Ergänzender Arbeitsmarkt: Vergütung und soziale Sicherung

Nicht alle Personen, die in der Schweiz arbeiten, geniessen denselben sozialen Schutz. Auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt zum Beispiel, der Personen mit administrativem Sonderstatus beschäftigt, sind nicht alle sozialen Risiken gleich abgedeckt.
Katja Haunreiter, Morgane Kuehni, Natalie Benelli, Antonin Zurbuchen, Spartaco Greppi, Peter Streckeisen
  |  06. September 2019
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • Arbeitslosenversicherung
  • Invalidenversicherung
  • Krankenversicherung
  • Sozialhilfe
  • Unfallversicherung

Der Zugang zu einer Vergütung und zu sozialen Rechten ist nicht bei allen Arbeitstätigkeiten, die im weiteren Sinne als produktiv gelten, gewährleistet. Ein Paradebeispiel dafür ist die Hausarbeit: Sie wird weder vergütet, noch verleiht sie Anspruch auf soziale Rechte – mit Ausnahme der 1997 eingeführten Erziehungsgutschriften in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Vergütung und soziale Rechte variieren je nach rechtlicher Einordnung der geleisteten Arbeit, ihrer sozialen Anerkennung und dem sozialen oder administrativen Status derjenigen, die die Tätigkeit ausüben. Dies gilt für produktive Tätigkeiten auf dem ersten wie auch auf dem sogenannten ergänzenden Arbeitsmarkt. Die Bedingungen der Vergütung und der sozia­len Absicherung auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt sind heute weitgehend unbekannt.

In diesem Artikel machen wir eine erste Auslegeordnung zum Thema. Wir analysieren die Problematik anhand von sieben Beschäftigungsformen in den Kantonen Basel-Stadt, Tessin und Waadt: Es sind dies der Arbeitsversuch der Invalidenversicherung (IVG), das Programm zur vorübergehenden Beschäftigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz; AVIG), die beruflichen Integrations­massnahmen der Sozialhilfe, die Beschäftigungsprogramme für Asylbewerberinnen und Asylbewerber mit Ausweis N und F (Asylgesetz; AsylG), der zivile Ersatzdienst (Zivildienst­gesetz; ZDG), die gemeinnützige Arbeit als Vollzugsform des Strafrechts (Strafgesetzbuch; StGB) und die Institutionen zur Förderung der Eingliederung invalider Personen (IFEG). Unsere Ausführungen sind in drei Teile gegliedert. Zunächst definieren wir, was genau unter ergänzendem Arbeitsmarkt zu verstehen ist. Anschliessend werden wir die Themen «Vergütung» und «soziale Sicherung bei Krankheit, Unfall, Mutter­schaft und Alter» in den sieben ausgewählten Beschäftigungsformen beleuchten. Beispielsweise wird die Anzahl Tage eruiert, an denen eine arbeitslose Person im Rahmen eines Programms zur vorübergehenden Beschäf­tigung Anspruch auf ein Krankentaggeld hat, oder wie eine Person mit einer F-­Bewilligung (vorläufig Aufgenommene), die in einem Beschäftigungsprogramm arbeitet, bei Unfall versichert ist. In einem dritten Teil befassen wir uns mit allgemeinen Überlegungen zur sozialen Sicherung auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt.

Ergänzender Arbeitsmarkt: Definition Derzeit gibt es keine genaue Definition des Begriffs ergänzender Arbeitsmarkt. Auch die Forschung ist sich nicht einig, welche Beschäftigungsformen dazugehören. Der in der Deutschschweiz verbreitete Begriff wurde Mitte der 1990er-Jahre im Zürcher Kontext geprägt und bezieht sich auf Aktivitäten (mit oder ohne Vergütung) zur beruflichen und sozialen Integration von Arbeitslosen (Pedergnana und Leibundgut 1997). Der in der Schweiz in wissenschaftlichen und politischen Dokumenten verwendete Begriff zweiter oder sekundärer Arbeitsmarkt ist verwirrend, da er sich in der Wirtschaftstheorie auf die am wenigsten qualifizierten und am wenigsten geschützten Arbeitsplätze auf dem normalen Arbeitsmarkt bezieht (Doeringer und Piore 1971). In der Schweiz gehen die ersten Arbeiten zum sekundären Arbeitsmarkt auf die AVIG-Revision und die Umsetzung von aktiven Arbeitsmarktmassnahmen Mitte der 1990er-Jahre zurück (obwohl die berufliche Integration als Ziel bereits im Gesetz von 1982 verankert war). In einer explorativen Studie stellten Baur et al. (1998, S. 13) fest, dass die Aktivitäten auf dem sekundären Arbeitsmarkt nicht dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgten. Ihr Hauptzweck sei somit nicht die Deckung einer Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, sondern insbesondere die berufliche In­­tegration und die Gemein­nützigkeit. Weiter führt das Autorenteam auf, dass es sich um einen subven­tionierten Markt handle, der aufgrund von sozial- und beschäftigungspolitischen Zielen mit befristeten Arbeitsplätzen ausgestattet sei, die nicht mit denen des ersten Arbeitsmarktes konkurrieren. Dazu zählen gemäss Studie Beschäftigungsmassnahmen für Arbeitslose und Zivildienstleistende. Zivilschutz, Gefängnisarbeit und ­produktive Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hingegen, seien als Teil des ergänzenden Arbeitsmarktes anzusehen, der breiter als der zweite Arbeitsmarkt gefasst sei.

In einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie (SNF 100017_172860: «Die Rolle des Staates bei der Segmentierung des Arbeitsmarkts: Qualitative Studie des Er­gänzenden Arbeitsmarktes in den Kantonen Basel-Stadt, Tessin und Waadt»), die am 1. Januar 2018 lanciert wurde, schlagen wir vor, den Begriff ergänzender Arbeitsmarkt beizu­behalten, diesen aber genauer zu definieren. Unseres Erachtens werden auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt nicht Arbeitskraft gegen Lohn getauscht (wie auf dem ersten Arbeitsmarkt), sondern Arbeitsplätze für Menschen mit administrativem Sonderstatus bereitgestellt: Menschen mit Behinderungen, Zivildienstleistende, verurteilte Personen, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger oder Migrantinnen und Migranten mit N- oder F-Bewilli­gung. Wir verstehen den ergänzenden Arbeitsmarkt als Dienstleistungsmarkt zwischen Staat und Dienstleistungserbringern (Verbänden, Stiftungen, Privatunternehmen, öffentlicher Verwaltung), die eine staatliche Nachfrage nach Arbeitsplätzen befriedigen. Auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt erteilt der Staat die Genehmigung zur Ausübung eines Produktionsverhältnisses zwischen Dienstleistern und Personen mit administrativem Sonderstatus. Die Bedingungen für den Sonderstatus werden vom Staat festgelegt. Konkret müssen präzise, vordefinierte Kriterien erfüllt sein, um anerkannt zu werden als:

  • «invalide Person» oder «Zivildienstleistende/Zivildienstleistender» beziehungsweise
  • «geschützte Werkstätte IFEG» oder «Einsatzbetrieb ZDG».

In diesem dualen System haben Dienstleister das Recht, Arbeitskräfte mit administrativem Sonderstatus zu bestimmten Bedingungen, die von denjenigen des Obliga­tionenrechts (OR) und des Arbeitsrechts abweichen, zu beschäftigen. Ein solches staatlich autorisiertes Recht zur Aufnahme eines Produktionsverhältnisses hat auf dem ersten Arbeitsmarkt, auf dem zwei rechtlich unabhängige Parteien eine vertragliche Bindung eingehen, keine Entsprechung. Diese relative Rechtssymmetrie zwischen Arbeitgeber und arbeitnehmender Person existiert auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt nicht, da die Vertragsbedingungen des Produktionsverhältnisses meist im Voraus durch den administrativen Status der Arbeitnehmenden bestimmt werden (vgl. Grafik G1).

Diese Definition hat den Vorteil, dass sie den ergänzenden Arbeitsmarkt nicht auf bestimmte Beschäftigungsformen reduziert, die sich je nach Kontext ändern können. Der Fokus liegt vielmehr auf einem Dreiecksverhältnis zwischen dem Staat, einem Dienstleister und einer Person mit administrativem Sonder­status, die durch diesen Austausch zur Arbeitnehmerin beziehungsweise zum Arbeitnehmer wird. Eine erwerbslose Person (definiert als nichterwerbs­tätig, sofort verfügbar und aktiv auf Stellensuche) wird demnach zu einer nichterwerbs­tätigen arbeitenden Person, sobald sie einem Programm zur vorübergehenden Beschäftigung zugewiesen wird.

Vergütung und soziale Sicherung auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt Fakt ist, dass die auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt tätigen Personen in dem Sinne arbeiten, als sie Waren und Dienstleistungen in einem Subordinationsverhältnis produzieren. Nun stellt sich die Frage, ob und inwieweit sie gegen die wirtschaftlichen ­Folgen bestimmter sozialer Risiken versichert sind. Die soziale Sicherung umfasst alle Sozialleistungen, auf die Personen bei Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit infolge Ein­tretens eines Risikos Anspruch haben. In der Schweiz sind diese Risiken hauptsächlich durch die Sozialversicherungen und durch ergänzend und subsidiär hinzukommende bedarfs­abhängige Sozialleistungen abgedeckt. Die Beiträge/­Prämien einiger Versicherungen sind für die gesamte Be­völkerung obligatorisch: AHV, IV, EO, KVG. Andere sind mit einer Erwerbstätigkeit verbunden, insbesondere ALV, UV, BVG.

Die sieben für diesen Artikel untersuchten Beschäftigungsformen fallen unter verschiedene Rechtstexte, die eine erhebliche Vertragsheterogenität zur Folge haben: AVIG, IVG, AsylG, IFEG, ZDG, StGB, kantonale Sozial­hilfegesetze. Es liegt uns fern, den ersten und den ergänzenden Arbeitsmarkt gegeneinander auszuspielen. Vielmehr sollen ihre Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede bezüglich der Arbeitsbedingungen und der sozialen Sicherung aufgezeigt werden. Die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen abgeschlossenen Verträge beinhalten viele Elemente des OR und sind die einzigen, die einen Lohn vorsehen, der von wenigen Rappen bis hin zu rund zehn Franken pro Arbeitsstunde reicht. Diese Verträge sind somit am ehesten mit solchen des ersten Arbeitsmarktes vergleichbar. In der Arbeitslosen-, der Invaliden- und der Erwerbsersatz­versicherung für Zivildienstleistende erhalten versicherte Personen ein Taggeld, dessen Höhe sich nach ihrer bisherigen Erwerbssituation richtet (nach dem Prinzip des versicherten Einkommens). In den Unterstützungssystemen (Sozialhilfe, AsylG) löst die Teilnahme an einer beruflichen Massnahme in der Regel einen Zuschlag oder eine finanzielle Entschädigung zusätzlich zu einer Grundpauschale aus. Die Höhe dieser Pauschale ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich, wobei aber nie die Art der ausgeübten Tätigkeit ausschlaggebend ist (weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie unter www.marchecomplementaire.ch/de/ > Ergebnisse > Ergänzender Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht). Die einzige Beschäftigungsform, die gar keine Entschädigung kennt, ist die gemeinnützige Arbeit.

Die verschiedenen Vergütungsformen für die ­produktive Tätigkeit (Lohn, Taggelder, Pauschalen, Zu­lagen) sind sozial und rechtlich nicht gleichwertig und verleihen dadurch einen sehr unterschiedlichen Zugang zu sozialen Rechten. Im Rahmen der Studie wurde die soziale Deckung in den sieben Beschäftigungsformen des ergänzenden Arbeitsmarkts nach den vier Risiken Krankheit, Unfall, Mutterschaft und Alter aufgeschlüsselt und in einer Tabelle zusammengestellt (www.marchecomplementaire.ch/de/ > Ergebnisse > Ergänzender Arbeitsmarkt und Soziale Deckung). Dieser Artikel beleuchtet einige Elemente, die für die vier untersuchten Risiken in den sieben Beschäftigungsformen relevant sind.

Krankheit Auf dem ersten Arbeitsmarkt sichert insbesondere Art. 324a OR einen begrenzten Lohnanspruch im Krankheitsfall: Die Dauer der Lohnzahlung durch den Arbeitgeber richtet sich nach den Dienstjahren der Person (Berner Skala). Der Arbeitgeber kann jedoch eine Krankentaggeldversicherung abschliessen. In diesem Fall sind Arbeitnehmende bis zu 730 Tage für mindestens 80 Prozent des Gehalts versichert. Prämien und Kostenbeteiligung für medizinische Leistungen gehen jedoch einzig zulasten der Person (Zuschüsse vorbehalten).

Arbeitslose Personen, die an einem Programm zur vorübergehenden Beschäftigung (AVIG) teilnehmen, haben Anspruch auf:

  • ein Taggeld gleicher Höhe wie eine Person, die nicht an einem solchen Programm teilnimmt, obwohl sie arbeitslos ist,
  • die gleiche Anzahl Krankentaggelder wie eine arbeitslose Person ohne Beschäftigungsprogramm, das heisst 44 Taggelder während der Taggeldrahmenfrist an maximal 30 aufeinanderfolgenden Tagen. Einige Kantone, insbesondere der Kanton Waadt, haben eine obligatorische Kranken­taggeldversicherung eingerichtet, die eine Verlängerung der im AVIG vorgesehenen 44 Taggelder garantiert. Das Waadtländer Arbeitsgesetz (LEmp, RSV 822.11) sieht Krankentaggelder im Umfang des Anspruchs auf ­Arbeitslosenentschädigung vor (60 Tage für einen Anspruch von 90 Tagen, 130 Tage für einen Anspruch von 200 Tagen usw.).

Die Invalidenrente von Personen, die an einem Arbeitsversuch teilnehmen, ist dieselbe, ob diese nun erwerbstätig oder krankgeschrieben sind.

In den Unterstützungssystemen eröffnen nur effektiv geleistete Arbeitstage Anspruch auf eine Zulage. Bei den Sozialhilfe- und den AsylG-Programmen führt die Arbeitsunfähigkeit bei Krankheit daher de facto zur Streichung der Zulage, der bei der Teilnahme an einer Massnahme vorgesehen ist.

Der Kanton übernimmt die Prämien für Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, Asylbewerberinnen und -bewerber mit N- oder F-Ausweis und bedarfsabhängig auch für andere Personen. Die Kostenbeteiligung (hauptsächlich Franchise und Selbstbehalt) ist je nach Beschäftigungsform sehr unterschiedlich. Zivildienstleistende zahlen nichts, da ihre Krankenkassenprämie sistiert wird, wenn sie 60 Tage Dienst leisten. In dieser Zeit sind sie durch die Militärver­sicherung gedeckt. Die übrigen Personen bezahlen die Franchise (bis zu 2500 Franken im Jahr) und den Selbstbehalt (10 % bis zu einem Betrag von maximal 700 Franken im Jahr).

Schliesslich ist anzumerken, dass die Situation von verurteilten Personen, die ihre Strafe in Form gemein­nütziger Arbeit ausführen, nicht analysiert werden kann, da ihr sonstiger Status nicht bekannt ist: So kann die Person entweder erwerbstätig, selbstständigerwerbend, arbeitslos oder sozial­hilfeabhängig sein. Der Vollzug einer Strafe in Form von gemeinnütziger Arbeit eröffnet beim Eintritt eines Risikos (Krankheit, Schwangerschaft, Tod oder Pensionierung) keinerlei Anspruch.

Unfall Bei Eintritt eines Berufsunfalls auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt ist die soziale Absicherung ebenfalls sehr heterogen. Arbeitslose in vorübergehender Beschäftigung sind bei der Suva versichert, ebenso wie viele Arbeitskräfte des ersten Arbeitsmarktes. Bei Zivildienstleistenden ist die Versicherungsdeckung umfassender als bei der Unfallversicherung, da die Militärversicherung Leistungen erbringt, die von keiner anderen Versicherung vorgesehen sind. Während der persönliche Geltungsbereich des UVG auch arbeitslose Personen umfasst (Art. 1a Abs. 1 Bst. b UVG), klärte das Bundesgericht mit Urteil vom 4. Dezember 2018 (BGE 144 V 411) die Situation von Personen, die an einem Arbeitsversuch gemäss IVG teilnehmen: Das oberste Gericht hielt fest, dass diese Personen gegen Unfälle im Sinne des UVG versichert sind. Für Personen, die an einer beruflichen Integrationsmassnahme im Sinne der Sozialhilfe teilnehmen, war die Unfalldeckung bereits mit einem Urteil von 2017 geklärt worden (BGer 8C_302/2017 vom 18. August 2017). Um zu entscheiden, welche Versicherung den Unfall von Sozialhilfebeziehenden übernehmen muss, die an einer Massnahme teilnehmen, hatte das Bundesgericht folgende Fakten nicht in Erwägung gezogen:

  • die Vergütung, beziehungsweise deren Fehlen,
  • die Dauer der Anstellung,
  • das Vorliegen eines schriftlichen Vertrags beziehungs­weise dessen Fehlen.

Hingegen berücksichtigte es das Ziel der Massnahme, ­nämlich den Erwerb einer Ausbildung beziehungsweise Lehre. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Ver­sicherungsdeckung über die Unfallversicherung des «Arbeitgebers» zu laufen hat, bei dem die Massnahme erfolgt.

Offen bleibt weiterhin die Frage der Unfalldeckung für Asylbewerberinnen und -bewerber mit einer N- oder F-­Bewilligung, wenn sie an einem Beschäftigungsprogramm ­teilnehmen.

Mutterschaft Jede Frau sollte während der Schwangerschaft Anspruch auf die gleichen medizinischen Leistungen unter den im KVG vorgesehenen Bedingungen haben. Nach Art. 64 Abs. 7 Bst. b KVG darf der Versicherer für Leistungen ab der 13. Schwangerschaftswoche, während der Niederkunft und bis acht Wochen danach keine Kostenbeteiligung (Franchise/Selbstbehalt) erheben. Das gilt auch dann, wenn die medizinische Leistung nicht direkt mit der Mutterschaft zusammenhängt. Spezifische Leistungen bei Mutterschaft sind vor der 13. Schwangerschaftswoche von der Kostenbeteiligung ausgenommen (Art. 64 Abs. 7 Bst. a KVG). Diese Regel findet auch auf schwangere Frauen auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt Anwendung, unabhängig davon, ob die Betroffene eine Integrationsmassnahme der Sozialhilfe absolviert, in einer geschützten Werkstätte arbeitet oder an einem Arbeitsversuch im Sinne des IVG teilnimmt.

Nach der Geburt schliesst die Mutterschaftsentschädigung, wie in Art. 16g Abs. 1 Bst. a und b EOG vorgesehen, den Bezug von Taggeldern der Arbeitslosen- und der Invalidenversicherung aus. Besteht Anspruch auf ein Taggeld im Sinne des AVIG oder des IVG, steht der Frau ein bezahlter Mutterschaftsurlaub von 98 Tagen (Art. 16d EOG) in mindestens dem gleichen Entschädigungsumfang wie vor der Geburt zu (bei Taggeldbezug gemäss AVIG oder IVG).

Wenn die Frau zum Zeitpunkt der Geburt in einer ge­schützten Werkstätte arbeitet, beträgt der Mutterschafts­urlaub ebenfalls 98 Tage. Abhängig von dem zwischen ihr und dem Arbeitgeber abgeschlossenen individuellen Arbeitsvertrag können weitere Ansprüche bestehen. Sozial­hilfeempfängerinnen haben keinen Anspruch auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Dieser ist Arbeitnehme­rinnen, Selbstständigerwerbenden und Bezügerinnen eines Taggeldes (Lohnersatz) vorbehalten; der Zuschlag für die Teilnahme an einer beruflichen Integrationsmassnahme gilt nicht als Taggeld.

Alter Die Höhe einer Altersrente im Sinne des AHVG wird sowohl durch die Anzahl der Beitragsjahre (Rentenskala) als auch durch die Höhe des Jahreslohnes während der Beitragsjahre bestimmt. Da die Entschädigungen auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt niedriger sind als die Löhne auf dem ersten Arbeitsmarkt, fallen die Altersrenten der Betroffenen in der Regel tiefer aus.

Unterschiede gibt es auch innerhalb des ergänzenden Arbeitsmarktes selbst. Während die Vergütungen in geschützten Werkstätten oft sehr tief sind, führen sie dennoch zu höheren Rentenansprüchen als bei Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern. Von den sieben untersuchten Beschäftigungsformen ist die gemeinnützige Arbeit (StGB) die einzige, die keinen Anspruch auf eine Altersrente begründet.

Je länger sich eine Person ausserhalb des ersten Arbeits­marktes befindet, desto grösser sind die negativen Auswirkungen auf ihre Rente in der 1. Säule.

In die 2. Säule (BVG) zahlen nur Personen mit einem Jahres­einkommen von mindestens 21 330 Franken (Eintrittschwelle 2019) und einem Arbeitsvertrag von länger als drei Monaten ein: Nach Erreichen des 64. beziehungsweise 65. Altersjahres können sie bei der Pensionskasse dann einen Rentenanspruch geltend machen. Viele auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt tätige Personen sind von diesen Leistungen ausgeschlossen, mit Ausnahme von Zivildienstleistenden und bestimmten Personen, die in produktiven Werkstätten im Sinne des IFEG tätig sind und keine volle IV-Rente erhalten (Art. 1j BVV 2). Für arbeitslose Personen sieht das Gesetz vor, dass auf dem Taggeld nur die Beiträge zur Deckung der Risiken Hinter­lassenenvorsorge und Invalidität erhoben werden; das Risiko Alter ist jedoch nicht abgedeckt. Gemäss Art. 22a Abs. 3 AVIG «[…] zieht die Kasse zur Sicherung des Vorsorge­schutzes bei Tod und Invalidität des Versicherten den Beitragsanteil der beruflichen Vorsorge von der Entschädigung ab […]». Im Gegensatz zur Erwerbstätigkeit auf dem normalen Arbeitsmarkt trägt eine produktive Tätigkeit auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt somit nicht zur Verbesserung der ­sozialen Sicherung im Alter bei.

Allgemeine Überlegungen zur sozialen ­Sicherung auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt Die grossen Unterschiede in der Vergütung und der ­sozialen Sicherung auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt zeigen, dass die entsprechende gesetzliche Normierung zur all­gemeinen Fragmentierung der Arbeitswelt beiträgt. Dies steht im Widerspruch zu einer der ursprünglichen Auf­gaben des Sozialstaats, nämlich der Förderung einer gewissen Vereinheitlichung oder Standardisierung der vertraglichen Beziehungen für Arbeitnehmende. Der ergänzende Arbeits­markt trägt somit zur Erosion der Erwerbsgesellschaft bei (Castel 2000), die dazu führt, dass die auf Lohnarbeit basierenden sozialen Rechte, die in einem langen Prozess sozialer Kämpfe und politischer Verhandlungen ausgehandelt wurden, wieder in Frage gestellt werden. Dass der ergänzende Arbeitsmarkt wächst, ist aber auch das Ergebnis der Transformation staatlicher Einrichtungen, die in der Sozialpolitik zunehmend die Rolle der «Marktmacher» (Ball 2007, S. 38) einnehmen.

Bei einer Arbeitsunfähigkeit auf dem ergänzenden Arbeitsmarkt wird den unterstützten Personen die Zulage schlicht und einfach gestrichen. Auch hier sehen wir einen Widerspruch zu einer der traditionellen Aufgaben des Sozial­staates. Historisch gesehen zielte die Einrichtung der sozialen Sicherung darauf ab, Risiken zu vergesellschaften und unsicheren, prekären Arbeitsverhältnissen ein Ende zu ­setzen. Dies hat den Wert der Erwerbsarbeit und insbesondere ihre Bedeutung für die soziale Sicherung gestärkt. Heute sind gewisse Bevölkerungsgruppen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, was zu erheblichen Einschränkungen bei ihrem sozialen Schutz führt. So wird beispielsweise die Sozialhilfe, die ursprünglich als punktuelle finanzielle Unterstützung konzipiert war, heute zunehmend über einen längeren Zeitraum bezogen (Schorderet 2016). Und obschon die Existenz des ergänzenden Arbeitsmarkts von der zentralen Bedeutung der Arbeit in der Schweiz zeugt, führen gerade die dort geltenden vertraglichen Bestimmungen zu unsicheren, prekären Arbeitsverhältnissen – ausgerechnet in einem Bereich, wo eine staatlich verantwortete soziale Sicherung am nötigsten wäre.

  • Literatur
  • Schorderet, Pierre-Antoine (2016): L’assurance-indemnité journalière en cas de maladie: une lacune dans le système de protection sociale? Dossier Artias: www.artias.ch > Dossier du mois > Août 2016.
  • Ball, Stephen (2007): Education plc: Understanding private sector participation in public sector education, London: Routledge.
  • Carigiet, Erwin; Mäder, Ueli; Bonvin, Jean-Michel (2003): Wörterbuch der Sozialpolitik, Zürich: Rotpunktverlag.
  • Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz.
  • Baur, Rita; Duvinage, Frédéric; Albert, Nicole; van de Vijfeijken, Leonie (1998): Zweiter Arbeitsmarkt in der Schweiz; Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Paul Haupt.
  • Pedergnana, Maurice; Leibundgut, Urs (1997): Der ergänzende Arbeitsmarkt. Positionen und Perspektiven des Sozialdepartements der Stadt Zürich. Überarbeitete und ergänzte Version, Zürich: Sozialdepartement der Stadt Zürich.
  • Doeringer, Peter B.; Piore, Michael J. (1971): Internal labor markets and manpower analysis, Lexington, Mass: Heath Lexington Books.
Fürsprecherin, Professorin Fachhochschule Westschweiz
[javascript protected email address]
Dr. sc. soc., Professorin Fachhochschule Westschweiz
[javascript protected email address]
Dr. sc. soc., Forschungsbeauftragte, Fachhoch­schule Westschweiz
[javascript protected email address]
Msc, Forschungsbeauftragter Fachhochschule Westschweiz
[javascript protected email address]
Dr. sc. soc., Professor, Fachhochschule Südschweiz SUPSI.
[javascript protected email address]
Dozent, Departement Soziale Arbeit, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
[javascript protected email address]