Stellungnahmen zu würdigen und zu kommentieren. Letztere bilden die Grundlagen für die nachfolgenden Entscheide über mögliche Leistungen der IV. Sie müssen gut dokumentiert und begründet und auch für Nichtmediziner nachvollziehbar sein. Wenn die bestehende Aktenlage nach der ersten Prüfung durch die IV-Stelle weiterhin unvollständig, die Sachlage nicht genügend geklärt oder widersprüchlich ist, besteht die Möglichkeit, die fehlenden Informationen durch eine versicherungsinterne Untersuchung beim Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) zu beschaffen. Diese zeitnahe Beurteilung der versicherten Person ergänzt gezielt die bereits vorhandenen Informationen; sie muss die gleiche Qualität aufweisen, wie sie von externen Begutachtungen erwartet wird. Sollten die versicherungsinternen Abklärungen nicht ausreichen, den medizinischen Sachverhalt genügend klar festzustellen, kann als letzter Schritt ein externes Gutachten eingeholt werden. Im Interesse rascher Verfahren, in Anbetracht der beschränkten Anzahl qualifizierter medizinischer Gutachterinnen, Gutachter und Gutachterstellen und nicht zuletzt auch aufgrund der entsprechenden Kosten sind diese Expertisen möglichst gezielt und nur in begründeten Fällen anzufordern.

Gemäss den Weisungen des BSV muss die IV-Stelle ein externes Gutachten innerhalb von 20 Tagen unter Einbezug des RAD sorgfältig und gründlich auf seine formelle und inhaltliche Qualität überprüfen. Hierbei sind die Standardindikatoren ebenso zu beachten wie die fachspezifischen Leitlinien zur versicherungsmedizinischen Begutachtung, wie sie im einheitlichen Gutachtensauftrag vorausgesetzt werden. Nach erfolgter Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung der Gutachten erfolgt die Einschätzung, ob das Gutachten verlässlich und gut begründet ist und im Hinblick auf den von der IV-Stelle zu fällenden Leistungsentscheid vollen Beweiswert aufweist. Nur wenn dies nicht der Fall ist, stellt die IV-Stelle den Gutachterinnen und Gutachter noch fallspezifische Erläuterungs- oder Ergänzungsfragen. Erst dann kann das eingeholte Gutachten als Grundlage für den nachfolgenden Leistungsentscheid herangezogen werden.

Das Amtsermittlungsverfahren Die zielgerichtete und stufengerechte Abwicklung der medizinischen Abklärungen ist Grundvoraussetzung für ein einfaches und effizientes Amtsermittlungsverfahren. Allerdings muss hierfür die Entscheidungskompetenz der Durchführungsstellen im medizinischen Abklärungsprozess geklärt werden. In der Botschaft zur Weiterentwicklung der IV 1 schlägt der Bundesrat deshalb entsprechende Massnahmen, insbesondere eine Klärung der Kompetenz der Durchführungsstellen beim Einholen von externen medizinischen Gutachten vor. Zudem will er im Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrecht (ATSG) die Grundlagen schaffen, um auf Bundesebene Kriterien für die Zulassung von medizinischen Gutachterinnen und Gutachtern für alle Sozialversicherungen festzulegen und eine unabhängige Stelle zur Qualitätssicherung von Gutachterstellen zu schaffen.

Im Hinblick auf die Festlegung von Zulassungskriterien für medizinische Gutachterinnen und Gutachter hat das BSV im Rahmen seines Forschungsprogramms in der Invalidenversicherung (FoP2-IV/FoP3-IV) das Forschungsprojekt „Aus- und Weiterbildung der medizinischen Gutachterinnen und Gutachter“2 lanciert. Darin werden einerseits das aktuelle System der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz im Bereich der medizinischen Begutachtung erfasst und beschrieben, andererseits die diesbezügliche Situation in einigen Nachbarländern untersucht.

Ressourcenorientiertes Abklärungsverfahren Das BSV hat die Abkehr des Bundesgerichts von der Überwindbarkeitsvermutung bei somatoformen Störungen zum Anlass genommen, ein für alle Gesundheitsschäden einheitliches Abklärungsverfahren zu entwickeln und zu etablieren (Kocher 2015). Indem es das neue Beweis- und Abklärungsverfahren in der IV nicht nur bei psychosomatischen, sondern auch bei psychischen und somatischen Leiden anwendet, geht es allerdings einen Schritt weiter als das Bundesgericht. Und um jegliche Eingliederung, wann immer möglich, erfolgreich zu gestalten, stellen die Abklärungen und Begutachtungen weniger die Defizite als vielmehr die noch vorhandenen Ressourcen einer versicherten Person in den Vordergrund.

In einem ersten Schritt erarbeitete das BSV einen uniformen Auftrag für alle Arten von medizinischen Begutachtungen in der IV3 und erklärte ihn für alle Gutachtensaufträge als verbindlich. Dieser orientiert sich schwerpunktmässig an den Indikatoren des Bundesgerichts und legt grossen Wert darauf, dass allfällige Aussagen und Einschätzungen über die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit einer Konsistenzprüfung unterzogen werden.

Der einheitliche Gutachtensauftrag wird von der juristischen Lehre (Gächter/Meier 2017) kritisiert und es wird eine Abkehr von dieser Praxis gefordert. Dieses Verfahren sei bei vielen psychischen Störungen nicht notwendig, zumal diese Leiden bezüglich ihrer Überprüf- und Objektivierbarkeit nicht mit psychosomatischen Erkrankungen vergleichbar seien. Dem ist entgegenzuhalten, dass der einheitliche Gutachtensauftrag eine möglichst umfassende und ressourcenorientierte Abklärung des Sachverhalts zum Ziel hat. Aus Sicht der IV gibt es keine guten Gründe, die dagegen sprechen, dass der medizinische Sachverständige nicht für jegliche Arten von Gesundheitsschäden die Diagnose genau und sorgfältig erhebt, die Einschränkungen der funktionellen Leistungsfähigkeit einschätzt und die Kausalität zwischen Gesundheitsschaden und funktioneller Einschränkung darlegt. Gerade auch bei psychischen Leiden wie Depressionen ist es wichtig zu fragen, ob die Einschränkungen des Aktivitätenniveaus in vergleichbaren Lebensbereichen bestehen, ob die geschilderten Symptome therapeutisch adäquat behandelt wurden oder ob die geklagten Symptome und Funktionseinbussen konsistent und plausibel sind. Ebenso erscheint es sinnvoll und angezeigt, allfällig divergente Akteninformationen und frühere fachliche Einschätzungen (z.B. auch Berichte von Eingliederungsmassnahmen) zu diskutieren und zu bewerten. Stellungnahmen zum Therapieverlauf und Begründungen von Abbrüchen oder allfälligen Kooperationsproblemen sind ebenso wichtig wie deren qualitative Bewertung. Zudem muss die IV für die Einschätzung des Eingliederungspotenzials wissen, ob bisherige Behandlungen angemessen waren und ausgeschöpft sind, wie das Krankheitsgeschehen einge-schätzt wird und ob sich allenfalls weitere Behandlungsoptionen aufdrängen. Erst diese umfassende fachliche Beurteilung aller Indikatoren vermag die vorgebrachten Einschränkungen plausibel zu begründen und erlaubt es den IV-Stellen zu beurteilen, ob die geklagten Einschränkungen im Erwerbsbereich glaubhaft sind und welche Eingliederungsmassnahmen oder Leistungen der IV angezeigt sind.

Bundesgerichtsschreiber Andreas Traub, der das erwähnte wegweisende Urteil des Bundesgerichts redigiert hat, zeigt sich offen für eine Ausdehnung des neuen Prüfrasters auf nicht somatoforme Gesundheitsschädigungen, nicht zuletzt auch im Interesse einer gleichmässigen Rentenpraxis. Gerade die Prüfstrukturen, die auf die Konsistenz abzielen, eignen sich seines Erachtens in der Grundidee ohne weiteres für alle Arten von Gesundheitsschädigungen (Traub 2015). Interessanterweise wertet auch die medizinische Lehre, die mit ihrer Expertise massgeblich zur Praxisänderung in der Schmerzrechtsprechung des Bundesgerichts beigetragen hat, das Indikatorenverfahren als einen bedeutsamen Fortschritt und vertritt die Ansicht, dass es keine stichhaltigen Gründe für eine begrenzte Anwendung des Indikatorenkatalogs nur auf psychosomatische Störungen gebe (Henningsen 2017).

Ausgehend von diesen Überlegungen spricht aus Sicht der IV alles dafür, an der generellen Anwendbarkeit eines ergebnisoffenen, ressourcenorientierten Abklärungsverfahrens und somit an den Indikatoren im Zusammenspiel mit den spezifischen Leitlinien zur versicherungsmedizinischen Begutachtung festzuhalten. Es darf nicht vergessen werden, dass sich an den gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente in der IV nichts geändert hat und weiterhin nur dann eine invalidisierende Erwerbsunfähigkeit vorliegt, wenn diese nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist (vgl. Art. 7 ATSG).

Im Nachgang zur Abkehr des Bundesgerichts von der Überwindbarkeitsvermutung überarbeiteten die psychiatrische, rheumatologische und orthopädische Fachgesellschaft ihre Leitlinien zur versicherungsmedizinischen Begutachtung unter Einbezug der Standardindikatoren, die das Bundesgericht festgelegt hat. Ausgehend von den neuen fachspezifischen Leitlinien nahm das BSV seinerseits weitere Verbesserungen an der Struktur- und Prozessqualität der medizinischen Begutachtung an die Hand und leitete im Rahmen einer breit abgestützten Arbeitsgruppe (IV, Gutachterwesen, Fachgesellschaften, Versicherte, Gerichte)4 die Überarbeitung des Gutachtensauftrages ein mit dem Ziel, deren Fragestellungen und Struktur zu vereinheitlichen. Die neuen Vorlagen treten am 1. Januar 2018 in Kraft.

Mit der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Struktur- und Prozessqualität verfolgt das BSV die grundsätzliche Verbesserung der Lesbarkeit und Überprüfbarkeit von Gutachten und damit des Begutachtungswesens generell. Die einheitliche Struktur der Dokumentation, fachspezifische Leitlinien zur versicherungsmedizinischen Begutachtung, eine sorgfältige Diagnoseerhebung, eine gut begründete Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit und Kausalität zwischen Gesundheitsschaden und funktioneller Einschränkung wird es den Rechtsanwendern (IV-Stellen, Gerichte) erleichtern, den Gutachten die gesuchte Information und medizinische Einschätzung zu entnehmen.

Die konstruktive Haltung aller Beteiligten anlässlich der Erarbeitung der neuen Instrumente lässt hoffen, dass eine gemeinsame Basis gefunden werden konnte, um diese begleitet durch entsprechende Informationen und Schulungen erfolgreich einzuführen.

 

Bedeutung für die Begutachtung

Die Standardindikatoren für die medizinische Begutachtung zielen darauf ab, genauer zu beleuchten, inwieweit die geklagten Beschwerden medizinisch begründet sind. Die Vorgaben des Bundesgerichts erhöhen die Anforderungen an die Befunderhebung und Diagnosestellung und verlangen die ausführliche Beschreibung und Erklärung des Schweregrads einer Erkrankung. Aus Symptomen und Befunden, den Berichten der versicherten Personen oder Drittangaben sowie den Informationen aus den Akten lassen sich Funktionseinschränkungen und Ausmass der Behinderungen abschätzen und begründen. Das festgestellte Ausmass muss genau erklärt und hergeleitet werden. Am Beispiel der Depression bedeutet dies etwa, dass bei der Diagnosestellung vor allem der aktuelle Befund und die Angaben der versicherten Person für die Beurteilung des momentanen Schweregrads massgeblich sind. Um bewerten zu können, ob es sich um eine rezidivierende Erkrankung handelt, werden Akten und Angaben der versicherten Person ausgewertet. Für die Frage der künftigen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit werden neben der Einschätzung der aktuellen Situation und der statistisch-medizinischen Prognose aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse auch die Angaben aus dem Dossier, z.B. über mehrmaliges Scheitern von Eingliederungsmassnahmen bei steigender Belastung herangezogen. Auch das berufliche Fortkommen beziehungsweise die Entwicklung der erzielten Einkünfte im Laufe einer längeren Krankheitsgeschichte können wertvolle Informationsquellen zur Verlaufsbeurteilung und Einschätzung künftiger Entwicklungen bzw. Einschränkungen sein. Zur genauen Diagnose und Begründung des Schweregrads der Behinderung im Gutachten gehört auch eine kritische Würdigung der bisherigen therapeutischen Bemühungen. Hierbei wird geprüft, ob etablierte, evidenzbasierte und tatsächlich verfügbare Therapien in ausreichender Länge und mit aktiver Mitarbeit der versicherten Person durchgeführt wurden. Und dabei ist auch zu ergründen, ob eine allfällig suboptimale Mitarbeit der versicherten Person anzulasten oder beispielsweise durch eine psychische Störung, geringe Bildung oder mangelnde Intelligenz bedingt ist.

Mit dem neuen Beweisverfahren erfolgt auch ein differenzierter Blick auf die Ressourcen der versicherten Person. Für die Gutachterinnen und Gutachter bedeutet dies, dass sie die persönlichen Lebensumstände einschliesslich vorhandener Belastungen ins Verhältnis zu den persönlichen Ressourcen setzen müssen, die der betroffenen Person zur Verfügung stehen, um die vorhandenen (gesundheitlichen) Beschwerden auszuhalten oder gar zu überwinden. So können beispielsweise einerseits eine unterdurchschnittliche Begabung, eine akzentuierte Persönlichkeit, geringe Bildung und/oder schwierige Lebensumstände (z.B. Fremdsprachigkeit, starke Beanspruchung in der Familie oder das Fehlen familiärer Unterstützung) bewirken, dass eine versicherte Person es nicht schafft, erfolgreich eine Therapie durchzuführen. Andererseits kann ein sehr starkes, unterstützendes Umfeld einer versicherten Person helfen, sich ganz auf die Verbesserung ihres Gesundheitszustandes bzw. ihrer Leistungsfähigkeit zu konzentrieren.

Das neue Prüfraster stellt auch höhere Anforderungen an die Gutachterinnen und Gutachter bei der Prüfung von Konsistenz und Plausibilität. Hier gilt es, soweit wie möglich zu überprüfen, ob sich die geklagten Beschwerden auf alle Bereiche des Lebens gleichmässig auswirken und ob die geklagten Einschränkungen plausibel sind. Erledigt beispielsweise eine Person, die nach eigenen Angaben wegen schwerer Schmerzen und Depressionen nur noch auf dem Sofa liegen kann, gleichzeitig sämtliche administrativen Belange der Familie, liegt eine Inkonsistenz vor, die aufgelöst werden muss. Ist dies nicht möglich, gilt es, Unschärfen zu benennen und gegebenenfalls zu erklären, dass keine längerdauernde schwere krankheitsbedingte Einschränkung festgestellt werden kann. Auch wenn etwa schwerste Einschränkungen bei Belastbarkeit und Antrieb geltend gemacht werden, während im fraglichen Zeitraum beispielsweise ausgedehnte Ferienreisen getätigt wurden, müssen die Fragen der Plausibilität und Konsistenz ausführlich diskutiert und die Versicherten dazu explizit befragt werden. Die kritische Durchsicht der Aktenlage und das Aufzeigen und Klären von Widersprüchen in den Akten bzw. im Verhalten bei der Begutachtung gehören zu den Aufgaben des Gutachters.

Plausibilität und Konsistenz müssen auch in Bezug auf die Inanspruchnahme medizinisch-therapeutischer Leistungen durch die Versicherten geprüft werden. Hat beispielsweise jemand trotz geschilderter langjähriger schwerer depressiver Zustände noch nie Antidepressiva eingenommen, müssen die Umstände der medizinischen Betreuung und der erfolgten Empfehlungen bzw. Ablehnungen genau hinterfragt werden.

Hatten sich in der Vergangenheit Gutachter bei diesen Themen oft bedeckt gehalten, so sind deren gründliche und überzeugende Diskussion künftig ein unerlässliches Qualitätskriterium der gutachterlichen Beurteilung. Gutachterinnen und Gutachter, die es mit unscharfen Formulierungen vermeiden, diese nicht immer einfach zu bezeichnenden Sachverhalte medizinisch überprüfbar zu beschreiben, erweisen den Versicherten keinen Dienst. Fehlen nämlich nachvollziehbare, allenfalls in einer psychiatrischen Diagnose begründete Erklärungen für inkonsistentes Verhalten, wird der Rechtsanwender entscheiden, dass bei bestehenden Zweifeln die Einschränkungen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit medizinisch begründet sind.

Dr. med. Monika Hermelink

Ausblick Mit der Einführung des standardisierten Gutachtensauftrags erfolgt aus Sicht der IV ein wichtiger Schritt hin zur Verbesserung der Struktur- und Prozessqualität medizinischer Gutachten in der IV. Ihre Erstellung nach einheitlichen Kriterien und der gleichen Struktur erlaubt es der IV, standardisierte Rückmeldungen an die Gutachterinnen und Gutachter zu entwickeln, allfällige Rückfragen gezielter zu formulieren und konkreter auf allfällige Mängel im Gutachten hinzuweisen. Diese Form der konstruktiven Rückmeldung lässt sich von den Gutachterinnen und Gutachtern auch für die eigene Qualitätssicherung nutzen, was wiederum zur Ergebnisqualität des Begutachtungsprozesses allgemein beiträgt. Weitere Schritte in diese Richtung sind wie bereits beschrieben auch in der Weiterentwicklung der IV angedacht. Nach wie vor eine wesentliche Rolle in der Verbesserung der Gutachtensqualität haben die FMH und die medizinischen Fachgesellschaften in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Zusammenspiel beispielsweise mit der Swiss Insurance Medicine (SIM) oder Versicherungsmedizin am Unispital Basel (asim).

  • Literatur
  • Gächter, Thomas; Meier, Michael (2017): «Rechtsprechung des Bundesgerichts im Bereich der Invalidenversicherung», in SZS 3/2017, S. 292.
  • Henningsen, Peter (2017): Abklärung der Arbeitsunfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Gesundheitsstörungen, Referat gehalten am 18. Zentrumstag des Luzerner Zentrums für Sozialversicherungsrecht, 1.6.2017.
  • Jentzsch, Katrin; Lüthi, Andrea (2017): «Zusammenarbeit der IV-Stellen mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten», in Soziale Sicherheit CHSS Nr. 2/2017, S. 37–42: www.soziale-sicherheit-chss.ch > Ausgaben & Schwerpunkte.
  • Traub Andreas (2017): «BGE 141 V 281 – Auswirkungen des Urteils auf weitere Fragestellungen», in Kieser, Ueli (Hg.), Sozialversicherungsrechtstagung 2016, Zürich: Dike Verlag, S. 117–155.
  • Gächter, Thomas; Meier, Michael E. (2015): «Schmerzrechtsprechung 2.0», in: Jusletter 29. Juni 2015, Rz 85.
  • Kocher, Ralf (2015): „Ressourcenorientierte Abklärungen – Bundesgerichtsurteil als Chance für die IV“, in Soziale Sicherheit CHSS Nr. 5/2015, S. 279–281: www.soziale-sicherheit-chss.ch > Ausgaben & Schwerpunkte > Archiv.
  • 1. BBl 2017 2625.
  • 2. www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungsbereiche > Forschungsprogramme zur Invalidenversicherung (FoP-IV) > Laufende und abgeschlossene Forschungsprojekte FoP3-IV (Stand Juni 2017; PDF).
  • 3. Vgl. IV-Rundschreiben 339 vom 9. September 2015: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen, Kreisschreiben etc. > Vollzug Sozialversicherungen > IV > Grundlagen IV > Individuelle Leistungen > Rundschreiben.
  • 4. Dr. med. Monika Hermelink, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie; Dr. iur. Hans-Jakob Moosimann, Sozialversicherungsgericht Zürich; Petra Kern, Inclusion Handicap; Yvonne Bollag, asim, Dr. med. Gerhard Ebner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Vertreterinnen und Vertreter des BSV und der IV-Stellen.
Dr. med., MHA, Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie.
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Fürsprecher, Leiter Bereich Verfahren und Rente, Geschäftsfeld IV, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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