Förderung der Bildungschancen zur Senkung von Armut

Bildung zählt zu den wichtigsten Voraussetzungen, um Erwachsene, Familien und ihre ­Kinder vor Armut zu schützen. Deshalb bestimmte das Nationale Programm gegen Armut die Förderung von Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder, Jugendliche und ­Erwachsene zu einem von vier Handlungsfeldern.
Doris Edelmann, Andrea von Dach, Susanne Stern
  |  21. Dezember 2018
    Forschung und Statistik
  • Armut
  • Eingliederung
  • Jugend
  • Kinder

Die kontinuierliche Bildungsförderung von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter hat für die Prävention und Reduktion von Armut eine grosse Bedeutung. Von 2015 bis 2018 unterstützte das Nationale Programm gegen Armut dazu 20 Pilot- und Modellprojekte sowie sieben Forschungs- und Evaluationsprojekte mit einem Fördervolumen in der Höhe von 1,7 Mio. Franken. Die Projekte decken die gesamte Bildungsbiografie ab: von der Förderung im Vorschulalter über den Eintritt in den Kindergarten und die Schule, die Übergänge von der ersten in die zweite Sekundarstufe sowie in den Arbeitsmarkt, bis hin zum Berufsabschluss für Erwachsene. Damit die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die praktischen Erfahrungen für die Entwicklung zukünftiger Projekte und Programme genutzt werden können, beauftragte das Bundesamt für Sozialversicherungen die Arbeitsgemeinschaft INFRAS / PH Bern mit einer Synthese der 27 Projekte.

Kontinuierliche Bildungschancen Als theoretischer Rahmen der Synthese diente das eigens dafür entwickelte Konzept der kontinuierlichen Bildungschancen. Bildung wird dabei als individueller Prozess der Aufnahme, Erschliessung und Einordnung von Erfahrungen und Wissen während der gesamten Lebensspanne verstanden (z. B. Edelmann 2018). Folglich kann die vom Nationalen Programm gegen Armut verfolgte Strategie, mit mehr Bildung zur Prävention oder zum Abbau von Armut beizutragen, vor allem dann gelingen, wenn bedürfnisgerechte Bildungsangebote für die verschiedenen Lebensalter zur Verfügung stehen. Dabei gilt es auch zu beachten, dass Bildung in unterschiedlichen Kontexten stattfindet, namentlich in der Familie, in der Schule, in Vereinen, während Freizeitaktivitäten, im Austausch mit Gleichaltrigen sowie im Umgang mit neuen und konventionellen Medien. Um eine kontinuierliche Unterstützung entlang der Bildungsbiografie sicherzustellen, ist insbesondere den Bildungsübergängen die entsprechende Beachtung zu schenken.

Grafik g1 visualisiert das Konzept der kontinuierlichen Bildungschancen, indem die zentralen Übergänge, Bildungsorte und Bildungsanbieter benannt werden, die insbesondere aufgrund ihrer vertikalen und horizontalen Verbindung sicherstellen können, dass in den verschiedenen Lebens­phasen diejenigen Bildungsangebote zur Verfügung stehen, die für die Prävention und den Abbau von Armut relevant sind.

Methodisches Vorgehen Die Einschätzungen der Projektleitenden standen im Zentrum der Synthese. Daher wurde mit allen ein telefonisches Leitfadeninterview durchgeführt. Zudem wurden die zur Verfügung stehenden Dokumente der geförderten Projekte (Förderantrag, Zwischen­berichte, Evaluationsberichte) analysiert. Die Vernetzung der Projekte mit anderen Angeboten wurde mit einem Onlinefragebogen erhoben. Zur Validierung wurden die gewonnenen Erkenntnisse einerseits den Projektleitenden zur Überprüfung vorgelegt. Andererseits wurden sie in einem Workshop mit ausgewählten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis diskutiert.

Zentrale Erkenntnisse Die Synthese der geförderten Projekte weist darauf hin, dass die Projektleitenden für das Thema Vernetzung und Zusammenarbeit sowie für die Wichtigkeit von kontinuierlichen Bildungschancen gut sensibilisiert sind. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Vernetzung aufwendig ist und nicht zwischen allen Akteuren (z. B. Gesundheitsbehörde, Bildungsbehörde) gleichermassen gut gelingt. Vergleichsweise stark vernetzt sind Projekte, die am Übergang Vorschule – Schule ansetzen und einzelne im Bereich Berufswahl. Am wenigsten stark vernetzt sind Projekte im Bereich Grundkompetenzen und Berufsabschluss für Erwachsene. Die Synthese verdeutlicht zudem, dass die Schule in der Armutsprävention nur eine marginale Rolle spielt. Bei mindestens 19 Projekten war nach Ablauf der Förderperiode eine Weiterführung geplant. Zehn davon wurden in die Regelstrukturen überführt, wovon wiederum acht künftig als fixes Angebot derselben Trägerschaft weitergeführt werden. Bei weiteren fünf Projekten ist der Transfer der erarbeiteten Projekt- oder Forschungsergebnisse in die Regelstrukturen sichergestellt (vgl. INFRAS / PH Bern 2018).

Empfehlungen für zukünftige Projekte Basierend auf den Erkenntnissen und Erfahrungen der geförderten Projekte, der Forschungsliteratur sowie des Validierungsworkshops, lassen sich mit Blick auf zukünftige Projekte, die zur Armutsprävention oder -reduktion beitragen sollen, die folgenden Empfehlungen ableiten:

  • Klärung der Zielsetzungen: Bei der Entwicklung von wirksamen Projekten ist es entscheidend, die mit dem Projekt anvisierten Ziele sorgfältig zu klären. Gerade bei präventiv ausgerichteten Projekten für sozial benachteiligte Familien ist zu bedenken, dass Bildungsprojekte die unmittelbare Armutsbetroffenheit von Familien nicht zu lindern vermögen. Der weitere Kontext von Unterstützungsangeboten ist deshalb immer mitzudenken – insbesondere der Zugang zu finanziellen Unterstützungsleistungen wie ­Sozialhilfe, Stipendien, subventionierten Krippen- und Spielgruppenplätzen oder Betreuungsgutscheinen.
  • Klärung der Zielgruppen: Wichtig ist es, zwischen einer selektiven und universellen Ausrichtung von Projekten abzuwägen. Eine selektive Ausrichtung ausschliesslich auf Armutsbetroffene führt dazu, dass sämtliche Ressourcen denjenigen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen zugutekommen, die sich in einer prekären Lebenslage befinden. Gleichzeitig können solche Projekte auch stigmatisierend wirken und gerade deshalb von der Zielgruppe gemieden werden. Demgegenüber kann mit universal ausgerichteten Angeboten eine Durchmischung der Teilnehmenden gefördert und damit eine Stigmatisierung vermieden werden. Die zur Verfügung gestellten Ressourcen werden dabei allerdings weniger zielgerichtet eingesetzt.
  • Zugang zu den Angeboten sicherstellen: Der niederschwellige Zugang zu einem Angebot ist ein relevanter Erfolgsfaktor. Beispielsweise müssen Tageszeit und Dauer der Angebote so konzipiert werden, dass sie mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen zu vereinbaren sind. Im Fall von Angeboten, die sich an Eltern richten, muss zudem die Kinderbetreuung mitbedacht werden. Bei Angeboten für Kinder und Jugendliche sollte sichergestellt sein, dass sie gut zu erreichen sind und vorzugsweise in Familien- bzw. Gemeinschaftszentren oder in Schulen oder auf Spielplätzen stattfinden. Weiter muss überlegt werden, ob es für die Teilnahme am Projekt eine Anmeldung braucht und wie diese einfach und verständlich gestaltet werden kann. Um der individuellen Situation der Teilnehmenden gerecht zu werden, sollten die Teilnahmekosten möglichst gering gehalten und die Angebote ausreichend flexibel konzipiert sein.
  • Zielgruppenansprache und -erreichung: Die Zielgruppen werden besser erreicht, wenn die Vermittlung über Regelstrukturen (z. B. die Schule, die Sozialbehörde) und die Kontaktaufnahme via Schlüsselpersonen erfolgt. Kontinuierliche Werbe- und Informationsmassnahmen sowie Mund-zu­-Mund-Propaganda können unterstützend wirken. Zudem lassen sich Eltern insbesondere dann erreichen, wenn sie Förderangebote für ihre Kinder als nützlich oder unterstützend wahrnehmen. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen wird es wahrscheinlicher, dass sie sich ebenfalls für Angebote zu interessieren beginnen, die sich an Erwachsene richten.
  • Vernetzung von Angeboten: Die Zusammenarbeit und Vernetzung mit den bestehenden Regelstrukturen erweist sich als wichtiger Erfolgsfaktor für den Zugang zur Zielgruppe. Es sollte deshalb bereits bei der Projektkonzeption überlegt werden, mit welchen bereits bestehenden Angeboten eine Verbindung aufgebaut werden kann und welche neuen Vernetzungen anzustreben sind. Dadurch lassen sich nicht nur Kontinuitäten, sondern auch Synergien sicherstellen und Überschneidungen oder Doppelungen vermeiden. Zudem ist es wichtig, Angebote aus verschiedenen Bereichen wie Gesundheit, Soziales, Bildung und Integration zu berücksichtigen.
  • Professionalität der Fachkräfte und Einbezug von Freiwilligen: Nicht zuletzt hängt der Erfolg eines Projektes von der Professionalität der Fachkräfte (z. B. Projekt- und Kursleitende, Lehrpersonen, Personal von Beratungsstellen) im Umgang mit Armutsbetroffenen ab. So sollten die Fachkräfte mit Differenz und Vorurteilen besonders reflektiert umgehen und Diskriminierungserfahrungen von Kindern oder Erwachsenen verstehen. In Ergänzung zu professionellen Fachpersonen kann auch der Einbezug von Freiwilligen zielführend sein, beispielsweise für die individuelle Begleitung von Personen. Freiwillige müssen für ihren Einsatz entsprechend geschult und professionell begleitet werden, wofür ausreichend Ressourcen einzuplanen sind.
  • Evaluation und Nachhaltigkeit: Bereits bei der Planung von Projekten gilt es zu überlegen, in welcher Weise deren Wirkungen überprüft werden sollen. Eine sorgfältige Evaluation erlaubt nicht nur die Optimierung der Projekte, sondern schafft auch die Grundlagen, um wirksame Projekte nachhaltig in die Regelstrukturen zu überführen.

Ausblick Die Synthese der 27 geförderten Projekte verdeutlicht, dass aufeinander abgestimmte und miteinander vernetzte Unterstützungsangebote auf allen Bildungsstufen einen wichtigen Beitrag zur Förderung kontinuierlicher Bildungschancen leisten können. Für deren Realisierung tragen Akteure in staatlichen Positionen sowie in Nichtregierungs­organisationen, Stiftungen und Vereinen eine Mitverantwortung. Sie übernehmen die Aufgabe, geeignete Angebote bereitzustellen, zu koordinieren und zu vernetzen sowie die ausreichende Finanzierung sicherzustellen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Gemeinden und/oder Kantone ihre Angebotslandschaft kennen, diese gezielt weiterentwickeln und die verschiedenen Angebote koordinieren. Nicht zuletzt ist es für die weitere Entwicklung erfolgreicher Projekte und Programme der Armutsprävention und -bekämpfung unerlässlich, dass die Erfahrungen und Bedürfnisse von armutsbetroffenen bzw. -gefährdeten Zielgruppen stärker in die Entwicklung von Bildungsmassnahmen einbezogen werden und ihnen somit die Rolle der relevanten Akteure zugesprochen wird.

  • Literatur
  • Edelmann, Doris (2018): Chancenförderung und Integration durch frühe (Sprach-) Förderung? Theoretische Reflexionen und empirische Einblicke, Wiesbaden: Springer.
  • Bundesamt für Statistik (BFS, 2016): Armut und materielle Entbehrung von Kindern. Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) 2014, [Neuenburg: BFS]: www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > Kataloge und Datenbanken > Publikationen.
  • Stern, Susanne; von Dach, Andrea; Schwab Cammarano, Stephanie; Reyhanloo, Tony; von Stokar, Thomas; Edelmann, Doris (INFRAS / PH Bern, 2018): Ergebnisse aus den geförderten Projekten im Handlungsfeld Bildungschancen. Synthesebericht, [Bern: BSV]. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 6/18: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
Prof. Dr. phil. habil., Leiterin des Instituts für Forschung, Entwicklung und Evaluation, Pädagogische Hochschule Bern.
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MA Soziologie, Projektleiterin, INFRAS.
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Dipl. Sozialgeografin, Leiterin Bereich Bildung und Familie, Verwaltungsrätin INFRAS.
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