Die IV: Stief- und Vorzeigekind des Sozialstaats

Die Einführung der IV 1960 war ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Sozialstaats. Ihre Geschichte war von politischen Kämpfen geprägt und zeugt davon, wie Politik und Verwaltung auf neue soziale Herausforderungen reagierten. Sie ist zugleich ein Spiegel des Umgangs der Gesellschaft mit gesundheitlich beeinträchtigten und oft auch sozial benachteiligten Menschen.
Urs Germann
  |  04. September 2020
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Die IV hat eine lange und bewegte Vorgeschichte. Geburtsbedingte und durch Krankheit oder Unfall erworbene Beeinträchtigungen gehörten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu den existenziellen Daseinsrisiken. In der politischen Krise am Ende des Ersten Weltkriegs und auf Druck der Arbeiterbewegung schlug der Bundesrat 1919 erstmals die Einführung einer «Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung» vor. 1924 erfolgte allerdings bereits der Rückzieher. Der AHV wurde nun Priorität eingeräumt und die IV sollte erst später realisiert werden. Der neue Artikel 34quater der Bundesverfassung bestätigte 1925 diese Reihenfolge. Wahlweise wurde die Zurücksetzung der IV mit der schwierigen Wirtschaftslage, der ungesicherten Finanzierung der Sozialwerke oder mit Befürchtungen vor falschen Anreizen und Missbräuchen begründet. Sozusagen als Trostpflaster begann der Bund in den 1920er-Jahren, Subventionen an Behindertenverbände auszurichten.

Die Verzögerungstaktik wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und der Einführung der AHV 1948. Als Land, das keine Kriegsversehrten zu versorgen hatte, schob die Schweiz die sozialpolitischen Anliegen einer kleinen Minderheit weiterhin auf die lange Bank – man schätzte die Zahl der «Gebrechlichen» damals auf 40 000 bis 90 000 Menschen. 1951 fand der Invalidenverband (heute Procap) nicht einmal unter den Behindertenverbänden eine Mehrheit für eine IV. Pro Infirmis, der grösste Dachverband, lehnte eine staatliche Versicherung aus Kostengründen ab und wollte stattdessen die private Behindertenhilfe ausbauen. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre erhöhten zwei Volksinitiativen der Partei der Arbeit und der Sozialdemokratischen Partei sowie mehrere parlamentarische Vorstösse den Druck. Die Unterstützung reichte nun bis ins bürgerliche Lager hinein. Wirtschaftsvertreter sahen in der raschen Realisierung der IV sogar eine willkommene Gelegenheit, um den weiteren Ausbau der AHV zu verzögern. 1959 peitschte das Parlament die IV-Vorlage schliesslich im Eilverfahren durch. Am 1. Januar 1960 trat das Gesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft.

Eingliederung und Existenzsicherung Die IV wurde von Anfang an als ein Sozialwerk konzipiert, das unterschiedliche Leistungsarten kombinierte. Neben Renten gehörten Massnahmen zur beruflichen und medizinischen Eingliederung, Pflegebeiträge, Hilfsmittel oder Subventionen an Behinderteneinrichtungen und -verbände zum Leistungskatalog. Damit bot die IV eine umfassende Antwort auf die Frage, wie die Schweiz der Nachkriegszeit mit Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen umzugehen gedachte. Behinderung wurde dabei in erster Linie als eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit verstanden, die es mittels sozialstaatlicher Massnahmen zu kompensieren galt. Finanziert wurde die IV, wie die gut zehn Jahre zuvor eingeführte AHV, über Lohnbeiträge und Zuschüsse der öffentlichen Hand. Beide Sozialversicherungen waren zudem bis 2011 über einen gemeinsamen Ausgleichsfonds miteinander verbunden.

Die Akzeptanz des neuen Sozialwerks war zu einem guten Teil dem vielseitig anschlussfähigen Paradigma «Eingliederung vor Rente» geschuldet. In Zeiten der Hochkonjunktur mit einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt hofften die Befürworter der IV, die Arbeitskraft von Menschen mit Behinderungen für die Wirtschaft zu nutzen und die Kosten der Versicherung tief zu halten. Bereits in den 1950er-Jahren war «Eingliederung» zu einem behindertenpolitischen Zauberwort avanciert. Angeregt durch die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter in die Volkswirtschaft (SAEB), hatten wichtige Arbeitgeber begonnen, sich auf freiwilliger Basis für die Arbeitsintegration von Menschen mit Behinderungen zu engagieren. Die IV übernahm diese Ansätze bei der Entwicklung ihrer beruflichen Massnahmen, zu denen neben der Berufsberatung und Unterstützung bei der Stellensuche auch Arbeitstrainings oder die individuelle Anpassung von Arbeitsplätzen gehörten. Der Eingliederungsboom hatte auch eine mentale Komponente. Er bekräftigte anerkannte Leistungsideale und die Bedeutung der Erwerbstätigkeit für die soziale Zugehörigkeit. Ebenfalls bestärkt wurde die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der Eingliederungsappell richtete sich in erster Linie an Männer mit gesundheitlichen Einschränkungen. Sie galten als nützliche und günstige «Arbeitskraftreserve». Jungen Männern mit Behinderungen sollte im Idealfall eine Berufslehre und eine entsprechend qualifizierte Tätigkeit ermöglicht werden. Junge Frauen mit Behinderungen hingegen wurden, sofern sie überhaupt angesprochen wurden, häufig in ungelernte und schlecht bezahlte Tätigkeiten als Hausangestellte oder Hilfsarbeiterinnen gedrängt.

Anrecht auf eine Rente hatte gemäss dem IVG nur, wer dauerhaft (teil-)erwerbsunfähig war. Diesbezüglich schloss die IV eine wichtige Lücke. Vor 1960 war nur ein kleiner Teil der Bevölkerung gegen die Folgen eines gesundheitsbedingten Erwerbsausfalls versichert. Nur wenige hatten Anspruch auf Leistungen der Unfall- oder Militärversicherung oder einer Pensionskasse. Gar nicht versichert waren Hausfrauen, Nichterwerbstätige oder Personen mit einem Geburtsgebrechen. Sofern sie nicht von der Familie unterstützt wurden, waren sie von der Sozialhilfe abhängig. Wie die AHV war die IV eine Volksversicherung, die die ganze Bevölkerung einschloss und auch Leistungen an Versicherte ausrichtete, die keine Beiträge geleistet hatten. Die Verknüpfung der beiden Sozialwerke hatte im Gegenzug zur Folge, dass auch die IV keine existenzsichernden Renten ausrichtete. Eine ordentliche einfache IV-Rente betrug 1960 zwischen 75 und 155 Franken im Monat (bei einem Arbeiterlohn von etwa 650 Franken im Monat). Korrekturen zugunsten der IV-Rentner und -Rentnerinnen, die meist über keine weiteren Einkommensquellen verfügten, hatte die Parlamentsmehrheit abgelehnt. Erst die Einführung der Ergänzungsleistungen (1966) und die Aufstockung des Rentenniveaus durch die 8. AHV-Revision (1972) löste viele IV-Bezügerinnen und -Bezüger aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Zu einem weiteren substanziellen Ausbau kam es 1988 mit der Einführung der Viertelrente.

Erhalt von Sonderstrukturen Eine weitere Herausforderung für die IV stellte die private Behindertenhilfe dar. Dazu gehörten Stiftungen und Vereine, die Schulen und Heime für Menschen mit Behinderungen betrieben. Diese Einrichtungen befanden sich oft in desolaten finanziellen Verhältnissen. Um diese Einrichtungen zu stützen, sah das IVG Bau- und Betriebsbeiträge an Wohnheime, geschützte Werkstätten und Sonderschulen vor. Daraus entstand mit der Zeit ein komplizierter Finanzierungsmix, an dem sich auch Kantone und Private beteiligten. Die genannten Bau- und Betriebsbeiträge der IV stiegen von nominal 27 Mio. (1965) über 364 Mio. (1980) auf 1815 Mio. Franken (2005). Dies entspricht inflationsbereinigt einer Verzwanzigfachung. Mit dem Neuen Finanzausgleich ging die Finanzierung von Wohnheimen, Werkstätten und Sonderschulen für Menschen mit Behinderungen 2008 schliesslich ganz auf die Kantone über.

Die IV-Beiträge flossen zunächst in bauliche Verbesserungen, später ermöglichten sie die Umsetzung neuer sozial- und heilpädagogischer Konzepte und die Professionalisierung des Heimpersonals. Die massive Finanzspritze führte langfristig zu einer Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und zu einem Ausbau der medizinischen Rehabilitation. Ab den 1980er-Jahren profitierten vermehrt auch geschützte Werkstätten für die (Dauer-)Beschäftigung leistungseingeschränkter Personen und Wohnheime, die Langzeitpatientinnen und -patienten aus der Psychiatrie aufnahmen. Trotzdem blieben die Effekte zwiespältig: Der expandierende Sozialstaat zementierte nämlich zugleich separative Strukturen und liess die Grundsatzfrage, wie Menschen mit Behinderungen Teil der Gesellschaft sein können, gar nicht erst aufkommen. Stattdessen entstand, legitimiert durch Fürsorge und Förderung, eine Parallelwelt von Sonderinstitutionen, die die Lebensperspektiven der betroffenen Personen einschneidend prägten. Historisch gesehen, trägt die IV paradoxerweise eine Mitverantwortung dafür, dass sich die Schweiz heute noch schwertut mit der schulischen Integration und dem Aufbau wohnortsnaher Betreuungs- und Unterstützungsangebote.

Veraltete Begrifflichkeit?

Der Begriff «Invalidenversicherung» wird heute vielfach als veraltet und diskriminierend empfunden. «Invalid» bedeutet wörtlich wertlos. Auf Französisch waren bereits im 17. Jahrhundert arbeitsunfähige und damit unterstützungswürdige Arme als pauvres invalides bezeichnet worden. Zur Zeit der Einführung der IV erschien der Invaliditäts-Begriff allerdings durchaus zeitgemäss. Waren Menschen mit Beeinträchtigungen vor 1960 noch als «Anormale», «Mindererwerbsfähige» oder «Gebrechliche» bezeichnet worden, strahlte die IV-Terminologie demgegenüber den Anschein von versicherungsmedizinischer Sachlichkeit aus. Der Sammelbegriff «Behinderung» setzte sich erst langsam durch. Heute spricht man eher von «Menschen mit Behinderungen» oder, im Kontext der Pädagogik, von «Kindern mit besonderen Bedürfnissen». Im Januar 2020 beauftragte der Ständerat den Bundesrat zu prüfen, wie das IVG sprachlich modernisiert werden kann (Postulat 20.3002, Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats).

Die IV in der Krise Die IV war ein Kind des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit. Mit der Rezession der 1970er-Jahre verschärften sich jedoch die Rahmenbedingungen. Die Automatisierung der Produktion, das Wachstum des Dienstleistungssektors und die Globalisierung der Unternehmen führten in den Folgejahrzehnten dazu, dass niederschwellige Arbeitsplätze verloren gingen und die Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt stiegen. Die IV wurde in dieser Zeit vermehrt zum Auffangbecken für Arbeitnehmende mit Leistungseinschränkungen, deren Stellen dem Rationalisierungsdruck zum Opfer gefallen waren. Gleichzeitig dämpfte die schwache Konjunktur die Einnahmeentwicklung. Finanzielle Schwierigkeiten machten sich bereits in den 1970er-Jahren bemerkbar, auch wenn die IV-Rechnung vorerst noch eine rote Null aufwies. Erst in den 1990er-Jahren öffnete sich die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen stärker. 2005 betrug das Defizit 1,7 Mrd. Franken, was damals 15 Prozent der jährlichen Ausgaben entsprach. Die Verschuldung der IV gegenüber der AHV stieg bis 2010 auf 15 Mrd. Franken an.

Mit den Schwierigkeiten stieg auch der Reformdruck. Politik und Verwaltung setzten zunächst auf organisatorische Massnahmen. Dazu gehörten Optimierungen der medizinischen und beruflichen Abklärungsverfahren sowie die Konzentration der Durchführungsverantwortung bei den neu geschaffenen kantonalen IV-Stellen im Rahmen der 3. IV-Revision (1991). Die Erhöhung der Versichertenbeiträge von 1,4 auf 1,5 Prozent (1995) und zweimalige Finanztransfers von der Erwerbsersatzordnung im Umfang von 3,7 Mrd. Franken (1998, 2003) sollten das Defizit vorerst auffangen. Ein grösserer Leistungsabbau scheiterte am Veto der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die 1999 eine erste 4. IV-Revision wegen der vorgesehenen Abschaffung der Viertelrenten ablehnten. Die unbestrittenen Teile der Reform, beispielsweise die Einrichtung regionaler ärztlicher Dienste (RAD), welche die medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs beurteilen, wurden später noch einmal aufgenommen und 2004 als 4. IV-Revision in Kraft gesetzt.

Nach der Jahrtausendwende spitzte sich die Reformdiskussion zu. Politik und Verwaltung erklärten nun den Anstieg des Rentenbestands zum Hauptproblem. Tatsächlich nahm die Zahl der IV-Rentner und -Rentnerinnen zwischen 1997 und 2005 von 173 000 auf 249 000 zu, wobei der Zuwachs von Versicherten mit psychischen Krankheiten oder Schmerzerkrankungen besonders augenfällig war. Das latente Misstrauen, dem die IV und ihre Bezüger und Bezügerinnen seit längerem ausgesetzt waren, gipfelte in den Nullerjahren in einer parteipolitisch angeheizten Debatte über angebliche Missbräuche durch «Scheininvalide» und Rentnerinnen und Rentner im Ausland. In diesem Kontext trat 2008 die 5. IV-Revision in Kraft. Sie hatte zum Ziel, die Zunahme der Renten durch eine forcierte Eingliederungspolitik zu stoppen. Der Grundsatz «Eingliederung vor Rente», der bereits bei der Einführung der IV Pate gestanden hatte, wurde nun im Sinn des neoliberalen Aktivierungsparadigmas ausgelegt. Der Erhalt der Erwerbsfähigkeit galt dabei vor allem als eine Frage der individuellen Motivation und Willensanstrengung. Dementsprechend rückten die Eigenverantwortung und Mitwirkungspflicht der Versicherten ins Zentrum. Alternative Wege zur Sanierung der IV wie eine nochmalige Erhöhung der Lohnbeiträge oder die Einführung einer Beschäftigungsquote für Menschen mit Behinderungen hatten politisch dagegen keine Chancen.

Die 5. IV-Revision erweiterte das Instrumentarium der IV um niederschwellige Früherfassungs-, Frühinterventions- und Integrationsmassnahmen. Hinzu kamen gezielte Anreize für Arbeitgeber zur (Weiter-)Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Ebenfalls verstärkt wurde die Zusammenarbeit zwischen IV-Stellen, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe, indem 2010 die Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) eingerichtet wurde. Die folgenden Reformen setzten den eingeschlagenen Kurs fort. Die 6. IV-Revision (2012) legte einen Schwerpunkt auf die eingliederungsorientierte Rentenrevision. Damit sollten die Logik «Einmal Rente, immer Rente» durchbrochen und IV-Rentnerinnen und -Rentner mit Erwerbspotenzial wieder in den Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. Die neuste Vorlage zur Weiterentwicklung der IV (17.022), die das Parlament im Juni 2020 verabschiedet hat, legt den Fokus gezielt auf die Integration von Jugendlichen und Menschen mit psychischen Problemen in die Berufsbildung und ins Arbeitsleben.

Konsolidierung und neue Herausforderungen Nach 2010 zeichnete sich eine gewisse Konsolidierung ab. Die Zahl der IV-Rentner und -Rentnerinnen sank bis 2018 auf 218 000 Personen. Parallel dazu wurde der Finanzhaushalt der IV durch Sparmassnahmen im Rahmen der 5. IV-Revision (u. a. Aufhebung der laufenden Zusatzrenten, Abschaffung Karrierezuschlag, Erhöhung der minimalen Beitragsdauer, die zum Bezug einer ordentlichen Rente berechtigt, auf drei Jahre) entlastet. Eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer (2011–2017) reduzierte die Verschuldung der IV gegenüber der AHV. Dennoch bleiben das Leistungsniveau und die Finanzierung der IV politisch umstritten, wie die jüngsten Diskussionen um eine Reduktion der Kinderrenten im Rahmen der Weiterentwicklung der IV im Parlament zeigten.

Es ist unverkennbar, dass der Rentenzugang in den letzten Jahren stark eingeschränkt wurde. Im Gegenzug nahm die Zahl der Massnahmen zur beruflichen Eingliederung markant zu. Mangels zuverlässiger Daten ist es allerdings schwierig zu sagen, wie nachhaltig die forcierte Eingliederungspolitik im Endeffekt ist. Umstritten ist etwa, inwieweit die restriktivere Leistungsvergabe der IV zu Verlagerungen in die Sozialhilfe führte. Offensichtlich geworden ist hingegen, dass zahlreiche Faktoren die Erwerbstätigkeit von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen beeinflussen. Eine Evaluation der Massnahmen der 6. IV-Revision zeigt zum Beispiel, dass Rentenrevisionen bezüglich des Verwaltungsaufwands und der Aufnahmebereitschaft des Arbeitsmarkts, aber auch bezüglich der Zumutbarkeit für die betroffenen Personen an Grenzen stossen. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass Arbeitsintegration nur gelingt, wenn alle Beteiligten – Sozialwerke, Arbeitgeber und Versicherte – am gleichen Strick ziehen und die Lasten fair verteilt werden.

Herausforderungen stellen sich heute auch von einer anderen Seite. Während die IV als klassisches Sozialwerk einem kompensatorischen Modus verpflichtet ist, stellen das Behindertengleichstellungsgesetz (2004) und die UNO-Behindertenrechtskonvention (2014) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf soziale Teilhabe ins Zentrum. Dazu gehört der chancengleiche Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die UNO-Konvention verlangt, dass die Vertragsstaaten über die Existenzsicherung hinaus die Selbstbestimmung fördern. Dies bedingt auch Anpassungen an den sozialen Sicherungssystemen. Ein Vorläufer ist in dieser Hinsicht der IV-Assistenzbeitrag, der 2009 versuchsweise und 2012 definitiv eingeführt wurde. Er ermöglicht es Personen mit eigenem Haushalt, die benötigte Unterstützung im Rahmen eines Assistenzbudgets selbst zu organisieren. Selbstständige Wohnformen sollen gefördert und Heimeintritte vermieden werden. Die Zukunft wird zeigen, inwiefern mit solchen Ansätzen auch die Inklusion in der Arbeitswelt gefördert werden kann. Eine gute Abstimmung mit der Behindertenhilfe, für die seit 2008 die Kantone zuständig sind, wird dabei entscheidend sein. Zu klären bleibt auch die Frage, welche Rolle die vom Bund unterstützten Verbände bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention spielen werden.

Fazit Die IV war im Lauf der Zeit Stief- und Vorzeigekind des schweizerischen Sozialstaats zugleich. Auf der einen Seite verdeutlichen die späte Realisierung sowie die zähen Kämpfe um die Finanzierung und die Ausrichtung existenzsichernder Leistungen die marginale Stellung der IV als ein Sozialwerk, auf das nur eine Bevölkerungsminderheit angewiesen ist. Hinzu kommt, dass sich Politik und Verwaltung, was den Umgang mit IV-Bezügerinnen und -Bezügern angeht, nie ganz vom institutionalisierten Misstrauen lösen konnten, wie es im Bereich der Sozialhilfe seit jeher verbreitet ist. Auf der anderen Seite ist die Geschichte der IV Zeugnis einer beispiellosen sozialen Innovation. Die IV war seit der Einführung immer auch eine Gestalterin des Sozialen, die stärker als andere Sozialversicherungszweige die Lebenssituation ihrer Leistungsbezüger und -bezügerinnen prägte – wenn auch teilweise in einer Weise, die heute kritisch betrachtet werden muss. Die Abgabe von Hilfsmitteln, die Förderung der Eingliederung, die Finanzierung von Therapien, Sonderschulen, Wohnheimen und geschützten Arbeitsplätzen sowie in jüngster Zeit die Förderung des selbstständigen Wohnens setzten wichtige Zeichen. Dabei hatte die IV oft mit Faktoren zu kämpfen, die ausserhalb ihres Einflussbereiches standen – oder bewusst ihrem Einfluss entzogen waren. Dazu gehören die Schwankungen des Arbeitsmarkts und der Wandel der Arbeitswelt. Indem sie immer wieder mit neuen Lösungen auf solche Entwicklungen reagierte, prägte die IV in den letzten 60 Jahren den Umgang der schweizerischen Gesellschaft mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen massgeblich mit – und wird ihn unter veränderten Bedingungen auch in Zukunft weiter prägen.

  • Quellen- und Literaturhinweise
  • Website Geschichte der Sozialen Sicherheit
  • Canonica, Alan (2020): Beeinträchtigte Arbeitskraft. Konventionen der beruflichen Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitgeber (1945–2008), Zürich: Chronos.
  • Bundesamt für Sozialversicherungen (2018): IV-Statistik 2018 (Online-Quelle): www.bsv.admin.ch > Sozialversicherungen > Invalidenversicherung > Statistik (letzter Zugriff 20. Juni 2020).
  • Fracheboud, Virginie (2015): L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse. Tensions au Cœur de l’état social, Lausanne: Antipodes.
  • Guggisberg, Jürg et al. (2015): Evaluation der Eingliederung und der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 18/15: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
  • Germann, Urs (2008): «‹Eingliederung vor Rente›. Behindertenpolitische Weichenstellungen und die Einführung der schweizerischen Invaliden­versicherung», in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58, S. 178–197.
  • Bundesamt für Sozialversicherungen (2006): IV-Statistik 2006, Bern: BSV.
  • Zentrale Ausgleichsstelle (1980; 1965): Ausgleichsfonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung, Ausgleichsfonds der Erwerbsersatzordnung, Rechnung der Invalidenversicherung, Genf: Zentrale Ausgleichsstelle.
Dr. phil., Historiker und freier Mitarbeiter, 
Institut für Medizingeschichte, Universität Bern.
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