Gestaltung kommunaler Alterspolitik – Situation und Entwicklungspfade

Die Umsetzung der Alterspolitik erfolgt in den Gemeinden. Entsprechend gross ist ihre ­Vielfalt. Ausgehend von einer Analyse der guten Praxis lassen sich verschiedene ­Handlungsperspektiven identifizieren und Entwicklungspfade skizzieren, entlang derer die ­Alterspolitik weiterentwickelt werden kann.
Jürgen Stremlow
  |  14. März 2019
  • Alter
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Die Zahlen sprechen für sich: In den 2222 Gemeinden der Schweiz lebten Anfang 2018 rund 1,5 Mio. Menschen, die 65-jährig und älter waren. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 18,3 Prozent. Rund 434 000 Personen waren 80 Jahre alt und älter. Bis ins Jahr 2045 rechnet das Bundesamt für Statistik (BFS) mit einem Anstieg der über 65-Jährigen auf 2,69 Mio. Personen. Dies käme beinahe einer Verdoppelung gleich.

Neben ihrer Zahl verändern sich auch die Bedürfnisse der älteren Menschen: Zum einen nimmt der Wunsch der jüngeren, agilen Seniorinnen und Senioren an gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Mitsprache zu; zum anderen stellt sich mit zunehmendem Alter die Frage der Betreuung und Pflege sowie deren Finanzierung (Knöpfel et al. 2018, Schubert 2018, dazu auch Jonathan Bennett, «Teilhabe bis ins hohe Alter», S. 8–11). Aus alters- und kommunalpolitischer Sicht stellt sich damit die Frage, wie sich die Gemeinden gegenwärtig diesen Herausforderungen stellen und welche Möglichkeiten sie haben, ihre Altersarbeit weiterzuentwickeln.

Ein Blick auf die aktuelle Alterspolitik Im Rahmen einer explorativen Studie untersuchte ein Team der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit die Alterspolitik in ausgewählten Schweizer Gemeinden (Stremlow et al. 2018). Das Forschungsinteresse galt der Ausrichtung der Alterspolitik, den bestehenden Beteiligungsformen für die ältere Bevölkerung, den Innovationsbedingungen und der Orientierung am Sozialraum, das heisst der quartier- oder stadtteilbezogenen Umsetzung der Alterspolitik. Die Studie war Teil des Projektes «Integrierte Sozialplanung als Innovation für die Versorgung im Alter» der Technischen Hochschule Köln (Schubert 2018). Der Fokus des deutschen Projektes lag auf der Erarbeitung von Grundlagen für eine innovative Planung und Gestaltung kommunaler Alterspolitik. Die Schweizer Teilstudie untersuchte die konkrete Ausgestaltung der Alterspolitik in insgesamt fünfzehn Gemeinden bzw. Städten ab einer Grösse von 15 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Aus der Befragung der politischen Verantwortlichen und/oder der Fachpersonen mit leitfadengestützten Interviews und der Analyse von strategischen Grundlagen wie Altersleitbildern, Alterskonzepten, Bedarfsanalysen oder Angebotsplanungen liessen sich zum Zeitpunkt der Erhebung (2015) fünf verschiedene Gestaltungsmuster kommunaler Alterspolitik unterscheiden:

  • Fokus auf Kernaufgaben: Die Alterspolitik in diesen Gemeinden ist primär auf die institutionalisierte Pflege und Betreuung der älteren Bevölkerung ausgerichtet. Zudem lassen sich Ansätze für Angebote im Bereich des Wohnens mit Servicedienstleistungen finden.
  • Interkommunale Kooperation: Diese Gemeinden gehen eine Kooperation ein, um die Kernaufgaben in der institu­tionalisierten Pflege und Betreuung gemeinsam zu steuern und umzusetzen. Die weitere Ausgestaltung der Alterspolitik unter den beteiligten Gemeinden kann hingegen variieren.
  • Integrierte Versorgung: Die Angebote in diesen Gemeinden gehen über die Kernaufgaben hinaus: Informations­stellen, ambulante Beratung und Unterstützung für selbstständiges Wohnen gehören dazu. Seniorinnen und Senioren beteiligen sich situativ und informell an der Mitgestaltung der Alterspolitik ihrer Gemeinde.
  • Übergänge zu einer umfassenden Alterspolitik: Diese Städte fördern die gesellschaftliche und kulturelle Teil­habe älterer Menschen gezielt und gewährleisten ihren systematischen Einbezug. Neue innovative Modelle werden in der Verwaltung und den Behörden diskutiert oder stehen vor der Einführung. Eine umfassende Ausrichtung ist noch nicht vollumfänglich etabliert.
  • Umfassende Alterspolitik: Die Beteiligung der älteren Menschen am öffentlichen Leben und an der Mitgestaltung der Alterspolitik wird systematisch gefördert. Die vielfältigen Dienstleistungen und die breite Angebots­palette sind auf das Quartier oder den Stadtteil ausgerichtet und einfach zugänglich. Sie orientieren sich an der Lebenswelt der Betroffenen. Es besteht eine Vielzahl an Netzwerken, aktiven Gruppen und organisierten Vereinen, die sich mit dem Thema Alter befassen. In der kommunalen Verwaltung existieren fachbereichsübergreifende Gremien, die Alterspolitik als eine Querschnittsaufgabe verstehen. Es besteht ein hohes Interesse an innovativen Konzepten und an der stetigen Weiterentwicklung der ­Alterspolitik.

Handlungsperspektiven und Entwicklungspfade Aus der guten Praxis der Städte mit einer umfassenden Alterspolitik lassen sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit mögliche Handlungsperspektiven einer zu­kunftsgerichteten Alterspolitik identifizieren und verschiedene Entwicklungspfade skizzieren, die eingeschlagen werden könnten. Bei den Handlungsperspektiven handelt es sich um die Ausrichtung der Alterspolitik, den Einbezug der älteren Bevölkerung, die Verstärkung von Kooperationen, die Orientierung am Sozialraum und die stetige Weiterentwicklung. Beispiele vergleichbarer Entwicklungspfade finden sich auch im «Siebten Altenbericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland».

Ausrichtung der Alterspolitik Die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den sogenannten age-friendly cities können als Grundlage für die Ausrichtung der Alterspolitik dienen. Gemäss diesen Richtlinien zeichnen sich altersfreundliche Städte durch eine Berücksichtigung von acht Handlungsfeldern aus (WHO 2007). Sie umfassenden öffentlichen Raum und Gebäude, den Verkehr, das Wohnangebot, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, den sozialen Einbezug, die Erwerbsarbeit, die Freiwilligenarbeit und das Ehrenamt, die Kommunikation und Information, die Gesundheitsdienste sowie die Unterstützung durch die Gemeinde, namentlich durch politische Behörden und die Verwaltung. Die schweizerische Gesellschaft für Gerontologie hat den Katalog der Weltgesundheitsorganisation auf die Verhältnisse in der Schweiz übertragen und ein Befragungsinstrument für Fachgremien oder die ältere Bevölkerung entwickelt, das eine Situationsanalyse erlaubt (Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie 2012).

EINBEZUG DER äLTEREN BEVöLKERUNG

  • Einbezug in die Mitgestaltung der Alterspolitik: Verschiedene Städte und Gemeinden, darunter die Stadt Luzern, fördern seit jüngerer Zeit den gezielten Einbezug der älteren Bevölkerung. Die Luzerner Verantwortlichen haben im Rahmen eines mehrjährigen, professionell geleiteten Projektes ein Seniorenforum aufgebaut. Ziel dieses Forums ist es, die Seniorinnen und Senioren verbindlich in die Gestaltung der Alterspolitik einzubeziehen. Aktuell arbeiten im Forum60plus rund 70 engagierte Freiwillige mit (www.luzern60plus.ch).
  • Einbezug in die Quartierentwicklung: Manche Städte und Gemeinden führen regelmässige Quartierbegehungen mit der älteren Bevölkerung durch; beispielsweise die Stadt Schaffhausen (dazu auch Simon Stocker, «Alterspolitik der Stadt Schaffhausen – gemeinsam unterwegs», S. 46–49.). Ziel der Rundgänge ist es, den Handlungsbedarf zu identifizieren und daraus konkrete Massnahmen zu entwickeln, die die Lebensqualität der ­älteren Menschen im Quartier verbessern und es ihnen ermöglichen, möglichst lange selbstständig zu wohnen.

Kooperationen Stärken

  • Verwaltungsinterne Kooperation: Alterspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die nicht nur gesundheitliche oder soziale Themen umfasst. Daher sind innerhalb der kommunalen Verwaltung ämterübergreifende Gremien empfehlenswert, die institutionalisierte Formen der Koordination und Kooperation quer durch die verschiedenen Departemente und Verwaltungsabteilungen schaffen (Schubert 2018, Stremlow et al. 2018).
  • Verwaltungsexterne Kooperation: Die Angebotspalette im Bereich der Altersarbeit ist vielfältig und die Zahl involvierter Akteure dementsprechend hoch. Die Städte mit einer umfassenden Alterspolitik messen dem regelmässigen Austausch und der systematischen Vernetzung der relevanten Akteure eine hohe Bedeutung zu (Stremlow et al. 2018). Sie sind in den letzten Jahren dazu übergegangen, Dienstleistungs- oder Fachnetzwerke aufzubauen, die der Abstimmung und Planung aller Angebote dienen. Der Nutzen entsprechender Kooperationsformen ist in der Fachwelt unbestritten (Knöpfel et al. 2018, Schubert 2018, Curaviva 2016).
  • Interkommunale Kooperation: Für kleinere und mittelgrosse Gemeinden kann es gewinnbringend sein, verbindliche gemeindeübergreifende Kooperationen und Vereinbarungen einzugehen. So haben beispielsweise die Gemeinden Wallisellen, Dietlikon und Wangen-Brüttisellen seit 2014 die drei Spitexorganisationen fusioniert und sie sind eine strategische Allianz zur Koordination der stationären Angebote in den drei Alters- und Pflegezentren eingegangen (Stremlow et al. 2018). Durch die Kooperation werden Angebote ermöglicht, die jede Gemeinde für sich alleine nicht hätte realisieren können (zum Beispiel 24-Stunden-Spitex).
  • Kooperation mit betreuenden, pflegenden Angehörigen oder der Nachbarschaftshilfe: Ein Fokus im siebten deutschen Altenbericht liegt auf den Übergängen der profes­sionellen Hilfe und Betreuung zum informellen Hilfs­umfeld (zum Beispiel pflegende Angehörige, Nachbarschaftshilfe). Dabei handelt es sich um einen Entwicklungspfad, der auch von diversen Schweizer Städten gewählt wird. Der Stadtkanton Basel beispielsweise verfolgt diesbezüglich einen interessanten Ansatz: Pflegebedürftige Personen mit Wohnsitz im Kanton, die durch Angehörige oder Dritte gepflegt werden, haben Anspruch auf finanzielle Beiträge. Voraussetzung ist ein bedeutender Pflege- und Betreuungsaufwand von mindestens einer Stunde pro Tag, der durch Angehörige oder Nachbarn erbracht wird.

Orientierung am Sozialraum Die Orientierung am Sozialraum verfolgt unter anderem das Ziel, Menschen verschiedener Generationen in einem bestimmten Sozialraum – wie einem Quartier oder Stadtteil – besser mitei­nander zu vernetzen. Im beispielhaften Projekt des Vereins Vicino in der Stadt Luzern sind 15 Organisationen mit Bezug zum Altersbereich zusammengeschlossen. Vicino beabsichtigt, die Selbsthilfe und Gesundheitskompetenz, ein vernetztes Dienstleistungsangebot, das Zusammenbringen von Menschen im Quartier sowie das altersgerechte Wohnen mittels einer niederschwelligen Anlauf-, Triage- und Kontaktstelle zu fördern (Renner Strauss 2015, www.vicino-luzern.ch). Ein vergleichbares Konzept verfolgt die Siedlungs- und Wohnassistenz in der Gemeinde Horgen (www.horgen.ch/dienstleistungen/28554).

Mit Partizipation bei der Gestaltung des öffentlichen Raums befasst sich auch das Zentrum öffentlicher Raum (ZORA) des Schweizerischen Städteverbands. Es hat die Broschüre «Partizipation – Arbeitshilfe für die Planung von partizipativen Prozessen bei der Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums» erarbeitet. Diese wendet sich an Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung, die mit Partizipationsprozessen bei der Planung des öffentlichen Raums in Berührung kommen.

Fortlaufende Weiterentwicklung Die Städte mit einer umfassenden Alterspolitik messen der stetigen Weiterentwicklung der Alterspolitik eine hohe Bedeutung zu (Stremlow et al. 2018). Sie partizipieren beispielsweise am Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städte 
(www.altersfreundlich.net), nutzen Unterstützungs- oder Förderangebote des Kantons (dazu auch Christina Zweifel, «Die Gemeinde im Mittelpunkt der kantonalen Alterspolitik», S. 37–41), ziehen externe Beraterinnen und Berater bei, evaluieren die getroffenen Massnahmen oder arbeiten mit Hochschulen zusammen.

Die vorgestellten Entwicklungspfade sind als Anstösse gedacht und sollen aufzeigen, wie den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des demografischen Wandels auf kommunaler Ebene begegnet werden kann.

  • Literatur
  • Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo; Heinzmann, Claudia (2018): Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme; Zürich: Seismo.
  • Schubert, Herbert (Hg.) (2018): Integrierte Sozialplanung für die Versorgung im Alter. Grundlagen, Bausteine, Praxisbeispiele;Wiesbaden: Springer VS.
  • Stremlow, Jürgen; Da Rui, Gena; Müller, Marianne; Riedweg, Werner; Schnyder, Albert (2018): Gestaltung kommunaler Alterspolitik in der Schweiz;Luzern: Interact.
  • Curaviva – Verband Heime und Institutionen Schweiz (2016): Das Wohn- und Pflegemodell 2030 von Curaviva Schweiz. Die Zukunft der Alterspflege; [Bern: CURAVIVA Schweiz]: www.curaviva.ch > Fachinformationen > Themendossiers > Wohnen und Architektur im Alter.
  • Renner Strauss, Tamara (2015): Wohnen zu Hause – auch im Alter. Eine strategische Handlungsanleitung; [Luzern: Masterarbeit im MAS «Alter und Gesellschaft» an der Hochschule Luzern]: www.vicino-luzern.ch > Organisation > Das Konzept Vicino Luzern > Renner – Masterarbeit.
  • Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (2012): Wie altersfreundlich ist meine Gemeinde? Kriterien und Fragebogen zur Selbstbeurteilung. Für Politiker/Innen, Behörden, Verwaltung, Dienstleistende und Bevölkerung; [Liebefeld: Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie].
  • World Health Organisation (2007): Global Age-friendly Cities: A Guide. Genf: WHO: www.who.int > Publications > iris.
  • Zentrum Öffentlicher Raum des Schweizerischen Städteverbandes (ZORA) (o. J.): Partizipation – Arbeitshilfe für die Planung von partizipativen Prozessen bei der Gestaltung und Nutzung öffentlicher Räume; [Luzern: Geschäftsstelle ZORA an der Hochschule Luzern]: www.zora-cep.ch > Schwerpunkte > Partizipation > Zora-Broschüre Partizipation.
Dr. phil., Leiter des Instituts für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
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