Lokale Governance der Altershilfe im Mehrebenensystem

Mit der gesellschaftlichen Alterung steigt der Bedarf nach Unterstützungsleistungen für ältere Menschen. Die Steuerung von Massnahmen der Altershilfe erfolgt in Governance-Netzwerken auf lokaler Ebene durch private und öffentliche Akteure. Doch auch Kantone, Bund und andere Akteure sind beteiligt.
Thomas Vollmer
  |  04. September 2020
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Der Anteil der älteren Personen im Pensionsalter an der Gesamtbevölkerung wird sich in den nächsten 30 Jahren massiv erhöhen. Neben der Langzeitpflege und der finanziellen Absicherung im Alter ist die Altershilfe deshalb ein wichtiges Handlungsfeld der Alterspolitik. Unter Altershilfe werden soziale Dienstleistungen wie Beratung, Kurse, begleitete Alltagsaktivitäten, Besuchs- und Fahrdienste verstanden, damit ältere Menschen möglichst selbstständig und selbstbestimmt zu Hause oder in Wohnformen ausserhalb des stationären Bereichs leben können (Stettler 2020).

Multi-Level-Governance in der Altershilfe Neue Governance-Formen lösen die herkömmlichen Regierungsformen zunehmend ab. Dabei arbeiten öffentliche und private Akteure gemeinsam an Problemlösungen. Zwischen den involvierten Akteuren bestehen Austauschbeziehungen (Wissen, Ressourcen, Autorität). Die Gestaltung und Steuerung von Politikfeldern durch öffentliche und private Akteure verschiedener staatlicher Ebenen wird in der Politikwissenschaft als Multi-Level-Governance oder Mehrebenen-Steuerung bezeichnet (Sager 2017).

Die Altershilfe ist ein solches Feld, das durch die föderale Aufgabenteilung staatlicher im Verbund mit privaten Akteuren geprägt ist (vgl. Grafik G1). Gemäss Art. 112c Bundesverfassung (BV) sind die Kantone und je nach kantonaler Verfassung die Gemeinden für die Altershilfe und die Pflege von älteren Menschen zu Hause verantwortlich. Der Bund kann in Ergänzung zu den Kantonen tätig werden. So richtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) gestützt auf Art. 101bis des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) Finanzhilfen an private, gemeinnützige und gesamtschweizerisch tätige Altersorganisationen aus. Diese übernehmen Koordinationsaufgaben und verfügen zur Leistungserbringung über kantonale, regionale oder lokale Unterstrukturen. Darüber hinaus nehmen weitere Akteure wie der Schweizerische Städteverband (Netzwerk altersfreundliche Städte), die Age-Stiftung oder die Gesundheitsförderung Schweiz mittels finanzieller Anreize, Vernetzungsaktivitäten oder der Bereitstellung fachlicher Grundlagen auf die Ausgestaltung der Alterspolitik Einfluss.

Steuerungsfähigkeit Der Bund ist also Teil der Mehr­ebenen-Steuerung in der Altershilfe. Aus seiner Sicht ist es deshalb auch von Interesse, wie die Governance der Altershilfe auf lokaler Ebene unter dem Einfluss der Impulse anderer Akteure funktioniert. Im Rahmen einer Masterarbeit bot sich dem Autor die Gelegenheit, dies zu erforschen. Um zu untersuchen, wie lokale Governance-Netzwerke die Altershilfe bedarfsgerecht steuern können, wurde auf bestehende Erklärungsmodelle zurückgegriffen. Zu den zentralen Erfolgsfaktoren zählen gesicherte Grundlagen, funktionsfähige und stabile Strukturen, eine zentrale Netzwerkadministration mit entsprechenden Ressourcen, das Vorhandensein von Schlüsselpersonen sowie Rückhalt bei den politischen Verantwortlichen. Eine einseitige Dominanz einzelner Akteure oder eine starke Abhängigkeit von starren Institutionen ist hingegen hinderlich (Raab et al. 2013).

Fallbeispiele Um die Ausprägung der verschiedenen Erfolgsfaktoren zu untersuchen, wurden Fallstudien in den beiden städtischen Gemeinden Illnau-Effretikon (ZH) und Köniz (BE) sowie im ländlichen Bauma (ZH) und im Kooperationsverbund Alterspolitik durchgeführt, zu dem sich die bernischen Landgemeinden Grossaffoltern, Rapperswil und Schüpfen zusammengeschlossen haben. Die Fallbeispiele wurden so ausgewählt, dass Stadt-Land-Vergleiche sowie Kantonsvergleiche möglich sind. So verfügen alle Gemeinden über ausgeprägte Steuerungskompetenzen im Bereich der Altershilfe, wohingegen sich die Steuerungseinflüsse der beiden Kantone unterscheiden. Der Kanton Bern nimmt eine aktive Steuerungsrolle gegenüber den Gemeinden ein; der Kanton Zürich delegiert hingegen alle Aufgaben an die Gemeinden, ohne selbst aktiv zu werden.

Zum Zeitpunkt der Untersuchung (Sommer 2019) lagen – ausser in Bauma, dessen Alterskonzept in Entwicklung war und das inzwischen fertiggestellt wurde – an drei der vier Untersuchungsstandorte fundierte Planungs- und Strategiegrundlagen vor. Bei der Ausarbeitung der Alterskonzepte haben alle Gemeinden Fachexpertise beigezogen, die Bedürfnisse der Bevölkerung abgefragt sowie auf eine breite Abstützung des Konzepts bei den verschiedenen Organisationen, verwaltungsinternen Stellen sowie den zuständigen politischen Gremien geachtet. Inhaltlich zeigen sie eine hohe Übereinstimmung: Auch wenn unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, stehen Fragen der selbstständigen und selbstbestimmten Lebensgestaltung im dritten und vierten Lebensalter (ab 65 bzw. ab 80 Jahren) im Fokus. Themen wie Wohnen, Mobilität, Unterstützung im Alltag, Information und Beratung sowie Aktivierung der gesellschaftlichen Unterstützungspotenziale dominieren.

Stadt-Land-Unterschiede zeigen sich vor allem bei den Strukturen und Ressourcen der Verwaltung: Die Städte verfügen im Unterschied zu den ländlichen Gemeinden über etablierte und formalisierte Netzwerkstrukturen sowie hauptamtliches Personal für den Altersbereich. Die Personalressourcen und Finanzmittel der ländlichen Gemeinden sind hingegen begrenzt, die Netzwerkstrukturen noch nicht gefestigt.

An allen Standorten werden die Angebote und Netzwerke der Altershilfe in einem hohen Mass von Freiwilligen, Seniorenorganisationen und Kirchen getragen und geprägt. Die vom Bund subventionierten Organisationen wie Pro Senectute ergänzen das Angebot. Sie sind in der Regel wichtige Partner, aber unterschiedlich stark in den lokalen Netzwerken involviert.

Der Problemdruck ist aus Sicht der verantwortlichen Akteure hoch: Sicherstellung von Pflege und Betreuung, Freiwilligenmanagement, Nachbarschaftshilfe, Erreichbarkeit von vulnerablen älteren Menschen, Bekanntmachung der Angebote sind häufig genannte Themen. An allen Standorten sind Entwicklungsvorhaben in Planung, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

In einer vergleichenden Gesamtschau (vgl. Tabelle T1) zeigt sich, dass die untersuchten lokalen Governance-Netzwerke im Kanton Zürich (Illnau-Effretikon und Bauma) die Altershilfe unterschiedlich gut zu steuern vermögen, während sich die Steuerungsfähigkeit beider Berner Gemeinden aufgrund der aktiveren kantonalen Steuerungsrolle in etwa gleich stark erweist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die lokalen Governance-Netzwerke dann am besten auf ein bedarfsgerechtes Unterstützungsangebot hinwirken können, wenn alle verfügbaren Kräfte zusammenarbeiten, ein stabiles Netzwerk besteht und die Gemeinde eine aktive Koordinationsrolle übernimmt. Dabei ist die Stelle des bzw. der Altersbeauftragten von zentraler Bedeutung, um eine Koordination der Netzwerkaktivitäten, die Umsetzung der Alterskonzepte und die Lancierung neuer Entwicklungsprojekte zu gewährleisten. Der mittels Bevölkerungsbefragungen abgestützte und in den strategischen Grundlagen dargelegte Problem- und Handlungsdruck dürfte sich förderlich auf die Bereitschaft der politischen Verantwortlichen auswirken, Ressourcen für die Altershilfe bereitzustellen.

Einflüsse der Mehrebenen-Steuerung Betrachtet man die Einflüsse der Mehrebenen-Steuerung auf die Steuerungsfähigkeit der lokalen Netzwerke, so kommt insbesondere den Kantonen eine zentrale Rolle zu. Sie haben die Legitimität, die Gemeinden mittels Leitlinien oder Vorgaben zu führen. So können aktive Kantone die Ausrichtung der Altershilfe auf lokaler Ebene auch bei hoher Gemeindeautonomie massgeblich beeinflussen. Gleichzeitig sind sie das Bindeglied zwischen den Gemeinden, den Steuerungsimpulsen des Bundes und den auf kantonaler Ebene tätigen privaten Organisationen. Das Beispiel des Kantons Bern verdeutlicht, wie unter Wahrung der Gemeindeautonomie mit eher «weichen» Steuerungsmassnahmen, d. h. fachlichen Vorgaben, finanziellen Anreizen, Vernetzung und der Bereitstellung von Grundlagen, Gemeinden unterstützt und befähigt werden können, selbst eine aktive Steuerungsrolle zu übernehmen. Damit gelingt es auch auf dem Land, eine moderne und zukunftsweisende Alterspolitik zu entwickeln.

Anhand der Zürcher Fallbeispiele wird deutlich, dass der Ausfall des Kantons als Steuerungsakteur die Gesamtverantwortung auf die Ebene der Gemeinden verlagert. Dabei ist eine Stadt eher in der Lage, die verschiedenen Koordinationsaufgaben wahrzunehmen und eine aktive Governance der Altershilfe aus eigener Kraft und unter Mitwirkung der privaten Akteure zu gewährleisten. Kleinere ländliche Gemeinden wie Bauma sind aufgrund begrenzter Ressourcen eher überfordert.

Der Steuerungseinfluss des Bundes ist begrenzt und fokussiert auf die von ihm subventionierten privaten Organisationen. Damit deren Ressourcen und Angebote tatsächlich aktiviert und genutzt werden, kommt dem Kanton sowie den einzelnen Gemeinden eine wichtige Rolle zu, indem sie die Angebote bekannt machen, zusätzliche Finanzhilfen an die Organisationen ausrichten und diese in ihre Governance-Strukturen einbinden.

Die Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass der Einfluss sogenannter Wissensgemeinschaften (Mavrot und Sager 2018), z. B. die regionalen Zusammenschlüsse der Altersbeauftragten oder die vonseiten der Age-Stiftung lancierten Programme und Unterstützungsnetzwerke, von Bedeutung ist. Sie dienen dem Erfahrungsaustausch, der gegenseitigen Unterstützung sowie der Diskussion fachlicher Konzepte und beeinflussen dadurch wiederum die inhaltliche Ausrichtung der lokalen Strategien.

Es kann also festgehalten werden, dass zwischen den verschiedenen Akteuren aller Ebenen Austauschbeziehungen bestehen. So sind die privaten Organisationen auf die Finanzhilfen und Koordinationstätigkeit der staatlichen Akteure angewiesen. Bund, Kantone und Gemeinden sind im Gegenzug auf die Beiträge der privaten Organisationen ange­wiesen, um ihre politischen Ziele, die Förderung der Autonomie und Selbstständigkeit von älteren Menschen, zu erreichen.

Schlussfolgerungen Ausgehend von der vertieften Kenntnis der Steuerungsmechanismen lokaler Governance-Netzwerke in der Altershilfe kann der Bund für seine eigenen Steuerungsaktivitäten folgende Schlussfolgerungen ziehen:

Für die vom Bund subventionierten Altersorganisationen ist die Verankerung in den lokalen Netzwerken, der Austausch und die Kooperation mit den lokalen Akteuren von Bedeutung. Bei der Gestaltung der Leistungsverträge ist darauf zu achten, dass die Organisationen einen gewissen Spielraum haben, um sich an die lokalen und kantonalen Realitäten adaptieren zu können.

Weiter deuten die Erkenntnisse darauf hin, dass es in verschiedenen Themenbereichen, z. B. im Freiwilligenmanagement oder in der Nachbarschaftshilfe, Lösungsansätze, Grundlagen und mehr Anschauungsbeispiele dafür braucht, wie sich vulnerable ältere Menschen erreichen lassen. Der Bund hat gemäss den gesetzlichen Grundlagen die Möglichkeit, Finanzhilfen für die Weiterentwicklung der Altershilfe auszurichten. Hier besteht somit ein Potenzial, das noch stärker genutzt werden könnte.

Schliesslich zeigt die Untersuchung, dass direkte Einblicke vor Ort ein besseres Verständnis über das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure und ihrer Steuerungsaktivitäten sowie die aktuellen Herausforderungen ermöglichen. Dies gilt insbesondere für den Bund, der strukturell bedingt eine Praxisferne aufweist und deshalb nur begrenzt die jeweils aktuelle Situation in den Gemeinden und Kantonen und die sich wandelnden Bedürfnisse der Bevölkerung einschätzen kann. Es wäre deshalb von Vorteil, sich regelmässig einen Überblick zu verschaffen und den Austausch mit den Kantonen zu pflegen.

  • Literatur
  • Stettler, Peter; Egger, Theres; Liechti, Lena; Heusser, Caroline (2020): Ausgestaltung der Altershilfe in den Kantonen; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 3/20: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
  • Vollmer, Thomas (2019): Lokale Governance der Altershilfe durch öffentliche und private Akteure im Kontext der Mehrebenen-Steuerung. Untersuchung anhand von Fallstudien in vier Deutschschweizer Gemeinden. Masterarbeit eingereicht der Universität Bern im Rahmen des Executive Master of Public Administration: www.kpm.unibe.ch > Weiterbildung > Übersicht bisherige Projekt- und Masterarbeiten MPA > 8. Lehrgang.
  • Mavrot, Céline; Sager, Fritz (2018): «Vertical epistemic communities in multilevel governance», in Policy & Politics 46, Nr. 3, S. 391–407.
  • Sager, Fritz; Ingold, Karin; Balthasar, Andreas (2017): Policy-Analyse in der Schweiz. Besonderheiten, Theorien, Beispiele, Zürich: NZZ Libro.
  • Raab, Joerg; Mannak, Remco S.; Cambre, Bart (2015): «Combining Structure, Governance, and Context: A Configurational Approach to Network Effectiveness», in Journal of Public Administration Research and Theory 25, Nr. 2, S. 479–511.
Dipl. Sozialpädagoge (FH), MA Comparative 
European Social Studies (londonmet), 
Executive MPA (unibe), Leiter Bereich Alter, 
Gesellschaft, Generationen, BSV.
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