Digitaler Regress der AHV und IV

Die Bearbeitung der Regresse von AHV und IV soll digitalisiert werden. Einige hängige Gesetzesrevisionen sehen den grenzüberschreitenden elektronischen Datenaustausch sowie die Vereinheitlichung der IT-Struktur in der 1. Säule vor. Mit der Digitalisierung der AHV-/IV-Regresse sollen die Abläufe transparent, ­effizient und medienbruchfrei gestaltet werden.
Peter Beck
  |  09. September 2019
    Recht und Politik
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • Invalidenversicherung

Die Regressbearbeitung der AHV und der IV erfolgt momentan noch weitgehend papiergestützt und wenig digita­lisiert. Der hauptsächliche Datenträger ist das Papierdossier. Formulare und Briefe werden per Post oder per Mailsystem unter den am Regress beteiligten Stellen ausgetauscht und Zahlungen bzw. Verbuchungen erfolgen im Einzel­fall von Hand. Statistischen Erhebungen zum Regress der AHV und IV zufolge werden pro Jahr zwischen den Regress­beteiligten rund 11 000 Dossiers (auf Papier oder CD), rund 80 000 Formulare sowie Briefe (per E-Mail oder per Post) und rund 4500 Leonardo-Dateien (mehrheitlich per E-Mail) aus­getauscht (Leonardo ist eine Java-basierte Software zur Berechnung von Personenschäden der Leonardo Productions AG, Eglisau). Die genannten Zahlen sind im Rahmen des Projekts «Datenaustausch Regress» erhoben worden. Das ­Projekt steht unter der Federführung des Vereins eAHV/IV mit Ver­tretungen des Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV), der Suva und des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV).

Dieses beeindruckende Mengengerüst liefert einen Grund dafür, dass die Regressakteure der AHV/IV und der Suva sich in den letzten Jahren intensiv mit Digitalisierungs­fragen auseinandergesetzt haben. Auch wenn das Regress­geschäft allgemein stark geschrumpft ist, müssen Inves­titionen getätigt werden, um die Abläufe medienbruchfrei, transparent und effizient gestalten zu können. So sind unter den Akteuren v. a. fristengesteuerte und verbind­liche Geschäftsprozesse zu schaffen. Dies soll die Einzelfall­bearbeitung generell verkürzen und früh Klarheit ­darüber schaffen, ob eine Regressforderung zu verfolgen ist. Medien­brüche sind Fehler­quellen und sehr aufwändig in der ­Bearbeitung, wenn die relevanten Daten in verschiedenen Applikationen oder auf Paper vorhanden sind und oftmals von Hand in eine andere Applikation übertragen ­werden müssen.

Die Bestrebungen zur Automatisierung der Regress­bearbeitung von AHV und IV hängen auch mit verschie­denen Gesetzesrevisionen in der 1. Säule zusammen. So ­sollen im Rahmen der sich derzeit im Parlament befind­lichen 1. ATSG-Revision die gesetzlichen Grundlagen zum grenzüberschreitenden elektronischen Austausch von Sozial­versicherungsdaten im europäischen Raum geschaffen werden. Im Rahmen des Gesetzgebungsprojektes «Modernisierung der Aufsicht» wird der Bundesrat zudem gesetzliche Grund­lagen für eine harmonisierte IT-Strategie und Unternehmens­architektur in der 1. Säule vorschlagen.

In der Folge werden einige Schlaglichter auf die Digitali­sierungsbemühungen und -vorhaben des Regresses AHV/IV geworfen.

e-Regress und Leonardo Begonnen hat die Automa­tisierung im Regress der AHV und IV mit der schweizweiten Einführung von Leonardo im Jahre 2002. Mit eRegress FaVe (kurz für Fallverwaltung, im Folgenden eRegress genannt) ging das BSV einen Schritt ­weiter und wollte mit neu zu ­bauenden oder einzukaufenden modernen IT-­Applikationen eine einheitliche elektronische Fallverwaltung mit integrierter Regressberechnung schaffen. Das BSV realisierte die Komponente Fallverwaltung in Zusammenarbeit mit dem BIT. Die Rechenkomponente wurde dem Programm ­Leonardo entnommen und in die Fall­verwaltung integriert. Mit dem so zusammengesetzten eRegress konnte das BSV be­stehende Applikationen wie das DDV (Datei-Dossier­ver­waltung) sowie die für Regressforderungsberechnungen gebrauchte Natural-/Adabas-­Anwendung des BIT und einen im BSV laufenden Rechner für die Kapitalisierung von Hilfsmitteln per 2008 ablösen.

Bis 2013 wurde eRegress in den Regressdiensten Bern, Basel, Zürich und Waadt eingeführt. Dadurch konnte das entwicklungs- und systemkritische DDV bei allen Usern ab­geschaltet werden. Zudem erhielt der Finanzdienst der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) einen Zugriff auf eRegress, was die An- und Abmeldungen (Papierdokumente) obsolet wurden liess. Die Projektziele wurden allerdings nur zur Hälfte erreicht. Die Einführung von eRegress in den zuständigen Diensten von St. Gallen, Nidwalden, Tessin und Wallis wurde ausgesetzt. Es hatte sich herausgestellt, dass die Anwendung u. a. nicht optimal die Aktenführung und -aufbewahrung ermöglichte, störungs­anfällige Zusatzkomponenten aufwies und nicht sehr performant war.

Das Softwareprodukt Leonardo wurde in den letzten sechzehn Jahren vom Hersteller funktionell stark weiter­entwickelt. Nebst diversen neuen Tools für die Schaden­berechnung (u. a. Hilfsrechner für Rentenschaden, Haus­halt­schaden und Versorgungsschaden) wurde insbesondere die Berechnung von Sozialversicherungsleistungen der Zweige AHV/IV, Unfallversicherung (UV) und der beruflichen Vor­sorge (BV) entwickelt und integriert. Zudem wurde die Dar­­stellung der Direkt- und Regressansprüche verbessert und das Programm wurde immer wieder auch an die veränderten recht­lichen und technischen Rahmenbedingungen angepasst. Als bedeutende Innovation ist auch die taggenaue Kapitali­sierung einer Rentenleistung (Kapitalisierung = Umrechnung einer regelmässigen Renten­leistung auf den gegen­wärtigen Kapital­wert, d. h. Diskontierung von in der Zukunft liegenden Zinserträgen auf den Berechnungszeitpunkt) hervor­zu­heben. Diese war in einem ersten Schritt von den Mathema­tikern des BSV vorbereitet und schliesslich von den Aktuaren der Suva, der Versicherungsgesellschaft Zürich und der Versicherung AXA geprüft worden.

Die auch für den Regress positiven Entwicklungen von Leonardo führten dazu, dass die Benutzer die Regress­forderungen mit der Zeit immer mehr mit Leonardo als mit ­eRegress des BSV berechneten. Ende 2017 deaktivierte das BIT denn auch auf Geheiss des BSV den Rechenteil und entfernte ihn aus eRegress.

Leonardo ist heute weit verbreitet und gilt als Standard für die Berechnung von Personenschäden. Die Software wird von Anwälten, Gerichten, der Suva, dem BSV und von sämt­lichen privaten Versicherungsunternehmen im Bereich der Haftpflichtversicherung und des UVG eingesetzt. Sie bildet immer häufiger die Grundlage für prozessuale Vergleichs­verhandlungen und Urteile. Das Bundesgericht hat unlängst Leonardo als eine Software auf wissenschaftlicher Grund­lage eingestuft. Viele Akteure, v. a. die Suva und das BSV, erfassen und dokumentieren gemeinsame Fälle mit Leonardo, da die Software nicht nur die Berechnung, sondern auch die Fallverwaltung unterstützt. Die Suva/Militärversicherung (MV) macht gemäss Art. 14 Abs. 2 ATSV in den gemeinsamen Fällen mit AHV/IV auch deren Rückgriffsforderungen geltend. Einzelne Privatversicherer berechnen mit der Software ihre Rückstellungen und setzen sie für das Controlling ein.

Schnittstelle Vertigo Bei der Suva und dem BSV ­existieren Schnittstellen zu eigenen Applikationen, die es ermöglichen, die Leistungsdaten automatisiert in die Regresswertberechnung von Leonardo zu übernehmen. Das hat die Suva mit ihren zentralisierten IT-Systemen bereits 2004 realisiert. Das BSV hingegen kann mit der Schnitt­stelle Vertigo erst seit 2017 die relevanten Regressdaten aus dem Data Ware House (DWH) der ZAS extrahieren. Dabei musste die ZAS zuerst das DWH, das v. a. statistischen Zwecken dient, für die Regressan­fragen nutzbar machen. Das DWH der ZAS besteht aus drei ­Applikationen:

  • Sumex II enthält die Rechnungsdaten, die den ver­schiedenen IV-Massnahmen zugrunde liegen. Diese sind integrativer, medizinischer, beruflicher und schulischer Art. Hinzukommen die Assistenzbeiträge, Abklärungs­massnahmen und die Hilfsmittel (auch für die AHV). Die ZAS implementierte ein Tool, das es ermöglicht, die von der AHV/IV zugunsten einer versicherten Person be­zahlten Rechnungsbeträge pro Leistungsart und für ­eine definierte Zeitperiode auszuweisen und zusammen­zu­zählen.
  • Analog programmierte die ZAS ein Tool, das die Renten­daten aus dem Rentenregister, die für die Anwender in ­«TeleZas3» einsehbar sind, in der vom Regress benötigten Art aufbereitet.
  • Die Taggelder, die die IV während einer beruflichen Mass­nahme bezahlt, können ebenfalls regresskonform aus der Datensammlung sämtlicher Taggeldleistungen extrahiert ­werden.

Der Suchlauf der Regressdaten im DWH wird aus ­Leonardo mittels Eingabe der Sozialversicherungsnummer der versicherten Person gestartet und via Sedex (Secure Data Exchange: eine Dienstleistung des Bundes­amts für Statistik, BFS) zur ZAS transferiert. Die aus dem DHW extrahierten Regressdaten werden ebenfalls via Sedex zum BSV übermittelt und automatisch in die richtigen ­Rubriken von Leonardo eingelesen.

Leider müssen die Regressdaten der AHV und IV bei einigen Regressdiensten immer noch von Hand aus den ­Registern und Verfügungen in Leonardo eingetragen ­werden. Das BSV beabsichtigt daher in diesem Jahr, sämtliche Regressdienste mit der Schnittstelle Vertigo auszurüsten.

Datenaustausch Regress mit sedex Das Tool des BFS ist für den sicheren asynchronen Datenaustausch zwischen den Beteiligten konzipiert. In spezifischen Fällen kann auch ein synchroner Datenaustausch erfolgen. Sedex fungiert als Postbote und ist vergleichbar mit einem eingeschriebenen Brief. Das Registerharmonisierungsgesetz (SR 431.02) bildet die gesetzliche Grundlage für seinen Betrieb.

Nach einer entsprechenden Voranalyse aus dem Jahre 2016 wurde Mitte 2017 das Projekt Datenaustausch Regress (DA-Regress) mit dem Ziel gestartet, den Austausch von ­Dossiers und Einzeldokumenten im Regressverfahren der AHV und IV zwischen den Beteiligten (Ausgleichskassen, IV-Stellen, Regressdiensten, BSV, ZAS, Suva und Privat­assekuranz) elektronisch via Sedex abzuwickeln. Dies geschah, nachdem der Datenaustausch zwischen der IV und der UV im Rahmen des Leistungsverfahrens erfolgreich mit Sedex ­installiert werden konnte. Bis Ende April 2018 erstellte das Projektteam des DA-Regress eine Meldungsspezifikation, die den Datenaustausch im Detail beschreibt. Weil die Projektbeteiligten zeitlich unterschiedlich am Sedex-Datenaustausch mitwirken können, wird das Projekt nun in zwei Teilprojekten «IV – Suva» und «Weitere Parteien» weiter­bearbeitet. Aktuell werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, um die für die Bearbeitung der gemeinsamen Fälle zwischen IV-Stellen und Suva notwendigen Regress­dokumente mittels Sedex austauschen zu können.

Anfang 2018 wurde das Projekt auf die ­Übermittlung von Leonardo-Dateien mittels Sedex aus­gedehnt. Dabei soll die Leonardo-Datei nicht in eine strukturierte Sedex-Meldung konvertiert, sondern als Anhang einer Sedex-Meldung mitgeschickt werden. Aktuell überprüft die Privatassekuranz die Anbindung einzelner Gesellschaften an Sedex und hegt dabei zusammen mit der Suva und dem BSV den Wunsch, möglichst bald Leonardo-Dateien austauschen zu können.

E-Regress als Regressfallverwaltungs­system Das vom BSV zur Ablösung des Altsystems gestartete Projekt «E-Regress neu» befindet sich zurzeit in der WTO-Aus­schreibung. Das geplante System wird voraussichtlich erst ab Ende 2021 in der Lage sein, das alte voll­ständig zu ersetzen.

Das künftige System unterstützt eine elektronische, ­möglichst papierlose Fallbearbeitung. Korrespondenz oder ­Dossiers in Papierform werden eingescannt. Der Daten­aus­tausch zwischen den am Regress beteiligten Stellen und mit externen Partnern wie Haftpflichtversicherungen erfolgt optimalerweise elektronisch und möglichst standardisiert mittels Sedex. Der Datenaustausch ist nachvollziehbar und wird im Sinne guter Governance protokolliert. Durch Export- und Importfunktionalität geschieht der Austausch medienbruchfrei. Regressdienste, BSV, IV-Stellen und Ausgleichskassen wickeln den Regress durch die Harmoni­sie­rung der Prozesse und der Berechnungsart einheitlich ab. Die Berechnung der Regressforderungen erfolgt ausschliess­lich mit Leonardo und Vertigo. Es wird darauf verzichtet, die Berechnung selbst zu implementieren. Dies führt zu ­Synergien, Kosteneffizienz und einer guten Basis für den Austausch der Ergebnisse. Das System wird mittels Techno­logien entwickelt, die dem neusten technischen Stand entsprechen und mit vertretbarem Aufwand eine Weiterentwicklung und Migration erlauben. Das System ermöglicht einen fachlichen Austausch zwischen den Regressdiensten und dem BSV.

Weil das Regressgeschäft viele verschiedene Akteure mit unterschiedlichen IT-Systemen umfasst, kann die Digitalisierung nur in Schritten erfolgen. Eine einheitliche elektronische Regressforderungsberechnung hat sich inzwischen durchgesetzt. Auch der elektronische Datenaustausch wird bald möglich sein, sodass dem papierlosen Arbeiten in ab­­sehbarer Zeit nichts mehr im Wege steht.

  • Literatur
  • Beck, Peter (2019): «Digitalisierung im Regress der AHV und IV», in Have 1/2019, 97 ff.
  • Pittavini, Silvia (2018): «Digitalisierung des Austauschs von Sozial­versicherungsdaten», in CHSS 3/2018, S. 67 ff.
  • Beck, Peter (2017): «Modernisierung der Aufsicht», in: Kieser, Ueli; ­Lendfers, Miriam (Hg.), JaSo 2017, S. 253 ff., 270.
  • SR 431.02 Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die Harmonisierung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Personenregister (Register­harmonisierungsgesetz, RHG).
Fürsprecher, Leiter Regress AHV/IV, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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