Jung, psychisch krank und ­invalidisiert

Die Zahl der jungen psychisch kranken IV-Rentnerinnen und -Rentner hat in den letzten 20 Jahren stetig zugenommen. Die nachfolgend vorgestellte Untersuchung weist auf Mängel im Bildungs-, Behandlungs- und IV-System hin und wirft die Frage auf, ob eine relevante Minderheit von jungen Menschen nicht zu früh berentet wurde.
Niklas Baer, Sibylle Juvalta, Szilvia Altwicker-Hámori, Ulrich Frick, Peter Rüesch
  |  04. März 2016
    Forschung und Statistik
  • Behinderung
  • Eingliederung
  • Gesellschaft
  • Invalidenversicherung

Obwohl es der Invalidenversicherung in den letzten rund zehn Jahren gelungen ist, die Anzahl der Neuberentungen deutlich zu senken, spiegelt sich diese Entwicklung nicht bei den jungen Versicherten wider. Im Gegenteil, bei den 20- bis 24-Jährigen haben die Invalidisierungen aus psychischen Gründen über die letzten zwei Jahrzehnte jedes Jahr um durchschnittlich zwei Prozent zugenommen. Die Invalidisierungen bei den 18- bis 19-Jährigen stiegen jährlich sogar um 6 Prozent.

Diese negative Entwicklung ist auch in anderen Ländern zu beobachten, die Gründe dafür sind aber nicht geklärt. Für die Schweiz konnte gezeigt werden, dass die Arbeitsmarktchancen von schlecht qualifizierten Jungen abgenommen haben: Während gering qualifizierte Junge noch Mitte der 90er-Jahre eine tiefere Arbeitslosenquote hatten als höher qualifizierte, ist ihre Arbeitslosenrate heute zweimal so hoch wie diejenige der Höherqualifizierten (BSV/OECD 2014).

Sehr junge IV-Neurentenbeziehende sind insgesamt eine Minderheit (jährlich bis 3000 psychiatrische Neurentnerinnen und -rentner unter 30 Jahren – bei insgesamt rund 16 000 Neuberentungen im 2014 ist dies ein Anteil von knapp 20 Prozent). Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich zum einen meist um ganze Renten handelt, die oft bis zum AHV-Alter bezogen werden und damit erhebliche Kosten verursachen. Zum anderen kann eine frühe Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt – und damit letztlich auch aus der Gesellschaft – zu einer chronifizierten psychischen und sozialen Destabilisierung der Betroffenen führen, die Gesundheitskosten steigern und auch das private Umfeld erheblich belasten.

Zielsetzung und Methodik der Untersuchung  Da genauere Kenntnisse über die Umstände dieser frühen Berentungen bisher fehlten, gab das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die hier besprochene Studie in Auftrag. Ihre Aufgabe war es, die IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Problemen (18- bis 29-Jährige) in Bezug auf deren Krankheits-, Ausbildungs- und Ausgliederungsverläufe zu analysieren. Darüber hinaus waren die involvierten Unterstützungssysteme aufzuzeigen und Risikofaktoren für die frühe Invalidisierung zu identifizieren.

Für die Studie wurde eine detaillierte Analyse der Versichertendossiers von 400 Personen vorgenommen, die aufgrund psychischer Probleme zwischen 2010 und 2013 neu eine IV-Rente erhielten. Diese Informationen wurden daraufhin mit IV-Registerdaten verknüpft. Weiter wurden 100 Dossiers einer Vergleichsgruppe von Versicherten analysiert, die zwischen 2010 und 2011 zwar Leistungen der Invalidenversicherung erhielten, aber bis zwei Jahre danach keine IV-Rente bezogen. Mit diesem Vergleich wurden Risikofaktoren für eine IV-Berentung ermittelt. In die Untersuchung wurden alle relevanten psychischen Krankheiten und psychiatrischen Geburtsgebrechen einbezogen.

Das Analyseraster der Versichertendossiers wurde in Zusammenarbeit mit Fachpersonen aus Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie, Heilpädagogik, IV-Berufsberatung, Case-Management-Berufsbildung, Schulpsychologie und Schulwesen entwickelt. Bei der Datenauswertung kamen neben deskriptiven Auswertungen eine Reihe anspruchsvollerer Verfahren zum Einsatz: Sequenz­datenanalysen für die Bildungs- und Ausgliederungsverläufe, latente Klassenanalysen für die Typenbildungen, logistische Regressionen sowie Klassifikations- und Regressionsbäume für die Analyse der Risikofaktoren und deren Wechselwirkungen. Schliesslich wurden die Untersuchungsresultate wiederum mit der Expertengruppe und Mitarbeitenden des BSV kritisch auf ihre Interpretation hin diskutiert. Dieser iterative Erkenntnisprozess war wichtig, um zu fundierten Schlussfolgerungen zu kommen.

Ergebnisse  Die Ergebnisse der Untersuchung werden im Folgenden unter vier Aspekten zusammengefasst: den Merkmalen von jungen IV-Rentenbeziehenden aus psychischen Gründen, den typischen Bildungsverläufen und Massnahmekarrieren, den Hinweisen auf Mängel im Bildungs-, Gesundheits- und IV-System sowie den Risikofaktoren für eine frühe IV-Berentung.

Wer sind die jungen IV-Rentner?  Grundsätzlich handelt es sich bei den Jungrentenbeziehenden um eine heterogene Population, die sich aber doch in zwei unterschiedliche Gruppen einteilen lässt, wofür die Art und der Zeitpunkt der Erkrankung eine zentrale Rolle spielen: Zum einen finden sich Personen mit Minderintelligenz und sehr frühen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, zum anderen Personen mit einer häufig erst ab dem frühen Erwachsenenalter diagnostizierten schizophrenen, affektiven, neurotischen oder Persönlichkeitsstörung. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich nahezu aller Fragestel­lungen.

40 Prozent der jungen IV-Rentner sind familiär belastet.

Insgesamt handelt es sich bei den Jungrentnerinnen und Jungrentnern häufig um Personen mit sehr frühen Beeinträchtigungen: Bei rund 45 Prozent setzte schon im Kleinkind- oder Vorschulalter erstmals eine psychische Problematik ein. Ein weiteres Sechstel wurde während der Primarschule auffällig und ein Drittel im Jugend- oder Erwachsenenalter. Die Hälfte dieser Berentungen – zu 84 Prozent handelt es sich um ganze IV-Renten – fand denn auch schon vor dem 23. Altersjahr statt. Nur 14 Prozent verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ), und ein erheblicher Teil hat nie die Regelschule besucht oder war nie im ersten Arbeitsmarkt tätig. Hinsichtlich Geschlecht und Nationalität unterscheiden sich die Jungrentnerinnen und Jungrentner kaum vom Rest der Gesamtbevölkerung.

Rund 40 Prozent der jungen IV-Rentner bringen erhebliche Belastungen aus der familiären Biografie mit: Ein Drittel ist mit einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen, bei einem Viertel sind relevante Konflikte, Vernachlässigung und Gewalt innerhalb der Familie im Versichertendossier dokumentiert, und ein Sechstel stammt aus Familien, bei denen die Eltern selbst schon sozialhilfeabhängig oder invalidisiert waren. Die Ermittlung einer Belastungstypologie ergab vier unterschiedliche Profile von Versicherten:

  • ohne familiäre Belastungen (45 %);
  • aus Einelternfamilien ohne weitere Belastungen (15 %);
  • mit multiplen Belastungen, in Einelternfamilien aufgewachsen (22 %);
  • mit multiplen Belastungen, mit beiden Eltern aufgewachsen (18 %).

Weiter ergab die Typologisierung eines Grossteils der Diagnosen, welche die Jungrentnerinnen und Jungrentner im IV-Abklärungsverfahren erhalten haben, sechs unterschiedliche Diagnosekonstellationen:

  • Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung (24 %);
  • Frühe Verhaltensstörungen (19 %);
  • Multiple schwere frühe Störungen mit Verhaltens- und Entwicklungsstörungen und Intelligenzminderung (11 %);
  • Schizophrenien, häufig mit Cannabiskonsum (23 %);
  • Persönlichkeitsstörungen mit gleichzeitigen affektiven und neurotischen Störungen (15 %);
  • Persönlichkeitsstörungen mit gleichzeitigen Sucht- und anderen Problemen (9 %).

Zwischen den Diagnose- und den Belastungstypen zeigen sich charakteristische Zusammenhänge: Versicherte mit Entwicklungsstörungen und Intelligenzminderung oder mit frühen Verhaltensstörungen sowie mit Schizophrenien weisen wenige biografische Belastungen auf, wohingegen besonders die beiden Typen mit Persönlichkeitsstörung, aber auch mit multiplen schweren frühen Störungen in der Mehrheit hoch belastet waren.

Typische Bildungs- und Massnahmen­kar­rieren  Die meisten Rentenbeziehenden durchlaufen eine lange und intensive Institutionenkarriere: So waren bei etwas mehr als der Hälfte mindestens sieben unterschiedliche Institutionen in die Betreuung respektive Abklärung involviert. Rund die Hälfte (49 %) der Rentenbeziehenden war vor dem Rentenbezug schon in stationärer psychiatrischer Behandlung (die Hälfte davon weist drei oder mehr Hospitalisationen auf), vier Fünftel (83 %) waren in ambulanter psychi­atrischer Behandlung, und rund zwei Drittel (69 %) wurden mit Psychopharmaka behandelt.

Besonders häufig waren folgende Institutionen und Fachpersonen in die Betreuung der Versicherten involviert: Regionale Ärztliche Dienste (in 92 % aller Fälle), frei praktizierende Psychiater (69 %), Lehrbetriebe (59 %), psychiatrische Dienste (48 %), Pädiater (41 %), pädagogisch-therapeutische Dienste (41 %), geschützte Werkstätten (41 %) und Vorgesetzte oder Ausbildner (39 %). Auch hier zeigen sich diagnose­typische Bildungs- und Behandlungskarrieren:

  • Versicherte mit Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörung werden fast ausschliesslich psychiatrisch behandelt – bei den Schizophrenen fast immer erwachsenenpsychiatrisch, bei den Persönlichkeitsstörungen häufig auch schon im Jugendalter. Neben psychiatrischen Praxen und Diensten sind bei ihnen oft auch Arbeitgeber (häufig Lehrbetriebe) massgeblich involviert. Sie kommen vergleichsweise spät mit der IV in Berührung und weisen meistens eine Regelschullaufbahn sowie eine gewisse Arbeitserfahrung auf. Sowohl Schul- wie Arbeitsbiografie weisen oft Abbrüche auf.
  • Versicherte mit Entwicklungsstörung oder Intelligenzminderung haben umgekehrt fast ausschliesslich eine Sonderklassen- oder Sonderschulkarriere durchlaufen, wobei verschiedene Einrichtungen involviert sind, darunter besonders Heime. Beruflich sind diese Versicherten häufig in geschützten Werkstätten beschäftigt.
  • Personen mit frühen Verhaltensstörungen und multiplen schweren frühen Störungen werden sowohl psychiatrisch behandelt wie auch sonderschulisch betreut. Sie zeigen die intensivste Inanspruchnahme von Hilfen und haben von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter eine Vielzahl von pädiatrischen, sonderpädagogischen, psychiatrischen und schulischen Massnahmen durchlaufen.

Hinweise auf Mängel im IV-System  Massnahmen der Invalidenversicherung wurden insgesamt häufig verfügt: drei von vier Rentenbeziehenden erhielten beispielsweise eine sogenannte berufliche Massnahme (Ausbildung, Umschulung usw.). Allerdings unterscheidet sich die Massnahmenart und -häufigkeit deutlich nach Art der Erkrankung der Versicherten. Bei den frühen Erkrankungen – d. h. bei den frühen sozial-emotionalen Störungen, hirnorganischen Störungen und bei Intelligenzminderung – dominieren die aufwendigen beruflichen Massnahmen; bei 80 bis 100 Prozent dieser Versicherten werden solche zugesprochen. Bei den später auftretenden psychiatrischen Erkrankungen – d. h. bei Schizophrenien, Depressionen, neurotischen und Persönlichkeitsstörungen – werden weniger berufliche Massnahmen (60 bis 70 %) verfügt. Diese erhalten dafür häufiger, aber immer noch relativ selten Integrations­massnahmen und Frühinterventionsmassnahmen zugesprochen. Sehr früh Erkrankte erhalten durchschnittlich zwischen 9 und 14 IV-Massnahmen, während später Erkrankten durchschnittlich vier bis sieben Massnahmen zugesprochen werden. Insbesondere bei den Rentenbeziehenden mit Schizophrenie oder affektiven Störungen werden besonders wenige Massnahmen gesprochen.

Keine Unterversorgung in der Psychiatrie.

Die Investitionen in Eingliederungsmassnahmen sind hinsichtlich Anzahl und Kosten der beruflichen Eingliederungsmassnahmen umgekehrt proportional zu den Eingliederungschancen, die diese Versicherten aufweisen: Bei den später Erkrankten, die über eine viel bessere Schulbildung verfügen als die sehr früh Erkrankten, sind die Massnahmeninvestitionen besonders gering. Auf der anderen Seite wird über lange Zeit sehr viel in die berufliche Abklärung und Integration von Versicherten in den geschützten Arbeitsmarkt investiert. So sinnvoll dies ist, so unklar bleibt, warum deutlich weniger in potenziell erwerbsfähige Versicherte investiert wird.

Hinweise auf Mängel im psychiatrischen Versorgungssystem  Abgesehen von den Rentenbeziehenden mit Entwicklungs- oder Intelligenzstörungen sind bei allen Rentnern und Rentnerinnen psychiatrische Behandlungen dokumentiert. Man kann hier demnach nicht von einer Unterversorgung ausgehen – aber womöglich von Versorgungsmängeln: Die initiale psychiatrische Behandlung fällt beispielsweise gerade bei schizophrenen und neurotischen Patienten oft sehr kurz aus. Dies mag mit der mangelnden Krankheitseinsicht der Betroffenen oder mit fehlendem Bewusstsein der Behandelnden für die Relevanz der Problematik zusammenhängen. Jedenfalls wird hier häufig die Gelegenheit zu einer dezidierten und nachhaltigen Frühintervention und -behandlung verpasst.

Die medizinische Prognose der begutachtenden oder behandelnden Ärzte (bei den IV-Arztberichten) ist zudem bei bestimmten Krankheiten auffallend pessimistisch – zum Beispiel bei Schizophrenien, bei denen die Prognose des Gesundheitszustandes trotz guter Bildung schlechter ausfällt als bei fast allen anderen Versicherten, inklusive solcher mit einer Minderintelligenz oder einer Persönlichkeitsstörung. Solche Einschätzungen sind fachlich nur schwer nachvollziehbar und weisen womöglich auf Missverständnisse hin, was die Invalidenversicherung mit der Frage nach der «Prognose» überhaupt meint.

Weiter werden in den IV-Arztberichten, die zu Beginn des IV-Verfahrens anfallen, kaum Informationen dazu gegeben, welche konkreten Anpassungen die jungen Versicherten in der Schule, bei der Ausbildung oder am Arbeitsplatz benötigen würden und wie mit der versicherten Person umgegangen werden sollte. Zudem wird von der Invalidenversicherung nur bei einem Drittel der jungen Versicherten vor der Berentung überhaupt ein ärztliches Gutachten in Auftrag gegeben. Dies scheint angesichts der weitreichenden Konsequenzen eines IV-Rentenentscheides als eher wenig.

Schliesslich sind bei einem Drittel der Jungrentnerinnen und -rentner Probleme in der Kooperation zwischen der IV-Stelle und der Ärzteschaft dokumentiert. Dies betrifft in der Hälfte (55 %) der Problemfälle die Psychiater und in einem Viertel (25 %) der Fälle die Hausärzte. Besonders häufig sind Probleme aktenkundig bei Versicherten mit affektiven und Persönlichkeitsstörungen. In Anbetracht der Bedeutung einer guten Zusammenarbeit – gerade bei Personen mit einer Persönlichkeitsstörung – deutet sich hier ein wesentliches Problem an: Solche Personen lassen sich erfahrungsgemäss ohne eine gute Zusammenarbeit der involvierten Akteure kaum eingliedern.

Hinweise auf Mängel im Bildungssystem  Es gibt mehrere Hinweise, dass bei psychischen Störungen von Schülerinnen und Schülern sowie Auszubildenden zu spät interveniert wird. Auffallend ist zum einen, dass viele Kinder mit einem sehr frühen Beginn einer psychischen Störung (Geburtsgebrechen usw.) erst im Kindergarten oder in der Schule erstmals einer Behandlung zugeführt wurden. Zum anderen zeigt sich bei den schizophrenen Jungrentnern, dass diese in drei von vier Fällen erst dann erstmals in eine Behandlung gelangen, nachdem sie die Schule oder Berufsausbildung bereits abgebrochen haben, was im Durchschnitt mit 17 Jahren geschieht. Ähnliches gilt auch für Junge mit einer Persönlichkeitsstörung.

Das Mindestrentenalter muss bei unklaren Fällen deutlich erhöht werden.

Aufschlussreich ist zudem, dass die jungen Schizophrenen meist aus «eigenem Willen» die Ausbildung abbrechen, während die Abbrüche bei den Entwicklungsstörungen und Intelligenzminderungen meist auf Initiative der Berufsausbildner erfolgen. Demnach waren viele Bildungsabbrüche bei Schizophrenen möglicherweise gar nicht zwingend. Sie erfolgten vielmehr oft aus subjektiven Gründen, waren krankheits- oder krisenbedingt oder ereigneten sich aufgrund von Ängsten oder Phantasien der Versicherten. Offensichtlich konnten weder das Bildungs- noch das Behandlungssystem diese von aussen betrachtet nicht zwingenden Bildungsabbrüche verhindern.

Risikofaktoren für eine frühe Berentung  Als Risikofaktor für eine Berentung erweist sich insbesondere die Art der psychischen Störung der Versicherten als relevant: So resultieren Psychosen (IV-Codes 641-644) im Vergleich zur Referenzgruppe der Persönlichkeits- und reaktiven Störungen (IV-Code 646) in einem vierfach erhöhten Risiko und Schizophrenien (IV-Code 641) gar in einem zehnfach erhöhten Berentungsrisiko. Ein vierfach erhöhtes Risiko für eine Berentung gilt für Versicherte mit geringer oder besonderer Schu­lung. Ein zwölffach erhöhtes Berentungsrisiko haben schliesslich Versicherte, die keine berufliche Eingliederungsmassnahme der IV erhalten haben. Denkbar ist zwar, dass diese Personen nie eine IV-Massnahme erhielten, weil sie als zu stark beeinträchtigt galten. Für die Alternativerklärung – das Fehlen der IV-Massnahmen hat an sich das Berentungsrisiko erhöht – spricht allerdings der Befund, dass es v. a. Versicherte mit Schizophrenien, Depressionen, neurotischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen sind, die seltener als alle anderen (und teils eher stärker beeinträchtigten) Versicherten eine berufliche Massnahme erhalten haben.

Der Vergleich von jungen IV-Rentnerinnen und -Rentnern mit IV-Versicherten ohne Rentenbezug wird etwas relativiert dadurch, dass letztere vor allem jünger, familiär stärker belastet und aktuell selten (teil)erwerbstätig sind (nur 15 % der Nichtrentnerinnen und -rentner sind erwerbstätig). Zudem weisen sie viel häufiger ein sogenanntes POS respektive die Diagnose einer frühen emotionalen oder Verhaltensstörung auf. Die Dossiers zeigen aber, dass frühe POS-/ADHS-Diagnosen im Erwachsenenalter häufig in Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen münden – und diese sind der häufigste Grund für eine psychiatrische Invalidisierung. Deshalb handelt es sich bei der Stichprobe der Nichtrentnerinnen und -rentner wahrscheinlich zum Teil um Noch-nicht-Rentnerinnen und -Rentner.

Fazit  Bei der Mehrheit der jungen IV-Rentnerinnen und -Rentner ist die frühe Invalidisierung aufgrund der sehr frühen, anhaltenden und schweren Behinderungen nachvollziehbar und eine gewöhnliche Erwerbstätigkeit der betroffenen jungen Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt oft kaum vorstellbar. Bei einem Viertel bis einem Drittel von ihnen muss man sich allerdings fragen, ob die Invalidisierung wirklich unvermeidbar war. Die Gründe für diese womöglich vorschnellen Berentungen liegen in:

  • der mangelnden Früherkennung und -intervention im Bildungssystem;
  • der ungenügenden ärztlichen Information, Kooperation und Behandlung;
  • der mangelnden Krankheitseinsicht junger psychisch Kranker;
  • der immer noch lückenhaften Eingliederungsperspektive und den inadäquaten Prozess-Automatismen der Invalidenversicherung (z. B. quasi-automatische Rentenprüfung, wenn Massnahmen scheitern).

Diese Umstände sollten per se nicht zu einer solch frühen und meist permanenten Invalidisierung führen.

Empfehlungen  Aus der Analyse der IV-Akten von jungen IV-Rentnerinnen und -Rentnern lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:

  • Der IV-Mechanismus, der nach abgebrochenen Massnahmen nahezu regelhaft eine Rentenprüfung veranlasst, sollte revidiert werden. Insgesamt sollte viel mehr Zeit aufgewendet und das Mindestrentenalter bei unklaren Fällen deutlich erhöht werden zugunsten rehabilitativer Massnahmen.
  • Bei sehr jungen Versicherten sollte der Fokus der IV prioritär auf den Abschluss einer qualifizierten Berufslehre (inklusive Wiederholungen nach Abbrüchen) gelegt werden.
  • Die IV sollte die finanziellen Anreize für eine IV-Rente in sehr jungem Alter überprüfen: Mit IV-Rente und Ergänzungsleistungen kann im Maximum ein Einkommen erzielt werden, dass für diese Jungen mit ihrer gesundheitlichen und bildungsmässigen Ausganglage im Arbeitsmarkt kaum erreicht werden kann.
  • Die finanziellen Anreize sollten auch bei der ärztlichen Berichterstattung überprüft werden: Diese sollten neu zugunsten fachlich substanzieller, ausführlicher und eingliederungsrelevanter IV-Arztberichte zu Beginn des IV-Verfahrens stark verbessert werden – beispielsweise auf Kosten der teuren Renten-Gutachten.
  • Bei IV-Verfahrensbeginn sollte ein systematisches interdisziplinäres Assessment und ein gemeinsames, länger­andauerndes Eingliederungsmanagement sichergestellt sein – inklusive behandelnder Ärzte und weiterer relevanter Auskunftspersonen.
  • Die psychiatrische Versorgung sollte bei initialen Behandlungen sehr junger Patienten nachhaltiger und bestimmter intervenieren und verpflichtet werden, Arbeitsspezialisten und IV-Stelle beizuziehen.
  • Die Früherkennung und -intervention bei psychischen Auffälligkeiten in Schule und Berufsausbildung sollte durch entsprechende Schulung der Lehrpersonen und Berufsbildner verbessert werden. Schliesslich sollten die IV-Stellen ihre Kontakte zu (Berufs-)Schulen systematisieren und vermehrt Frühinterventionen im Bildungssystem durchführen.
  • Literatur
  • Baer, Niklas; Juvalta, Sibylle; Altwicker-Hàmori, Szilvia; Frick, Ulrich; Rüesch, Peter (2015): Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 16/15.: www.bsv.admin.ch > Praxis > Forschung > Forschungspublikationen.
  • BSV; OECD (2014): Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 12/13.
Dr. phil., Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation, Psychiatrie Baselland.
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MSc Public Health, wissenschaftliche ­Mitarbeiterin, Dep. Gesundheit, ZHAW.
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Dr. rer. pol., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dep. Gesundheit, ZHAW.
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Prof. Dr. rer. biol. hum., HSD University of Applied Sciences, Köln.
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Dr. phil., Leiter Forschungsstelle Gesundheitswissen­schaften, Dep. Gesundheit, ZHAW.
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