Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung im internationalen Kontext

Stephanie Koch, Katrin Jentzsch
  |  08. Oktober 2021
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • International
  • Invalidenversicherung

Die internationale Koordinierung der sozialen Sicherheit verlangt eine umfassende Prüfung der formellen Voraussetzungen von Leistungsansprüchen bei grenzüberschreitenden IV-Fällen. Das BSV stellt den IV-Stellen und weiteren interessierten Kreisen einen Leitfaden und eine Checkliste als Arbeitshilfe zur Verfügung.

Auf einen Blick

  • Bei grenzüberschreitenden IV-Fällen müssen die formellen Voraussetzungen von Leistungsansprüchen umfassend geprüft werden.
  • Die grundlegenden formellen Voraussetzungen für die Beurteilung von Ansprüchen gegenüber der 1. Säule im internationalen Kontext sind im AHVG geregelt. 
  • Die Prüfung des Leistungsanspruchs umfasst eine formelle und eine materielle Prüfung.
  • Bei der formellen Prüfung werden die Versicherungsunterstellung und die leistungsspezifischen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch geprüft. Massgebliche Kriterien sind u.a. die Staatsangehörigkeit, die Versicherungsunterstellung (Wohnsitz und/oder Erwerbsort), die anwendbaren Rechtsvorschriften (nationale Gesetze, Staatsverträge), und das Alter einer Person.
  • Bei der materiellen Prüfung wird der Eintritt des Versicherungsfalls festgesetzt. Dabei kann eine einmal eingetretene gesundheitliche Beeinträchtigung verschiedene Leistungen und damit mehrere Versicherungsfälle auslösen.
  • Das BSV stellt IV-Stellen und weiteren interessierten Kreisen Arbeitshilfen zur Verfügung, die durch den komplexen Abklärungsprozess führen.

Im Zuge der Globalisierung hat die internationale Mobilität von Arbeitnehmenden zugenommen. Immer mehr Personen arbeiten nacheinander oder gleichzeitig in verschiedenen Ländern und unterstehen somit verschiedenen Systemen der sozialen Sicherheit. Die Schweiz hat ein weit ausgebautes Netz an Sozialversicherungsabkommen, welche die soziale Sicherheit mit anderen Staaten, besonders intensiv mit den EU- und EFTA-Staaten, koordinieren.

So haben sich viele Schweizer Staatsangehörige im Ausland niedergelassen (Ende 2020: 776300; Auslandschweizerstatistik) und ausländische Staatsangehörige leben (ständige Wohnbevölkerung Ende 2020: 2209100; STATPOP) und arbeiten (durchschnittlicher Jahreswert 2020: 1640000; Erwerbstätigenstatistik) vorübergehend oder dauerhaft in der Schweiz. Grenzgänger und Grenzgängerinnen sind eine besondere, quantitativ bedeutende Kategorie bei der grenz­überschreitenden Koordinierung der sozialen Sicherheit (Ende 2020: 342880; Grenzgängerstatistik).

Seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens mit der EU (FZA; SR 0.142.112.681) haben diese grenzüberschreitenden Konstellationen Bedeutung gewonnen. Sie können bei Eintritt eines Leistungsfalls zu komplexen Fragestellungen bezüglich der Leistungsansprüche im Rahmen der Koordinierung der doch sehr unterschiedlich ausgestalteten nationalen Sozialversicherungssysteme führen.

Für die Koordinierung der sozialen Sicherheit zwischen der Schweiz und der EU sind Anhang II des Freizügigkeitsabkommens („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“) bzw. die EU-Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 (SR 0.831.109.268.1) und 987/2009 (SR 0.831.109.268.11) anwendbar. Im Verhältnis zur EFTA sind das EFTA-Übereinkommen (SR 0.632.31) bzw. die vorgenannten EU-Verordnungen massgebend. Neben diesen mehrseitigen Abkommen bestehen mit einzelnen Staaten zweiseitige Sozialversicherungsabkommen.

Für die anerkannten Flüchtlinge mit der Staatsangehörigkeit eines Nichtvertragsstaats, bei denen es sich um eine besondere Kategorie von Versicherten handelt, wird der Anspruch auf Leistungen der IV im Bundesbeschluss über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen in der AHV und IV (FlüB [SR 831.131.11]) geregelt.

Prüfung des Leistungsanspruchs

Der Prüfung der versicherungsmässigen Voraussetzungen für die Beurteilung von Ansprüchen gegenüber den Sozialversicherungen der 1. Säule bei internationalem Sachverhalt kommt grosse Bedeutung zu. Die grundlegenden formellen Voraussetzungen sind im AHVG (SR 831.10) geregelt. Die nachfolgenden Ausführungen zum Prüfprozess beziehen sich jedoch ausschliesslich auf die Prüfung von Leistungsansprüchen in der IV.

Die Abklärungen für den Leistungsanspruch in der IV bei grenzüberschreitenden Fallkonstellationen sind komplex. Bei jedem Antrag sind zuerst die Versicherungsunterstellung und die leistungsspezifischen formellen Voraussetzungen zu prüfen, bevor Abklärungen in Bezug auf die materiellen Bedingungen erfolgen.

Formelle Prüfung

In formeller Hinsicht ist zu klären, ob im jeweiligen Fall überhaupt schweizerisches Recht anwendbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn jemand in der IV versichert ist oder irgendwann schweizerische Versicherungs- oder Beitragszeiten geleistet hat.

Bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt ist in einem ersten Schritt abzuklären, ob die betreffende Person in den Anwendungsbereich eines Sozialversicherungsabkommens fällt oder ob sie die Staatsangehörigkeit eines Nichtvertragsstaats besitzt. In Abhängigkeit davon muss sie neben den Grundvoraussetzungen, die für die einzelnen Leistungen gemäss IVG (SR 831.20) zu erfüllen sind, allenfalls zusätzliche Bedingungen erfüllen.

Materielle Prüfung

Im Rahmen der sich anschliessenden materiellen Anspruchsprüfung ist abzuklären, wann der Versicherungsfall, d.h. die Invalidität, eingetreten ist. Erst wenn diese Frage geklärt ist, kann abschliessend beurteilt werden, ob die versicherungsmässigen Voraussetzungen für die jeweils beanspruchte Leistung (z.B. Eingliederungsmassnahme oder Rente) tatsächlich erfüllt sind.

Beim BSV eingehende Anfragen zeigen immer wieder auf, wie komplex die unterschiedlichen Fallkonstellationen sind, die sich in der Praxis der IV-Stellen ergeben. Im Folgenden werden die wichtigsten Elemente der formellen und materiellen Prüfung des Leistungsanspruchs in Bezug auf die Versicherungsunterstellung und die versicherungsmässigen Voraussetzungen erläutert.

Versicherungsunterstellung

Grundsätzlich ist jede Person, die in der Schweiz Wohnsitz hat und/oder eine Erwerbstätigkeit ausübt, obligatorisch in der AHV/IV versichert (Art. 1a Abs. 1 Bst. a und b AHVG in Verbindung mit Art. 1b IVG). Somit sind in der Schweiz lebende Erwerbstätige und Nichterwerbstätige (z.B. Kinder, Studenten, vorzeitig Pensionierte) versichert. Ebenso können Personen mit Wohnsitz im Ausland in der AHV/IV versichert sein, z.B. wenn sie eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausüben (Grenzgänger) oder aufgrund besonderer rechtlicher Regelungen Anspruch auf Leistungen haben (z.B. Kinder von Entsandten oder von Eltern, die in der freiwilligen Versicherung der AHV/IV versichert sind gemäss Art. 9 Abs. 2 IVG).

Wer seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, ohne weiterhin eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz auszuüben, ist grundsätzlich nicht mehr obligatorisch in der AHV/IV versichert. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Versicherung in der AHV/IV allerdings dennoch lückenlos weitergeführt werden, z.B. im Falle einer Entsendung durch den Schweizer Arbeitgeber ins Ausland oder im Rahmen der sogenannten Weiterführungs- bzw. Beitrittsversicherung gemäss Art. 1a Abs. 3 und 4 AHVG. So kann eine Bankangestellte, die von ihrem Arbeitgeber aus der Schweiz in eine ausländische Filiale in einen Nichtvertragsstaat entsandt wird, unter gewissen Bedingungen die Weiterführung der Versicherung beantragen (Art. 1a Abs. 3 AHVG). Nichterwerbstätige, die ihre versicherten Ehegatten bzw. ihre Ehegattin ins Ausland begleiten, können der obligatorischen Versicherung beitreten (Art. 1a Abs. 4 AHVG). Überdies haben sowohl Staatsangehörige der Schweiz als auch der EU- und EFTA-Mitgliedstaaten unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit, die Versicherung in der AHV/IV freiwillig weiterzuführen, sofern sie ihren Wohnsitz ausserhalb der Schweiz, der EU oder der EFTA begründen (Art. 2 AHVG).

Die Versicherungsunterstellung in der IV ist immer persönlich. Jede Person muss deshalb die dafür notwendigen Bedingungen selbst erfüllen. So ist z.B. ein Kind nicht mit den Eltern versichert und jedes Familienmitglied muss den Beitritt zur freiwilligen Versicherung persönlich erklären.

Einige IV-Leistungen, wie etwa die Eingliederungsmassnahmen, setzen voraus, dass die betreffende Person während des Leistungsbezugs versichert ist. Für einen Anspruch auf eine IV-Rente hingegen reicht es aus, wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt vor Eintritt des Versicherungsfalls obligatorisch oder freiwillig in der IV versichert war und die Mindestbeitragsdauer von drei Jahren erfüllt hat. Auch während des Rentenbezugs muss eine Person nicht versichert sein.

Bei der Prüfung eines Leistungsanspruchs ist folglich als Erstes zu klären, ob eine Person in der IV versichert ist oder ob diese, im Falle einer Rentenprüfung, vor dem Eintritt des Versicherungsfalls drei Jahre versichert war und Beiträge entrichtet hat.

Versicherungsmässige Voraussetzungen

Neben der Versicherungsunterstellung sind die versicherungsmässigen Voraussetzungen als weitere formelle Bedingungen zu prüfen. Sie sind für die verschiedenen Leistungen der IV jeweils unterschiedlich. Massgebliche Kriterien sind die Staatsangehörigkeit, das Alter und allenfalls anwendbare Rechtsvorschriften eines Sozialversicherungsabkommens.

Je nachdem, ob es sich um Staatsangehörige der Schweiz, eines EU/EFTA–Staats, eines Vertragsstaats oder eines Nichtvertragsstaats handelt, sind unterschiedliche Voraussetzungen zu prüfen. Für anerkannte Flüchtlinge mit der Staatsangehörigkeit eines Nichtvertragsstaats sind die besonderen Bestimmungen des FlüB massgebend.

Eingliederungsmassnahmen

Wie bereits erwähnt, muss eine Person während der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen in der IV versichert sein (Art. 9 Abs. 1bis IVG). Diese Grundvoraussetzung verlangt somit die Unterstellung unter die schweizerische Invalidenversicherung während der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen. In Abhängigkeit von der Staatsangehörigkeit sind allenfalls noch weitere Voraussetzungen zu erfüllen, um Eingliederungsmassnahmen der IV beziehen zu können.

  • Schweizerinnen und Schweizer müssen nur die Grundvoraussetzung der Versicherteneigenschaft im Zeitpunkt des Leistungsbezugs erfüllen. Aufgrund des in der EU-Verordnung (EG) 883/2004 statuierten Gleichbehandlungsgebots können jedoch auch EU/EFTA-Staatsangehörige Eingliederungsmassnahmen beziehen, sobald sie aufgrund des Wohnsitzes oder einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz in der IV versichert sind. Dies unabhängig davon, ob die gesundheitliche Beeinträchtigung bereits vor der Wohnsitz- oder Erwerbsaufnahme eingetreten ist (IV-Rundschreiben Nr. 261 vom 7. Juli 2008).
  • Die von einem zweiseitigen Abkommen erfassten ausländischen Staatsangehörigen müssen zusätzlich zur Versicherungsunterstellung weitere Voraussetzungen für die Begründung des Leistungsanspruchs erfüllen. Je nach Abkommen muss vor Eintritt des Versicherungsfalls zusätzlich zur Grundvoraussetzung entweder ein Beitragsjahr in der IV vorliegen oder die Person muss der Beitragspflicht unterstellt sein: Ein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen kann nur entstehen, wenn der Versicherungsfall nach Erfüllung dieser Voraussetzungen eintritt.
  • Ähnliches gilt für anerkannte Flüchtlinge, deren Anspruch im FlüB geregelt ist. Diese müssen für die Begründung eines Leistungsanspruchs unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalls der Beitragspflicht unterstellt gewesen sein. Auch Kinder aus diesem Personenkreis müssen zusätzliche Bedingungen erfüllen (vgl. Art. 2 FlüB bzw. «Kurzcheck versicherungsmässige Voraussetzungen»).
  • Auch ausländische Staatsangehörige, die nicht durch ein Sozialversicherungsabkommen oder den FlüB erfasst werden, d.  alle Nichtvertragsstaatsangehörigen, müssen zusätzlich zur Grundvoraussetzung der Versicherungsunterstellung bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So müssen sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet haben oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben (Art. 6 Abs. 2 IVG).
  • Besondere Voraussetzungen für den Leistungsanspruch bestehen auch für minderjährige Nichtvertragsstaatsangehörige. Diese müssen die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 IVG, oder wenn dies nicht der Fall ist, die Voraussetzungen nach Art. 9 Abs. 3 IVG erfüllen (etwa bei Eintritt des Versicherungsfalles bereits ein Jahr in der Schweiz gelebt haben) und kumulativ muss ein Elternteil bestimmte Voraussetzungen erfüllen (etwa bei Eintritt des Versicherungsfalles ein Beitragsjahr erfüllt haben).

Bezüglich der konkreten Eingliederungsmassnahme muss eine Person also nicht in jedem Fall bereits bei Eintritt des Versicherungsfalls in der IV versichert sein. Hingegen muss dies während der Dauer ihrer Durchführung zwingend der Fall sein. Damit endet in der Regel bei definitiver Ausreise aus der Schweiz bzw. bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit einer Person mit Wohnsitz im Ausland (z. B. Grenzgänger) die Versicherung in der IV und laufende Eingliederungsmassnahmen müssen eingestellt werden.

Eine besondere Regelung ist in diesem Zusammenhang die sog. Nachversicherung für EU- und EFTA-Bürger (Anhang XI Abschnitt Schweiz / Ziff. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Bei gesundheitsbedingter Aufgabe der Erwerbstätigkeit kommt sie unter bestimmten Voraussetzungen für Personen im Geltungsbereich des FZA bzw. des EFTA-Übereinkommens zur Anwendung. Demnach gilt eine Person, die den schweizerischen Rechtsvorschriften über die IV nicht mehr unterliegt, weil sie ihre Erwerbstätigkeit in der Schweiz infolge Unfalls oder Krankheit aufgeben musste, weiterhin für den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen als versichert. Der Nachversicherungsschutz endet unter anderem beim Bezug einer Invalidenrente, bei abgeschlossener erstmaliger Eingliederung oder beim Bezug einer Leistung der Arbeitslosenversicherung des Wohnlandes. Gibt die Person ihre Arbeit in der Schweiz hingegen freiwillig auf, hat sie gemäss dieser Bestimmung keinen Anspruch auf schweizerische Eingliederungsmassnahmen (vgl. «Kreisschreiben über das Verfahren zur Leistungsfestsetzung in der AHV/IV/EL (KSBIL)», Rz.1011).

Versicherungsmässige Voraussetzungen für eine ordentliche Rente

Für einen Anspruch auf eine IV-Rente müssen mindestens drei volle Beitragsjahre vor Eintritt des Versicherungsfalls geleistet worden sein (Art. 36 Abs. 1 IVG). Personen, die in den Geltungsbereich der EU-Koordinierungsverordnung (EG) Nr. 883/2004 oder der zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen fallen, können sich Versicherungszeiten für die Erfüllung der dreijährigen Beitragsdauer anrechnen lassen. Mindestens ein Beitragsjahr muss in der Schweiz geleistet worden sein. Die Versicherungsunterstellung bei Eintritt des Versicherungsfalls bzw. während des Leistungsbezugs ist keine Voraussetzung. Dies im Gegensatz zu den Eingliederungsmassnahmen.

Die dreijährige Mindestbeitragsdauer gilt für alle Personen unabhängig von deren Staatsangehörigkeit und allfällig anwendbaren Sozialversicherungsabkommen. Unterschiede aufgrund der Staatsangehörigkeit bestehen hingegen hinsichtlich der Auszahlung der Rente bei Wohnsitz im Ausland:

Schweizerische und EU-/EFTA-Staatsangehörige erhalten bei Wohnsitz in einem EU-/EFTA-Staat bzw. in der Schweiz IV-Renten uneingeschränkt ausbezahlt.

Bei Wohnsitz ausserhalb der EU/EFTA werden nur Invalidenrenten ab einem IV-Grad von 50 Prozent ausbezahlt. Letzteres gilt auch für Personen, die von zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen erfasst werden, und Flüchtlinge, die in den Anwendungsbereich des FlüB fallen.

Nichtvertragsstaatsangehörige und anerkannte Flüchtlinge erhalten nur eine Rente, wenn sie ihren Wohnsitz in der Schweiz haben und sich hier aufhalten.

Der Eintritt des Versicherungsfalls

Der Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität (Versicherungsfall) ist massgebend für die Beurteilung, ob die versicherungsmässigen Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Leistung der IV erfüllt sind. Der Eintritt des Versicherungsfalls bezieht sich auf die individuelle Leistung und ist demzufolge für jede Leistungsart einzeln festzustellen.

Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Leistungsanspruchs erforderliche Art und Schwere erreicht hat und die jeweilige Leistung der IV somit objektiv erstmals angezeigt ist (Art. 4 Abs. 2 IVG). Der Zeitpunkt der Anmeldung ist folglich nicht massgeblich für das Eintreten des Versicherungsfalls.

Eine einmal eingetretene gesundheitliche Beeinträchtigung kann verschiedene Leistungen und damit mehrere Versicherungsfälle auslösen. Denn je nach Komplexität des Falls können zu unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische medizinische Massnahmen, berufliche Massnahmen, Hilfsmittel oder eine Rente erstmals angezeigt sein.

Eintritt der Invalidität bei Eingliederungmassnahmen

Bezüglich der Eingliederungsmassnahmen ist jemand ab dem Zeitpunkt als invalid zu betrachten, in welchem zum ersten Mal offensichtlich wird, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung die Gewährung einer der entsprechenden gesetzlich vorgesehenen Leistung notwendig macht. Dabei kann es sich z.B. um eine medizinische Massnahme oder um eine berufliche Massnahme handeln.

Invaliditätsfall Eingliederungsmassnahme: erstmalige Berufliche Ausbildung (EBA)

Der Invaliditätsfall für eine erstmalige berufliche Ausbildung nach Art. 16 IVG tritt dann ein, wenn der versicherten Person infolge der invalidisierenden gesundheitlichen Beeinträchtigung für die Absolvierung der beruflichen Ausbildung erstmals in erheblichem Umfang zusätzliche Kosten entstehen (BGE I 659/06 vom 22.2.2007) und der Gesundheitszustand solche Massnahmen effektiv zulässt (Urteil des Bundesgerichts 9C_756/2013 vom 6.6.2014).

Eintritt der Invalidität für eine ordentliche Rente

Bezüglich des Rentenanspruchs tritt der Versicherungsfall dann ein, wenn die versicherte Person während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig war und sich eine Erwerbsunfähigkeit in mindestens gleicher Höhe anschliesst (Art. 28 Abs. 1 IVG). Der Versicherungsfall Rente kann frühestens am Tag nach Vollendung des 18. Altersjahres eintreten. Solange Eingliederungsmassnahmen bzw. Taggelder bezogen werden, kann der Versicherungsfall Rente nicht eintreten. Die Invalidität, die den Rentenanspruch begründet, tritt in solchen Fällen erst ein, nachdem die Eingliederungsmassnahme beendet wurde (Art. 29 IVG).

In Bezug auf eine spezifische gesundheitliche Beeinträchtigung gibt es nur einen Eintritt des Versicherungsfalls Rente: Ist eine Person bei der erstmaligen Einreise in die Schweiz bereits 40 Prozent invalid, ist der rentenspezifische Versicherungsfall bereits eingetreten und die Voraussetzung der Mindestbeitragsdauer für eine Rente aufgrund dieses Versicherungsfalls kann nicht erfüllt werden. Auch wenn sich die versicherte Person zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund einer Verschlechterung der bereits bei Einreise bestehenden gesundheitlichen invalidisierenden Beeinträchtigung bei der IV anmeldet, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kein neuer Versicherungsfall vor (Urteile des Bundesgerichts I 76/05vom 30.5.2006 und I 620/05 vom 21.11.2006; BGE 136 V 369 vom 19.3.2010).

Komplexer Abklärungsbedarf

Die Abklärungen für den Leistungsanspruch in der IV bei internationalen Fallkonstellationen sind, wie aufgezeigt, äusserst anspruchsvoll. Bei jedem Antrag sind vor den materiellen zuerst die formellen Voraussetzungen, also die Versicherungsunterstellung und die leistungsspezifischen Voraussetzungen, für den Leistungsanspruch zu prüfen. Massgebliche Kriterien sind unter anderem die Staatsangehörigkeit, die Versicherungsunterstellung (ergibt sich in der Regel aus Wohnsitz und/oder Erwerbsort), die anwendbaren Rechtsvorschriften (nationale Gesetzgebung, Staatsverträge) sowie das Alter der betroffenen Person. An die formelle Prüfung der Leistungsvoraussetzungen schliesst sich im Rahmen der materiellen Fallabklärung die Festsetzung des Zeitpunkts des Eintritts des Versicherungsfalles an. Anhand dieser Elemente lässt sich beurteilen, ob die versicherungsmässigen Voraussetzungen für den Anspruch auf eine bestimmte Leistung erfüllt sind.

Je schwächer die Anknüpfung einer Person an das schweizerische Sozialversicherungssystem ist, umso höher sind in der Regel die Hürden für den Leistungsanspruch. Dies gilt auch für hier nicht erwähnte Leistungen der IV, wie z. B. die Hilflosenentschädigung (HE; Art. 6 Abs. 2 i. V. mit Art. 42 IVG).

Um die komplexen grenzüberschreitenden IV-Fälle bereits zu Beginn der Bearbeitung korrekt zu beurteilen und nachträgliche Korrekturen zulasten der Betroffenen zu vermeiden, müssen die Abklärungsschritte sehr sorgfältig vorgenommen werden. Den IV-Stellen und weiteren interessierten Kreisen stellt das BSV hierzu als Arbeitshilfe den «Leitfaden zu den versicherungsmässigen Voraussetzungen für die Leistungen der Invalidenversicherung» sowie die Tabelle «Kurzcheck – Versicherungsmässige Voraussetzungen für die Zusprache von Leistungen der IV» zur Verfügung.              

Fürsprecherin, Internationale Angelegenheiten, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
[javascript protected email address]
Volkswirtin und Psychologin, Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
[javascript protected email address]