Familienberichterstattung der Kantone

Als Teil des dritten Familienberichts des Bundes wurden erstmals eine systematische ­Übersicht über die Familienberichterstattung der Kantone erarbeitet, deren Einfluss auf die kantonale Familienpolitik untersucht und die familienpolitischen Ansätze von Bund und Kantonen verglichen.
Heidi Stutz
  |  15. Dezember 2017
    Forschung und Statistik
  • Familie
  • Gleichstellung

Der dritte Familienbericht des Bundes (Familienbericht 2017) enthält u. a. eine Auslegeordnung der kantonalen Familienberichte, Familienleitbilder und Familienkonzepte (zusammenfassend Familienberichterstattung). Sie bietet eine systematische Übersicht, analysiert den Einfluss der Berichterstattung auf die Familienpolitik und vergleicht die Einschätzungen der kantonalen Berichte mit der familienpolitischen Auslegeordnung, die der Bund 2015 vorgenommen hat (Familienpolitik 2015).

Ausgewertet wurden 35 Familienberichte, Familienleitbilder oder Familienkonzepte der Jahre 2004 bis 2016 aus 21 Kantonen im Umfang von 2 bis 202 Seiten, die in unterschiedlichem Ausmass die Ausgangslage und diverse familienpolitische Massnahmen benennen (vgl. Tabelle T1). Der Stand ihrer Umsetzung wurde im Rahmen einer Befragung der kantonalen Ansprechpersonen für Familienfragen eruiert1.

In 19 Kantonen umfasst die Familienberichterstattung eine Situationsanalyse der Familien, die sich in vier Kantonen auf eine Familienbefragung stützt. 18 Kantone untersuchen ihre Familienpolitik und in ähnlichem Ausmass werden der Handlungsbedarf identifiziert, Ziele definiert, Strategien sowie Leitsätze formuliert und Massnahmen skizziert. Nur ein einziger Kanton setzt überprüfbare Zielvorgaben und drei kontrollieren die Umsetzung und Wirksamkeit früher beschlossener Schritte.

Ausgehend vom Umfang und vom zeitlichen Rahmen ihrer Familienberichterstattung lassen sich die Kantone in fünf Gruppen einteilen (vgl. Grafik G1):

  • Kantone mit längerer Kontinuität und umfassender Familienberichterstattung (BE, BL, BS, OW, SO, TI, VD)
  • Kantone mit neuer Familienberichterstattung (AR, JU, GL, TG, ZG)
  • Kantone mit länger zurückliegender Familienberichterstattung (AG, FR, GR, LU, SH, UR)
  • Kantone mit thematisch eingeschränkter Familienberichterstattung (GE, NE, SG)
  • Kantone ohne Familienberichterstattung (AI, NW, SZ, VS, ZH)

Den Anstoss zur Erarbeitung der Situationsanalysen, Leitbilder und Konzepte gaben etwa gleich häufig die Regierung oder das kantonale Parlament. Unabhängig vom Urheber verabschiedete dabei meistens die Regierung als Auftraggeberin die Berichte. Je nach Kanton und Art der Dokumente unterscheidet sich der Erarbeitungsprozess. Situationsanalysen werden eher mit externer Hilfe verfasst. Bei den Leitbildern oder Konzepten ist das Eigenengagement der Kantone in der Regel grösser.

Inhalt und Lagebeurteilung Die Familienberichterstattung befasst sich stark mit den komplexen und in jedem Kanton etwas anderen Angebots- und Verwaltungsstrukturen, den vielzähligen involvierten Akteuren sowie den koordinativen Aufgaben beziehungsweise dem Fehlen eines koordinierten Vorgehens. Mitunter wird erst im Rahmen der Berichterstattung ein Überblick geschaffen, der dann auch Ausgangspunkt sein kann für eine systematischere Steuerung der Familienpolitik durch den Kanton.

Gemeinsame Themen der kantonalen Familienberichterstattung sind die wirtschaftliche Absicherung der Familien, die Instrumente zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerb sowie weitere, nicht monetäre Leistungen, die hier unter dem Begriff der Familienförderung zusammengefasst werden. Teilweise auch besprochen werden die fehlenden Rechtsgrundlagen, zum Beispiel im Vorschulbereich, und die damit verknüpfte Herausforderung, dass Leistungen ohne gesetzliche Basis in Budgetdebatten vermehrt gekürzt oder gestrichen werden. Kaum diskutiert wird die Erneuerung des Familienrechts, welches in der Kompetenz des Bundes liegt.

Wirtschaftliche Absicherung Bei der Analyse der finanziellen Situation der Familien kommt in der Familien­berichterstattung die Familienarmut am häufigsten zur Sprache. Übereinstimmend wird festgestellt, dass Alleinerziehende sowie Migrationsfamilien die Hauptbetroffenen sind. Häufig wird aufgezeigt, dass das Wohlstandsniveau der Familien unter jenem der kinderlosen Haushalte liegt.

Bei den Kinder- und Ausbildungszulagen wird relativ wenig Handlungsbedarf gesehen. Die Familienbesteuerung dagegen bietet verbreitet Anlass zu Reformdiskussionen. Genannt werden etwa die steuerliche Entlastung aller Familien, besonders aber die negativen Erwerbsanreize im Steuersystem. Auch die Prämienverbilligung zur Krankenkasse wird meist behandelt. Bei der Alimentenbevorschussung werden oft nur die Regelungen erwähnt. Teilweise kommen auch Schwelleneffekte dieses Leistungssystems zur Sprache. Dreizehn Kantone thematisieren Ergänzungsleistungen für Familien (Familien-EL).

Die Berichte der Kantone und des Bundes ziehen in ihrer Beurteilung der wirtschaftlichen Absicherung von Familien ähnliche Schlussfolgerungen. Als Handlungsoption nennen beide Seiten die steuerliche Entlastung. Dagegen wird die vom Bund empfohlene Harmonisierung der Alimentenbevorschussung in der kantonalen Berichterstattung kaum aufgegriffen. Die Einführung von Familien-EL ist auf Bundesebene gescheitert, wird aber in den kantonalen Familienberichten relativ oft als (mögliche) Kantonsleistung thematisiert. Eine anschliessende Umsetzung ist deutlich weniger häufig. Im Unterschied zum Bund beschäftigen Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize bei ihren Familienleistungen die kantonalen Berichte stark. Zudem betonen sie die Wichtigkeit immaterieller Unterstützung von Familien in materiellen Schwierigkeiten.

Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit Gute Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind praktisch in allen kantonalen Berichten ein zentrales Thema. Alle Kantone sehen Verbesserungsbedarf beim Kinderbetreuungsangebot, insbesondere bezüglich seiner Flexibilität, der Ferienbetreuung oder der Tarifsysteme. Ein häufiges Anliegen ist auch die Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen. Einige Kantone möchten zudem einen Vaterschafts- oder Elternurlaub einführen.

Sowohl beim Bund als auch in den kantonalen Berichten ist der Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung unbestritten. Die im Bundesratsbericht genannte Option einer Senkung der Betreuungskosten für die Eltern wird in den kantonalen Berichten allerdings selten thematisiert. Vereinzelt wird daran gedacht, die Arbeitgeber stärker in die Finanzierung einzubinden. Einen Vaterschafts- oder Elternurlaub hat das Bundesparlament bis anhin abgelehnt. Verschiedene Berichte kritisieren, dass den Kantonen die Rechtsetzungskompetenz fehlt, die es ihnen erlauben würde, einen Vaterschafts- oder Elternurlaub auf Kantonsebene einzuführen. Die Unterstützung bei der Betreuung und Pflege von Angehörigen ist sowohl im Bunderatsbericht als auch bei einzelnen Kantonen Thema. Der Bund nennt zudem die Förderung der Lohngleichheit, die kantonalen Familienberichte eher pauschal die Gleichstellung von Frau und Mann.

Förderung der Familien Der Familienförderung lassen sich zwei kantonale Handlungsfelder zuordnen: die gezielte Information, Beratung und Begleitung von Familien sowie die Schaffung geeigneter Voraussetzungen für Integration, Chancengerechtigkeit und Bildung.

  • Information, Beratung und Begleitung: Der Information und Elternbildung wird grosse Bedeutung zugemessen, aber es wird auch festgestellt, dass diese nicht alle Familien erreichen. Viele Kantone wollen das Potenzial von Beratung, Begleitung und Information besser nutzen, indem sie vorhandene Strukturen verstärkt koordinieren und mit Betreuungsinstitutionen und Angeboten früher Förderung vernetzen. Etwa die Hälfte der Kantone erwähnt aufsuchende Angebote der Familienarbeit.
  • Integration, Chancengerechtigkeit und Bildung: Bei der Integration von Migrationsfamilien stehen Bildungsfragen im Vordergrund, bei der sozialen Integration und Teilhabe aller Familien der Zugang zu sinnvollen Freizeitbeschäftigungen, aber auch die Stärkung sozialer Netze generell. Chancengerechtigkeit wird sehr häufig als zentrales Ziel genannt, aber auf die Kinder fokussiert. Nur selten werden die Bildungschancen der Eltern angesprochen.

In der Familienförderung hat der Bund kaum Kompetenzen. Für die Kantone hingegen ist sie zentral, und sie scheinen gewillt, hier zu investieren.

Auswirkungen der Familienberichterstattung auf die Familienpolitik Insgesamt 19 der 21 Kantone mit Familienberichterstattung haben auf dieser Grundlage Massnahmen ergriffen. Dabei hängen Art und Intensität der Verbindungen zwischen Berichterstattung und familienpolitischen Massnahmen eng mit dem Umfang und dem zeitlichen Rahmen der Berichterstattung zusammen:

  • In Kantonen mit längerer Kontinuität und umfassender Familienberichterstattung ist die Verbindung zur familienpolitischen Strategie relativ eng, was jedoch nicht bedeutet, dass es immer einfach ist, anvisierte Vorhaben auch umzusetzen. Mitunter wird die Berichterstattung bewusst dazu eingesetzt, den Handlungsbedarf aufzuzeigen oder nachzuweisen, und sie hat in diesem Sinne auch Sensibilisierungscharakter.
  • In den Kantonen mit länger zurückliegender Familienberichterstattung sind oft viele Massnahmen umgesetzt und andere stehen nicht mehr auf der politischen Agenda. Die Gründe für die Einstellung der Familienberichterstattung sind unterschiedlich.
  • Die kleineren Kantone mit neuer Familienberichterstattung zeigen sich schon in der Art ihrer Berichte bemüht, aus ihren begrenzten Möglichkeiten etwas zu machen. Es sind Berichte und Konzepte, die für die Praxis erstellt wurden. Soweit es die finanziellen Mittel erlauben, wird das Geplante dann auch umgesetzt.
  • Bei den Kantonen mit thematisch eingeschränkter Familienberichterstattung wird besonders deutlich, dass von der Berichterstattung nicht direkt auf die Aktivität in der Familienpolitik geschlossen werden darf. Sie haben teilweise wichtige Reformen durchgeführt, ohne dass diese je Thema ihrer Familienberichte gewesen wären.

Die Befragung der kantonalen Ansprechpersonen für Familienfragen zeigt, dass die Kantone in der Umsetzung von Massnahmen häufig bei der Finanzierung anstehen. Weitere Hindernisse sind mangelnder politischer Wille, die fehlende Einbindung entscheidender Akteure, insbesondere der Gemeinden, sowie fehlende Umsetzungsstrukturen. Inwiefern empfohlene Massnahmen umgesetzt werden, hängt auch damit zusammen, ob die Regierung sich dahinterstellt, wie weitgehend sie sind und was sie kosten. Als förderliche Faktoren für die Umsetzung erweisen sich die Schaffung rechtlicher Grundlagen, die das Handeln des Kantons legitimieren, sowie der Einbezug der mitbetroffenen Gemeinden und generell der involvierten Fachpersonen. Die gemeinsame Erarbeitung von Familienberichten bietet Chancen für eine übergreifende und längerfristig ausgerichtete kohärente Strategie und für eine nachhaltige Koordination, Vernetzung und interdepartementale Zusammenarbeit.

Fazit Die Berichte, Leitbilder und Konzepte machen deutlich, welche familienpolitischen Fragen die Kantone beschäftigen, und sie dokumentieren den unterschiedlichen Stand der Familienpolitik. Wie gerade das Beispiel der Kantone mit eingeschränkter Berichterstattung zeigt, ist es allerdings wichtig, keinen linearen Zusammenhang zwischen der Familienberichterstattung und der Umsetzung familienpolitischer Leistungen herzustellen.

Trotz der grossen Heterogenität der Berichte fallen die Definitionen, was eine Familie und was Familienpolitik ist, relativ einheitlich aus: Die Kantone orientieren sich an den Definitionen des Bundes. Gegenüber früheren Berichten haben die Kantone ihre inhaltlichen Schwerpunkte um nicht monetäre Dimensionen erweitert. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Förderung von Familien mittels Information, Beratung und Begleitung sowie Integration, Bildung und Chancengerechtigkeit nehmen in den meisten Kantonen viel Raum ein. Darin widerspiegelt sich ein Umbau der Familienpolitik, die ihren Fokus von der finanziellen Absicherung hin zu einem Ansatz verlagert, der integrativer orientiert auf gute Rahmenbedingungen für die Selbsthilfe setzt und präventiver ausgerichtet ist.

Die Analyse zeigt, dass die Familienberichterstattung der Kantone bei der Weiterentwicklung der Familienpolitik eine wichtige Rolle spielt. Dies gerade auch in kleineren und ländlicheren Kantonen, die nicht über grosse und spe­zialisierte Verwaltungsstrukturen verfügen. Dabei kann der Erarbeitungsprozess zentral sein für die Entwicklung eines Konsenses darüber, welche Massnahmen mit welcher Priorität umgesetzt werden sollen, wenngleich die Empfehlungen eines Berichts den politischen Entscheidungsprozess nicht ersetzen. Es fällt auf, dass verschiedene Kantone vor der Erarbeitung ihrer Berichte kaum aktive Verantwortung für die Familienpolitik übernommen haben und sie sich zuerst einen Überblick zur Lage der Familien und den bestehenden Leistungen von Gemeinden und privaten Trägerschaften verschaffen mussten.

Die grosse Mehrheit der Kantone formuliert Massnahmen und setzt diese dann teilweise auch um. Für die Realisierungschancen ist entscheidend, wieweit die Regierung sich letztendlich hinter die vorgeschlagenen Massnahmen stellt. Insgesamt scheint es nicht eine einzige erfolgsversprechende Strategie zu geben, vielmehr ist diese abhängig von der Ausgangssituation in einem Kanton und den politischen Verhältnissen. Diese entscheiden darüber, welche Rolle die Familienberichterstattung bei der Weiterentwicklung der Familienpolitik spielt.

Bund und Kantone widersprechen sich in ihren Berichten nicht, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte. Konfliktpunkte werden vereinzelt dort angesprochen, wo bestehenden Bundeskompetenzen die Kantone daran hindern, ihnen sinnvoll erscheinende Reformen wie die Individualbesteuerung und einen Vaterschafts- oder Elternurlaub voranzutreiben. Im Bundesratsbericht nicht erwähnt, aber in der kantonalen Familienberichterstattung breit diskutiert werden die Integration von Migrationsfamilien, negative Erwerbsanreize und Schwelleneffekte im System monetärer Leistungen, Zugangsprobleme sowie die Förderung der Chancengerechtigkeit für die Kinder.

Aufgrund der politischen Diskussionen um eine Verschiebung von Kompetenzen zwischen den Kantonen und dem Bund sind gewisse Blockadetendenzen entstanden. So wird in der kantonalen Berichterstattung festgestellt, dass Working-Poor-Familien und Alleinerziehende armutsgefährdet sind, aber längst nicht alle Kantone schlagen Massnahmen dagegen vor. Gleichzeitig scheiterte sowohl auf Bundesebene als auch in diversen Kantonen die Einführung von Fami­lien-EL. Im Ergebnis bleibt die überproportionale Armutsgefährdung von Kindern und Familien in fast allen Kantonen bestehen.

Materialien

Familienbericht 2017. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate 12.3144 Meier-Schatz vom 14. März 2012 und 01.3722 Fehr vom 12. Dezember 2001; Bern, 26. April 2017: www.bsv.admin.ch > Sozialpolitische Themen > Familienpolitik > Grundlagen > Familienberichte.

Stutz, Heidi; Bannwart, Livia; Legler, Victor (2017): Familienberichte, Familienleitbilder und Familienkonzepte der Kantone; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 1/17: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungsberichte.

Familienpolitik. Auslegeordnung und Handlungsoptionen des Bundes. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Tornare (13.3135) «Familienpolitik» vom 20. MКrz 2013; Bern, 20. Mai 2015: www.bsv.admin.ch > Sozialpolitische Themen > Familienpolitik > Grundlagen.

  • 1. Die kantonalen Ansprechpersonen für Familienfragen sind bei der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) gemeldet. Die EKFF ist eine ausserparlamentarische Kommission und beratendes Organ des Bundesrates. Ihre Geschäftsstelle ist dem Geschäftsfeld Familie, Generationen und Gesellschaft des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) angegliedert: www.ekff.admin.ch.
Lic. phil. hist., Mitinhaberin, und Bereichsleiterin 
Familienpolitik und Gleichstellung von Frau und Mann, Bürs für arbeits- und sozialpolitische 
Studien BASS AG.
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