Evaluation der Neuordnung der Pflegefinanzierung

Mit der Neuordnung der Pflegefinanzierung soll eine zusätzliche finanzielle Belastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und der privaten Haushalte ­vermieden und die sozialpolitisch schwierige Situation bestimmter Gruppen von Pflege­bedürftigen ­verbessert werden. Sie wird derzeit evaluiert.
Christine Heuer, Christian Vogt
  |  02. September 2016
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • Ergänzungsleistungen
  • Krankenversicherung

Mit dem am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) erfuhr die Pflege wesentliche sozialpolitisch erforderliche Erweiterungen: Anstelle der oftmals geringen Pflegebeiträge des alten Rechts vergütete die nunmehr schweizweit obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) Pflegemassnahmen, die bei Hausbesuchen (ambulant) oder in einem Pflegeheim bzw. Spital (stationär) durchgeführt werden. Neu wurden neben den auf eigene Rechnung tätigen Krankenschwestern und -pflegern auch die Pflegeheime und die Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause (Spitex) als Leistungserbringer anerkannt. Diese Schliessung von Leistungslücken führte zu entsprechenden Mehrkosten für die OKP. Zudem wurden die Pflegekosten der OKP weiterhin auch durch die demografische, medizinische und gesellschaftliche Entwicklung angetrieben.

Angesichts mangelnder Kostentransparenz und um die Kostenentwicklung in der OKP besser in den Griff zu bekommen, wurden 1998 zeitlich befristete Rahmentarife für den Pflegebereich eingeführt, was langfristig allerdings keine zweckmässige Lösung darstellte. Sie wurden Anfang 2011 durch die Neuordnung der Pflegefinanzierung abgelöst. Die Revision betrifft mit der AHV (Hilflosenentschädigung) und den Ergänzungsleistungen zur AHV und IV auch die anderen, an der Finanzierung der Pflege beteiligten Instrumente der sozialen Sicherung.

Ziele und Hauptmassnahmen der Neu­ordnung Die Neuordnung der Pflegefinanzierung verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll eine zusätzliche finanzielle Belastung der OKP vermieden werden, da diese vor der Neuordnung zunehmend altersbedingte Pflegeleistungen übernahm. Zum anderen soll die sozialpolitisch schwierige Situation bestimmter Gruppen pflegebedürftiger Personen verbessert werden – insbesondere soll Pflegebedürftigkeit nicht zu Sozialhilfeabhängigkeit oder Armut führen.

Um eine zusätzliche Belastung der OKP zu vermeiden, wurden die vorherigen (Rahmen-) Tarife durch ein Beitragssystem ersetzt, die Kostenübernahme geregelt und die Pflegekosten auf die Versicherer (OKP), die Versicherten und die Kantone aufgeteilt. Die OKP leistet einen fixen Beitrag (in Franken) an Pflegeleistungen, die aufgrund einer ärztlichen Anordnung und eines ausgewiesenen Pflegebedarfs ambulant (d. h. von Pflegefachpersonen oder durch die Spitex) oder im Pflegeheim erbracht werden. Die Beiträge sind nach Pflegebedarf abgestuft.

Nicht alle Pflegebedürftigen sind in der Lage, neben ihrer Beteiligung an den Pflegekosten die zusätzlich anfallenden Kosten für Betreuung und Hotellerie bzw. Hauswirtschaft selbst zu tragen. Um die finanzielle Belastung der privaten Haushalte zu begrenzen und ihr Risiko einer aus Pflegebedürftigkeit entstehenden Sozialhilfeabhängigkeit zu minimieren, ergriff der Gesetzgeber drei Massnahmen. Erstens wurde der Anteil der Versicherten (Patientenbeteiligung) an den Pflegekosten auf maximal 20 Prozent des höchsten OKP-Beitrags für Pflegekosten begrenzt1 und die Restfinanzierung den Kantonen übertragen. Zweitens wurde für Pflegebedürftige, die zu Hause leben, eine Hilflosenentschädigung zur AHV für Hilflosigkeit leichten Grades eingeführt, während für pflegebedürftige Heimbewohnerinnen und -bewohner die Vermögensfreibeträge für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen zur AHV erhöht wurden. Die Kantone wurden verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ein Pflegeheimaufenthalt in der Regel keine Sozialhilfeabhängigkeit begründet. Vor der Einführung leistungsbezogener Fallpauschalen im Rahmen der neuen Spitalfinanzierung wurde befürchtet, dass Patientinnen und Patienten früher aus dem Spital entlassen würden. Deshalb schuf das Parlament drittens die Möglichkeit, Leistungen der Akut- und Übergangspflege, die sich im Anschluss an einen Spitalaufenthalt als notwendig erweisen und die im Spital ärztlich angeordnet werden, während längstens zwei Wochen über die OKP zu finanzieren.

Nicht alle Pflegebedürftigen können die Kosten für Betreuung und Haus­wirtschaft selbst tragen.

Bisherige Erfahrungen mit der Neu­ordnung Auch nach ihrem Inkrafttreten beschäftigte die Neuordnung der Pflegefinanzierung die eidgenössischen Räte intensiv. In über 30 Vorstössen wurden insbesondere die Restfinanzierung der Kantone, die Patientenbeteiligung, Pflegebedarfserfassungssysteme, die Wahl- und Niederlassungsfreiheit Pflegebedürftiger, die Gleichstellung öffentlicher und privater Spitex-Anbieter sowie die Kostenrechnung und Leistungserfassung beziehungsweise die Abgrenzung zwischen Pflege und Betreuung thematisiert. Zudem liessen sich die beiden Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit in mehreren Berichten zur Umsetzung der Neuordnung informieren (BAG 2011a, 2011b, 2012, 2013). Für die vieldiskutierte Restfinanzierung der Kantone, insbesondere bei ausserkantonalen Pflegeheimaufenthalten, soll neu der Herkunftskanton zuständig sein, analog der Regelung im Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung.2

Konzeption und Durchführung der ­Evaluation Artikel 32 der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) beauftragt das BAG, den Vollzug und die Wirkungen des Gesetzes (und dessen Revisionen) zu untersuchen. Eine wichtige Basis für die Evaluation der Neuordnung der Pflegefinanzierung bildet eine vom BAG in Auftrag gegebene Konzeptstudie (Feh Widmer/Rüefli 2015). Neben einem Wirkungsmodell der Gesetzesrevision wurden darin die zentralen Fragestellungen der Evaluation erarbeitet, die vorhandenen Datenquellen identifiziert und ein Befragungskonzept mit möglichen Adressatinnen und Adressaten (insbesondere Pflegebedürftige, Kantone, Leistungserbringer, Versicherer) entwickelt.

Eine vom BAG mandatierte Arbeitsgemeinschaft begann im April 2016 mit der Evaluation. Der Evaluationsbericht, der voraussichtlich Ende 2017 veröffentlicht werden wird, wird als Entscheidungsgrundlage für die Weiterentwicklung der Pflegefinanzierung dienen. Eine Gruppe der wichtigsten von der Neuordnung der Pflegefinanzierung betroffenen Akteure hatte bereits die Konzeptstudie und die Erarbeitung des Pflichtenhefts zur Evaluation (BAG 2016) begleitet. Zusammen mit dem Evaluationsteam und den Verantwortlichen im BAG werden die Vertreterinnen und Vertreter der Pflegebedürftigen, der Leistungserbringer (Pflegeheime und Spitex), der Versicherer, der Kantone und des Bundes auch die Ergebnisse der Evaluation und sich allenfalls daraus ableitende Handlungsmöglichkeiten diskutieren.

Neuordnung der Pflegefinanzierung: Themenfelder der Evaluation

Umsetzung
Umsetzung durch die Kantone

  • Gesetzliche Anpassungen auf kantonaler Ebene
  • Materielle Regelung der inner- und ausserkantonalen Restfinanzierung
  • Umsetzung der Akut- und Übergangspflege
  • Kantonale Regelung der Ergänzungsleistungen

Umsetzung durch die Leistungserbringer

  • Abgrenzung zwischen Pflege- und anderen Leistungen

Fazitfragen zur Umsetzung

  • Gesamtbeurteilung Stand der Umsetzung
  • Schwierigkeiten bei der Umsetzung

Wirkungen

Finanzielle Auswirkungen

  • Entwicklung der Pflegekosten
  • Entwicklung der Finanzierungsanteile der Finanzierungsträger
  • Finanzielle Belastung der OKP
  • Finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen (Anteil an Pflegekosten)
  • Verlagerung zwischen Pflege- und anderen Leistungen
  • Finanzielle Belastung der öffentlichen Hand

Sozialpolitische Wirkungen

  • Finanzielle Situation der Pflegebedürftigen

Wirkungen auf Angebot und Inanspruchnahme von Leistungen

  • Allgemeine Wirkungen auf die Leistungserbringer
  • Auswirkungen auf das Angebot an Pflegeleistungen
  • Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen
  • Relevante Faktoren beim Entscheid über die Versorgung
  • Fehlversorgung / Angemessenheit der Versorgung von Pflegebedürftigen
  • Rahmenbedingungen der Pflege / des Pflegepersonals

Fazitfragen zu den Wirkungen

  • Bewertung der beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen
  • Vergleich der kantonalen Finanzierungsregimes
  • Anpassungs- bzw. Handlungsbedarf

Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an BAG (2016).

Ziel und Themenfelder der Evaluation Die Evaluation bewertet den Stand der Umsetzung, den Grad der Ziel­erreichung sowie allfällige unbeabsichtigte Wirkungen der Revision (siehe Kasten).

Vorgehen Die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes und die lückenhafte Datenlage erfordern eine Kombination verschiedener Untersuchungsmethoden. Da es im vorgegebenen Zeitraum nicht möglich ist, alle aufgeworfenen Themen in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu berücksichtigen, spricht die Evaluation zwar alle gestellten Fragen an, setzt gleichzeitig aber auch vier Prioritäten:

Zielerreichung der Revision Die Beurteilung der finanziellen Belastung der OKP und der sozialpolitischen Wirksamkeit der Revision bilden den Schwerpunkt der Evaluation. Die hierzu verfügbaren Daten sollen möglichst ausschöpfend ausgewertet werden. Die sozialpolitische Wirksamkeit lässt sich aufgrund der lückenhaften Daten nur beschränkt erfassen. Deshalb führt das Evaluationsteam zusätzlich Fallstudien in sechs bis acht Gemeinden durch (insbesondere mittels telefonischer Befragung von Gemeindevertreterinnen und -vertretern, Anlaufstellen und Hilfsorganisationen für pflegebedürftige Menschen sowie mittels Interviews der direkt Betroffenen).

Stand der Umsetzung Die Evaluation soll möglichst vollständig und zeitnah wiedergeben, wie die Kantone und die Leistungserbringer die Neuordnung der Pflegefinanzierung umsetzen und wo sie damit stehen. Die fundierte Untersuchung und Begründung der kantonalen (Policy-)Unterschiede erlaubt eine differenzierte Wirkungsanalyse der Neuordnung und die Identifizierung von Best Practice.

Zur administrativen Entlastung der Kantone werden bereits dokumentierte Informationen (Internet, Berichte des BAG, kantonale Gesetzesgrundlagen etc.) in einem jeweils kantonsspezifischen Faktenblatt festgehalten. Dieses wird anschliessend von den Kantonen geprüft und ergänzt. Die Erfahrungen der Leistungserbringer werden schriftlich beziehungsweise mittels Online-Befragung eingeholt.

Kostenwirkungen und mögliche unbeab­sichtigte Auswirkungen Neben den Kostenwirkungen geht die Evaluation auch möglichen unbeabsichtigten (positiven und negativen) Effekten im Nachfrageverhalten und Leistungsgeschehen nach. Bereits existierende Daten werden unter Einbezug ausgewählter Studienresultate zum Thema analysiert und die Ergebnisse in persönlichen Interviews mit pflegebedürftigen Menschen und mittels schriftlicher Befragung der Pflegeheime und Spitex erhärtet und vertieft.

Anpassungs- bzw. Handlungsmöglichkeiten

Eine umfassende Bewertung aller Evaluationsergebnisse wird es ermöglichen, auf Stärken und Schwächen der Neuordnung hinzuweisen und daraus allfällige Empfehlungen für die Weiter­entwicklung der Pflegefinanzierung abzuleiten.

Lic. rer. soc. wissenschaftliche Mitarbeiterin, ­Fachstelle Evaluation und Forschung, BAG.
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Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter Direktionsbereich Kranken- und Unfallversicherung, Bundesamt für Gesundheit.
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