Das Modell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» weiterdenken

Carlo Knöpfel
  |  08. März 2022
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  • Sozialpolitik allgemein
Alessandro Della Bella/Paul Schiller Stiftung

Die Schweiz kennt noch kein Anrecht auf eine gute Betreuung im Alter. Es besteht aber ein öffentliches Interesse, die Unterstützung im Alter für alle zu gewährleisten und neben der Hilfe und Pflege vor allem auch die Betreuung für vulnerable ältere Menschen abzusichern. Darum braucht es eine gesetzliche Regelung.

Auf einen Blick

  • Der Autor sieht zwei Wege, wie ein Anrecht auf Betreuung im Alter gesetzlich geregelt werden kann: Der eine führt über ein eigenes Rahmengesetz, der andere über eine Ergänzung des AHV-Gesetzes.
  • Die grosse Zahl von Aspekten, die einer gesetzlichen Regelung bedürfen, spricht für ein eigenständiges Rahmengesetz, die formale Einbettung eines Anrechts auf Betreuung als Unterstützungsform im Alter für die Verankerung im AHVG.
  • Die Betreuungsangebote sind vielfältig. Daher muss die Qualitätssicherung gewährleistet werden.

In den letzten vier Jahren hat die Paul Schiller Stiftung in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und unter Beizug zahlreicher Fachpersonen aus Wissenschaft, Praxis und Politik die Grundlagen für eine gute Betreuung im Alter für alle erarbeitet. Es wurde beschrieben, was unter Betreuung zu verstehen ist, in welchen Handlungsfeldern diese Unterstützung gewährt werden soll und wie diese organisiert und finanziert werden kann (Knöpfel/Pardini 2020; Knöpfel et al. 2020; Kägi et al. 2021).

Diese Arbeiten stossen auf grosse Resonanz und tragen zur öffentlichen Diskussion zahlreicher Forderungen bei. So stellen sich Fragen zum rechtlichen Anspruch auf Betreuung im Alter, bei der Bedarfsabklärung oder beim vorgeschlagenen Finanzierungsmodell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit».

Eine gesetzliche Grundlage für das Anrecht auf gute Betreuung im Alter

Die verfassungsrechtliche Grundlage für eine gesetzliche Regelung des Anrechts auf Betreuung im Alter in der Schweiz dürfte gegeben sein (Landolt 2021). Verschiedene Artikel der Bundesverfassung (wie Art. 41, Art. 111, Art. 112a oder Art. 112c) postulieren eine gesellschaftliche Verpflichtung, es allen Menschen zu ermöglichen, in Würde alt zu werden. Diese Verpflichtung beinhaltet nicht nur die materielle Absicherung und die gesundheitliche Grundversorgung im Alter, sondern ruft auch nach sozialpolitischen Massnahmen, die es älteren Menschen ermöglichen, ihren Alltag in grösstmöglicher Autonomie zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Damit stellt sich die Frage, wie das Anrecht auf Betreuung im Alter auf Gesetzesstufe geregelt werden kann. Grundsätzlich stehen hier zwei Wege offen: Der eine führt über ein eigenes Rahmengesetz, der andere über eine Ergänzung des Gesetzes zur AHV (Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung AHVG). Die grosse Zahl von Aspekten, die einer gesetzlichen Regelung bedürfen, spricht für ein eigenständiges Rahmengesetz, die formale Einbettung eines Anrechts auf Betreuung als Unterstützungsform im Alter (neben anderen wie die Hilfe und Pflege) für die Verankerung im AHVG. Nachfolgend wird kurz skizziert, welche Aspekte einer gesetzlichen Regelung bedürfen.

  • Es braucht eine Umschreibung, was unter Betreuung im Alter zu verstehen ist. Die Paul Schiller Stiftung schlägt mit einer viel beachteten Studie eine breit gefasste Definition vor: Betreuung unterstützt ältere Menschen, wenn sie ihre Bedürfnisse im Alltag aufgrund der Lebenssituation und physischer, psychischer oder kognitiver Beeinträchtigungen nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbstständig erfüllen können (Knöpfel et al. 2020).
  • Betreuung findet in verschiedenen Handlungsfeldern statt. Diese reichen von der Selbstsorge bis zur Haushaltsführung, von der Alltagsgestaltung bis zur sozialen Teilhabe, von der Beratung und Alltagskoordination bis zur Betreuung in der Pflege (Paul Schiller Stiftung 2021a).
  • Der Anspruch auf Betreuung im Alter ist zu regeln. Idealerweise wird ein Betreuungsmix geschaffen, in dem familiale, informelle und formelle Akteure eine möglichst optimale Betreuung der älteren Menschen gewährleisten. Eine vollständige Professionalisierung der Betreuung steht schon mit Blick auf die benötigten zeitlichen Ressourcen ausser Frage (Knöpfel et al. 2018).
  • Die Organisationen, die Betreuungsleistungen anbieten, müssen sich qualifizieren. Die Arbeitsverhältnisse müssen fair geregelt sein, was etwa das Lohnniveau, die Arbeitszeit und den sozialversicherungsrechtlichen Schutz anbelangt. Die Qualität der Erbringung von Betreuungsleistungen ist auszuweisen. Hier können schon vorhandene kantonale Mindeststandards, zum Beispiel für Spitex-Organisationen, weiterentwickelt werden (Paul Schiller Stiftung 2021a).
  • Der Zugang zu diesen Unterstützungsleistungen muss für ältere Menschen mit Betreuungsbedarf sichergestellt werden. Dafür soll der Bund verpflichtet werden, Projekte der aufsuchenden sozialen Arbeit im Rahmen eines Impulsprogramms zu fördern (Kägi et al. 2021).
  • Für die professionelle Betreuung im Alter braucht es eine Lösung. Diese soll sich am Modell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» orientieren. Im Wesentlichen wird es Aufgabe der Kantone und der Gemeinden sein, die Finanzierung der Betreuungsleistungen sicherzustellen, sei es über eine Ausweitung und Anpassung des Leistungsauftrags der öffentlichen Spitex, sei es über eine neue Gestaltung der Betreuungstaxen in den stationären Einrichtungen (Paul Schiller Stiftung 2021b).

Mit diesen sechs Punkten ist der grösste Teil des gesetzlichen Regelungsbedarfs umschrieben. Aspekte, die einer weiteren Präzisierung bedürfen, werden nachfolgend vertieft: die Organisation der Bedarfsabklärung, das Finanzierungsmodell und die Qualitätssicherung beim Betreuungsangebot.

Die Abklärung des Betreuungsbedarfs

Betreuung ist eine eigenständige personenzentrierte Unterstützungsleistung in ambulanten, intermediären und stationären Wohnsituationen älterer Menschen. Die Abklärung des Betreuungsbedarfs vor Ort muss darum mit einem spezifischen Instrument als Teil einer integrierten Bedarfsabklärung erfolgen. Bei der Bestimmung der Abklärungsstellen ist auf fachliche Kompetenz und Unabhängigkeit von der Leistungserbringung zu achten. Naheliegenderweise ist diese Aufgabe von Fachstellen für die ambulante und stationäre Betreuung zu übernehmen, wie dies zum Beispiel im Fürstentum Liechtenstein schon der Fall ist (Kägi et al 2021, S. 26-29). Um unabhängige Dienstleistungen sicherzustellen, die eine professionelle Standardisierung mit Verfahrens- und Rechtsweggarantie ermöglichen, braucht es ein regelmässiges Controlling, das zum Beispiel durch die kantonalen AHV-Ausgleichskassen durchgeführt werden könnte.

Für die Entwicklung eines geeigneten Instruments zur Bedarfsermittlung kann auf schon vorhandene Vorlagen zurückgegriffen werden (Ballmer/Gantschnig 2019). Die Paul Schiller Stiftung weist diese Aufgabe dem Bund zu, um eine schweizweite Einheitlichkeit zu gewährleisten. In der Regel gilt es dabei, in einem partizipativen Dialog das subjektive Wohlbefinden, die Verhaltenskompetenzen, die wahrgenommene Lebensqualität sowie die wirtschaftliche Situation und objektive Umwelt abzuklären. Resultat der Abklärungen ist eine transparente Vereinbarung von Handlungszielen und Aussagen zur Zielerreichung. Entscheidend ist dabei, dass den älteren Menschen ein bestimmtes Stundenkontingent zugesprochen wird und sie frei sind in der Wahl der Altersorganisation, von der sie die Betreuungsleistungen beziehen möchten.

Die Finanzierung der Betreuungsleistungen

Das Finanzierungsmodell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» unterscheidet zwischen subjektbezogenen und objektbezogenen Elementen. Im subjektbezogenen Teil können die älteren Menschen, denen ein Stundenkontingent für Betreuungsleistungen gewährt wird, diese bei einer entsprechenden Organisation einlösen. Für die erbrachte Betreuungsleistung erhält die Organisation einen staatlichen Beitrag als Betreuungsgeld und verschickt eine Rechnung an die leistungsbeziehende Person.

Zum einen ist also vorgesehen, dass die zuständigen Behörden mit den Altersorganisationen Tarife für die Betreuungsleistungen aushandeln, zum anderen sollen aber auch die betreuten Personen eine materielle Eigenleistung erbringen. Diese darf nur so hoch angesetzt werden, dass sich auch die untere Mittelschicht ohne gravierende finanzielle Einbussen eine gute Betreuung im Alter leisten kann. Wer ein zu tiefes Renteneinkommen hat, um diese Eigenleistung aufzubringen, kann dafür Ergänzungsleistungen (EL) beanspruchen. Der Katalog der zu finanzierenden Ausgaben (Artikel 10 Anerkannte Ausgaben und Artikel 14 Krankheits- und Behinderungskosten, Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung ELG) ist darum durch die Übernahme von Betreuungsleistungen zu ergänzen.

Für die Festlegung der Eigenleistung gibt es zwei Optionen. Entweder wird ein bestimmter Prozentsatz (zum Beispiel 25 Prozent) festgelegt oder aber der Eigenanteil wird in Bezug zum Einkommen und Vermögen bestimmt. Die staatliche Subvention soll Sache der Kantone oder Gemeinden sein, die schon heute verschiedene Unterstützungsleistungen für ältere Menschen durch Zuschüsse vergünstigen. Eine solche Verpflichtung gilt es gesetzlich festzuschreiben, naheliegenderweise in Artikel 43 AHVG. Sie lässt sich mit dem politischen Ziel begründen, dass ältere Menschen so lange wie möglich in ihrem angestammten Umfeld und im eigenen Zuhause alt werden sollen können.

Bei den objektbezogenen Elementen des Finanzierungsmodells kommt dem Bund eine entscheidende Rolle zu. Dieser finanziert die Entwicklung des Abklärungsinstruments und der Abklärungsstellen, die für alle älteren Menschen mit vermutetem Betreuungsbedarf zugänglich sein sollen. Der Bund ist auch für die Entwicklung der Qualitätsstandards und die Finanzierung der entsprechenden Ausbildungen in der aufsuchenden Betreuung verantwortlich.

Schliesslich soll der Bund im Rahmen einer Anschubfinanzierung Projekte unterstützen, die aufzeigen, wie vulnerable ältere Menschen erreicht werden können, die sonst ihren Betreuungsbedarf nicht decken würden. Die benötigten Mittel für diese Bundesaufgaben sind dem AHV-Fonds zu entnehmen. In concreto kann der Bund die Umsetzung an die Ausgleichskassen delegieren, denen dann die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssten.

Die Qualitätssicherung beim Betreuungsangebot

Betreuung im Alter wird von vielen Akteuren geleistet. In dieser Vielfalt von betreuerischen Aktivitäten ist die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Primär muss diese auf die professionellen Organisationen abzielen. Die Organisationen benötigen Personal aus dem Tätigkeitsfeld der psychosozialen und agogischen Berufe (Sozialpädagogik, Fachpersonen Betreuung) und mit entsprechenden Aus- und Weiterbildungen, um qualitativ hochstehende Betreuungsleistungen anbieten zu können. Eine solche Ausrichtung verlangt von einer Organisation, dass Betreuung als Tätigkeitsfeld einer integrierten Unterstützung älterer Menschen strukturell verankert wird.

Die Transformation des Wissens auf die neu zu definierenden Funktionen (Betriebliche Leitung, Personal- und Fachentwicklung, Unterstützung und Anleitung von Assistenzpersonal, Qualitätsmanagement) ist sicherzustellen. Ein besonderes Augenmerk ist dabei der Unterstützung und fachlichen Anleitung betreuender Angehöriger und Freiwilliger zu schenken. Gute professionelle Betreuung im Alter ergänzt das familiale und informelle Engagement und trägt so dazu bei, dass Angehörige, Nachbarinnen, Nachbarn oder der Freundeskreis möglichst lange ihre Unterstützung aufrechterhalten können.

Die Betreuung im Alter ist eine gesellschaftspolitische Herausforderung, die mit wachsender Dringlichkeit nach Antworten verlangt. Erste Schritte auf kantonaler und kommunaler Ebene werden bereits gemacht. Jetzt braucht es eine schweizweite Regelung, damit alle Menschen in Würde alt werden können.

Literaturverzeichnis

Kägi, Wolfram; Frey, Miriam; Huddleston, Christopher; Lamprecht, Matthias; Metzler, Raphael; Suri, Mirjam (2021). Gute Betreuung im Alter – Kosten und Finanzierung. [Zürich, Paul Schiller Stiftung]. (konsultiert am 13.01.2022).

Landolt, Hardy (2021). Ein Anrecht auf gute Betreuung im Alter – sozialrechtliche Anknüpfungspunkte. Pflegerecht 3/2021 (3), 189-191.

Paul Schiller Stiftung (2021a): Handlungsfelder der guten Betreuung im Alter: Betreuungsleistungen und Präventionswirkung. Impulspapier Nr. 1.  (konsultiert am 13.01.2022).

Paul Schiller Stiftung (2021b): Kosten und Finanzierung für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Die Studienergebnisse und ihre fachliche und politische Einordnung. [Zürich, Paul Schiller Stiftung].

Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo; Heinzmann, Claudia (2020). Wegweiser für gute Betreuung im Alter. Begriffsklärung und Leitlinien. [Zürich: Swissfoundations].

Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo (2020): Gute Betreuung im Alter – eine Orientierungshilfe. Soziale Sicherheit, 2020 (4), 21-26.

Ballmer, Thomas; Gantschnig, Brigitte (2019). Lebensqualität und Wohlbefinden messbar machen. Assessment zur Erfassung von Lebensqualität und Wohlbefinden. Fachtagung SVAT.  (konsultiert am 13.01.2022)

Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo; Heinzmann, Claudia (2018): Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Eine Bestandesaufnahme. Zürich: Seismo Verlag.

Dr. rer. pol., Prof. für Sozialpolitik und Sozialarbeit, Institut Sozialplanung, Organisatorischer Wandel und Stadtentwicklung, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
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