Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss im Interview

Als zuständiges Regierungsmitglied hat alt Bundesrätin Ruth Dreifuss die Ausarbeitung und Umsetzung des KVG in weiten Teilen begleitet. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundesrat hat sie sich mit dem Dossier weiterhin auseinandergesetzt. Wir haben Ruth Dreifuss deshalb gebeten, uns als prägende Zeitzeugin einige Fragen zu Entstehungs­geschichte und Wirkung des Gesetzes zu beantworten.
  |  02. September 2016
  • Krankenversicherung

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Ruth Dreifuss
alt Bundesrätin

Frau alt Bundesrätin, Sie haben das KVG 1993 von Ihrem Vorgänger CVP-Bundesrat Flavio Cotti quasi geerbt und die Ratsverhandlungen bis zur Schlussabstimmung noch ein Jahr lang begleitet. In welchen Punkten waren Sie dannzumal zufrieden mit dem Resultat, wo hätten Sie sich andere Entscheidungen gewünscht? Meine Beteiligung an der Entstehungsgeschichte des KVG geht weiter zurück als meine Wahl in den Bundesrat: Als Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) hatte ich die vorbereitenden Arbeiten verfolgt. Ab 1991 war ich im SGB zuständig für den Bereich der Sozialversicherungen. Unsere Bewegung hatte sich seit Jahrzehnten für eine obligatorische Krankenversicherung eingesetzt und hatte mitgewirkt in der Kommission Schoch, die ein Projekt zuhanden des Bundesrates erarbeitet hatte. Dieser nahm vieles vom Vorschlag der Kommission auf, mit einem wesentlichen Unterschied: Die Prämien hätten laut Vorprojekt acht Prozent des Familien­einkommens nicht überschreiten dürfen. Und sowohl die Kommission Schoch wie auch der Bundesrat verzichteten darauf, den Lohnausfall im Krankheitsfall zu kompensieren. Die Vorteile des Obligatoriums – keine Karenzfrist mehr bei bereits bestehenden Krankheiten, Solidarität zwischen Jung und Alt, Mann und Frau, Gesunden und Kranken, Prämienverbilligungen für kleine Einkommen – waren so wichtig, dass ich das Kind von Bundesrat Cotti mit Freude adoptierte.

Zu den Hauptzielen des KVG gehörten die Stärkung der Solidarität unter den verschiedenen Bevölkerungs- bzw. Patientengruppen sowie der Zugang zu einer qualitativ guten Medizin für alle. Beides nicht zuletzt, um der Entwicklung einer Zweiklassenmedizin entgegenzutreten. Inwiefern wurden diese Ziele erreicht? Unter Zweiklassenmedizin kann man sich zweierlei vorstellen: entweder ein System, in dem sich einige gewisse Leistungen kaufen können, die Leben retten oder Krankheiten heilen, und andere keinen Zugang zu diesen Leistungen erhalten; oder ein System, in dem alle in den Genuss einer qualitativ guten medizinischen Versorgung kommen, jedoch einige im Spital den Arzt frei wählen können, ein Einzelzimmer beziehen oder eine grössere Menüauswahl geniessen. Wenn zwei Klassen im Gesundheitswesen vergleichbar sind mit den Klassen in den SBB, ist es nicht störend: Alle, die im selben Zug sitzen, kommen gleichzeitig ans Ziel, ob sie in der 1. oder 2. Klasse reisen. Und das ist weitgehend der Fall dank dem KVG. Eine Zweiklassenmedizin gibt es hingegen bei der Zahnmedizin, für die keine allgemeine Versicherung existiert: Ein Blick auf die Zähne genügt oft, um jemanden als reich oder arm einstufen zu können. Obschon das KVG sein Ziel erreicht hat, wird es immer wieder infrage gestellt. Mit den hohen Kosten – insbesondere bei den neusten Krebs- oder Hepatitis-C-Medikamenten – steigt diese Gefahr.

Im September 2000, vier Jahre nach Inkraft­setzung des KVG, nahmen Sie für die Eidgenossenschaft den Carl-Bertelsmann-Preis entgegen. Grundlage für die Prämierung war ein Vergleich der Gesundheitssysteme Dänemarks, Deutschlands, Finnlands, Grossbritanniens, der Niederlande, der Schweiz und den USA. Besonderes Augenmerk legte die Studie auf die Versorgungssicherheit, Steuerungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität. Besonders hervorgehoben wurde das Nebeneinander von Solidarität (Risikoausgleich, Obligatorium: Zugang zum medizinischen Fortschritt für alle) und marktwirtschaftlichen Elementen, die den Wettbewerb unter den Leistungserbringern fördern. Die mittelfristige Entwicklung weist darauf hin, dass mindestens bei der Steuerungsfähigkeit (Stichwort Föderalismus) und Wirtschaftlichkeit (Stichwort Kostenanstieg) Fragezeichen gesetzt werden können. Hat sich der gewünschte, kontrollierte Wettbewerb in der Grundversorgung eingestellt und wie wirkt er sich auf Qualität und Kosten aus? Würde die Schweiz den Preis mit Blick auf die Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre noch einmal verdienen? Schon damals war ich skeptisch, ob die Schweiz diesen Preis wirklich verdient. Zu dieser Zeit aber waren viele Länder in Europa und sogar die USA auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen staatlicher Regulierung sowie vertraglichen und marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismen. Und das noch sehr junge KVG schien auf dem richtigen Weg zu sein. Die Bertelsmann-Experten haben allerdings die Entwicklung von Managed-Care-Modellen und Qualitätszirkeln stark überschätzt. Hinsichtlich der Konkurrenz zwischen den Versicherern haben sie der Jagd nach sogenannten guten Risiken viel zu wenig Beachtung geschenkt.

Im KVG fehlen kosten­dämpfende Anreize für die unzähligen Akteure

Ein drittes wichtiges Ziel des KVG war es, das Prämien- und Kostenwachstum im Gesundheitswesen mindestens zu dämpfen. Mittlerweile haben sich die Prämien jedoch fast um das Anderthalbfache erhöht. 2014 betrugen die Gesundheitsausgaben nach den Berechnungen des BFS elf Prozent des Bruttoinlandprodukts. Was ist falsch gelaufen? Im KVG fehlen kostendämpfende Anreize für die unzähligen Akteure; jeder von ihnen folgt seiner eigenen Logik. Die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten – aufgeteilt zwischen Bund und Kantonen – bleiben schwach. Vieles ist den Verhandlungen zwischen Versicherungsdachverbänden und Leistungserbringervereinigungen überlassen. Die langwierigen und in den Ergebnissen bescheidenen Verhandlungen des Tarmed sind ein gutes Beispiel dafür. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass ein erster Schub der Prämienlast mit der Erweiterung des Leistungskatalogs in Zusammenhang stand, ein zweiter mit der Einführung der neuen Spitalfinanzierungsregelung. Und auch die Kosten der neuesten Medikamente leisten einen Beitrag zum Kostenwachstum. Die elf oder sogar zwölf Prozent des BIP entsprechen aber weit mehr als dem, was das KVG abdeckt, nämlich den gesamten Gesundheitsausgaben. Für die Schweiz sind diese vergleichbar mit jenen anderer europäischer Länder, Frankreich oder der Niederlande zum Beispiel.

Seit der Neuregelung der Pflegefinanzierung, die 2011 in Kraft trat, beklagen die Kantone eine massive Mehrbelastung durch sogenannte Pflege­restkosten, die u. a. auch die EL belasten (EL als Pflegeversicherung des Mittelstandes). Was wäre dagegen zu tun? Wurden bei der Konzipierung des KVG die Herausforderungen im Pflegebereich nicht genügend erkannt und berücksichtigt? Die Ergänzungsleistungen sind in der Tat immer weniger bedeutend für das Leben der Rentnerinnen und Rentner, die zu Hause wohnen und für sich selber sorgen können. Ihre Einkommenssituation hat sich im Laufe der Jahrzehnte verbessert. Hingegen dienen die EL immer mehr dazu, um die Pflegekosten bezahlen zu können. Diese neue und sicher auch nachhaltige Ausrichtung der EL ergibt Sinn. Ob der Lastenausgleich zwischen Bund (und KVG) einerseits, Kantonen und Gemeinden andererseits der Beste ist, sollte nicht isoliert bei der Pflege betrachtet werden. Ich weiss aus Erfahrung, wie schwierig die Neuverteilung der Aufgaben und deren Finanzierung war. Und sie sollte von Zeit zu Zeit wieder überprüft werden. Die Pflege ist wahrhaftig eine Wachstumsbranche; mit dem KVG hat die Lastenausgleichsproblematik in meinen Augen jedoch wenig zu tun.

Wenn Sie den sozialen Gewinn des KVG gegen seine Kosten abwägen, was wiegt aus Ihrer Sicht mehr? Oder anders gefragt: Welche Einschränkungen beim Obligatorium und damit verbunden bei der Versorgungssicherheit und -qualität wären tragbar, um dem Kostenanstieg nachhaltig entgegenzuwirken? Die Lösung liegt nicht im Streichen von gewissen Leistungen, sondern im Meiden von unnötigen Leistungen dank Qualitätszirkeln, Spezialistenrichtlinien, Einholen von Zweitmeinungen usw. Ausserdem sollten die Medikamentenpreise gesenkt werden, unter anderem auch jene der Generika, die im internationalen Vergleich in der Schweiz deutlich zu hoch sind. Und die Leistungstarife sollen regelmässig der technischen Entwicklung angepasst werden. Der Rahmen dieses Interviews erlaubt mir nicht, auf die vielen Massnahmen und Revisionen einzugehen, die notwendig sind, um die Kostenentwicklung besser in den Griff zu bekommen. Ich bin zuversichtlich, dass Bundesrat Alain Berset und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daran arbeiten, und hoffe, dass sie dabei unterstützt werden.

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