Was bewirkt die Elternzeit?

Eine umfassende Literaturanalyse liefert Erkenntnisse dazu, wie sich Elternzeit (inklusive Mutter- und Vaterschaftsurlaub) auf Mütter, Väter und Kinder, Familien, Unternehmen, ­Gesellschaft und Staat auswirkt.
Franziska Müller, Alma Ramsden
  |  07. September 2018
    Forschung und Statistik
  • Familie
  • Gleichstellung

Anders als die meisten OECD-Länder kennt die Schweiz keine gesetzlich geregelte und bezahlte Elternzeit. Die am 1. Juli 2005 eingeführte Mutterschaftsentschädigung (Art. 16b ff. Erwerbsersatzgesetz, EOG)1 ist eine Entschädigung für den Verdienstausfall direkt im Anschluss an die Geburt (vgl. z. B. Schubarth 2015). Der geburtsbezogene Vaterschaftsurlaub ist gesetzlich nicht geregelt und kann vom Vater höchstens im Rahmen eines «üblichen freien Tages» (Art. 329 Abs. 3 OR) geltend gemacht werden. In den OECD-Ländern hingegen hat sich die Elternzeit längst etabliert. Dabei handelt es sich um die Beurlaubung erwerbstätiger Eltern, welche oftmals im Anschluss an den Mutter- oder Vaterschaftsurlaub um die Zeit der Niederkunft (oder Adoption) herum erfolgt. Während der Elternzeit ist der Arbeitsplatz gesichert und in der Regel wird ein Einkommensersatz ausgezahlt (vgl. Müller/Ramsden 2017, Darstellung 2.2).

Die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) setzt sich für die Einführung einer Elternzeit in der Schweiz ein. Im Jahr 2010 hatte sie ein den schweizerischen Verhältnissen angepasstes Elternzeitmodell entworfen (EKFF 2010). Dieses sieht eine Elternzeit von 24 Wochen vor, wobei Mutter und Vater davon je vier Wochen beziehen müssen und die restlichen 16 Wochen frei unter sich aufteilen können. Um die Elternzeit in der Legislatur 2016–2019 weiter voranzutreiben und mit der nötigen empirischen Erkenntnis zu untermauern, vergab die EKFF ein Forschungsmandat, das die aktuellste Literatur zum Thema im Kontext der OECD aufarbeitete und aus den Resultaten Handlungsempfehlungen für die Schweiz ableitete.

ANALYSE DER WISSENSCHAFTLICHEN EVIDENZ Nach der Prüfung diverser Publikationen zur Situation in den OECD-Ländern wurden schliesslich 140 Studien analysiert, die sich zwischen 2010 und der ersten Hälfte 2017 in den USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen und Island mit den Auswirkungen von Elternzeit befasst hatten. Bei der Auswahl der Länder wurde erstens vorausgesetzt, dass diese einen Urlaub und/oder eine Elternzeit für Mutter und Vater kennen, wie sie das EKFF-Modell vorsieht. Um analysieren zu können, wie sich die Dauer der Elternzeit auf das Erwerbsverhalten der Eltern auswirkt, wurde zweitens darauf geachtet, dass die Elternzeit in den berücksichtigten Ländern unterschiedlich lange dauert. Drittens sollten diese eine geografische und/oder kulturelle Nähe zur Schweiz aufweisen und daher eine gewisse Übertragbarkeit der Ergebnisse erlauben. In der Analyse wurden alle Studienergebnisse erfasst, die einerseits Rückschlüsse auf die Auswirkungen von Elternzeit auf die einzelnen Familienmitglieder und die Familie als System zuliessen, andererseits aber auch deren Folgen für die Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat beschrieben.

DAUER DER ELTERNZEIT IN OECD-LÄNDERN Die bezahlte Zeit vor und nach der Geburt des Kindes, die der Mutter (allenfalls gemeinsam mit dem Vater)2 zur Verfügung steht, unterscheidet sich zwischen den OECD-Ländern stark (vgl. Grafik G1). Während die USA auf bundesstaatlicher Ebene keine bezahlte Mutterschafts- oder Elternzeit kennen, beträgt sie in der Slowakischen Republik mehr als 164 Wochen. Über alle OECD-Länder beträgt der Mittelwert 54,4 Wochen, der Median 43 Wochen. Auch beim Vaterschafts­urlaub beziehungsweise bei der reservierten Elternzeit für den Vater ist die Heterogenität gross. In mehr als der Hälfte der Länder gehen die Väter leer aus, Südkoreaner hingegen haben Anrecht auf 52 Wochen; daraus resultiert ein Median von 0 und ein Mittelwert von 9,4 Wochen. Die Schweiz steht bezüglich Umfang und Ausgestaltung von Elternzeit in der OECD an drittletzter Stelle. Nur Mexiko und einzelne Gliedstaaten der USA haben ein noch geringeres Angebot.

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die zehn analysierten Länder.

BEZUG VON ELTERNZEIT In den zehn analysierten OECD-Ländern nutzen Mütter ihren Urlaub beziehungsweise die Elternzeit deutlich häufiger als Väter. Ihre Bezugsrate liegt in den meisten Ländern zwischen 80 und 100 Prozent. Eher längere Elternzeiten mit tiefer Einkommensersatzquote werden vor allem von gering qualifizierten Frauen vollumfänglich in Anspruch genommen, während besserverdienende ihren Anspruch häufig nicht voll ausschöpfen. Bei den Vätern zeigt sich kein eigentliches Bezugsmuster; sie beziehen die Elternzeit, die ihnen allein zur Verfügung steht, je nach Land ganz unterschiedlich häufig. Allerdings nehmen sie Elternzeit, die beiden Elternteilen zur Verfügung steht, in allen Ländern nur selten in Anspruch. Anreize für Väter, Elternzeit zu beziehen, wie zum Beispiel ein exklusiver Anspruch auf einen Teil der Elternzeit, erweisen sich dabei als wirksam. Weiter korreliert die Zahl der Väter, die Elternzeit beziehen, mit der Höhe der Einkommensersatzrate. Zudem wird Elternzeit insbesondere von sozioökonomisch privilegierten Männern in Anspruch genommen.

GESUNDHEIT VON MUTTER UND KIND, KINDES­ENTWICKLUNG Elternzeit führt in der ersten Zeit nach der Geburt insbesondere zu einer Verbesserung der psychischen Gesundheit der Mutter und zu einer höheren Lebenszufriedenheit sowie zu einer Ausdehnung der Stillzeit. Ein Mutterschaftsurlaub vor der Niederkunft hat präventiven Charakter, denn körperliche und/oder psychische Belastungen wie Stress während der Schwangerschaft wirken sich auch nach der Geburt negativ auf Mutter und Kind aus. Die Studien zeigen zudem, dass Elternzeit eine positive Auswirkung auf die physische Gesundheit von Kindern im ersten Geburtsjahr hat (Verminderung von tiefem Geburtsgewicht, Frühgeburten und Kindersterblichkeit).3 Effekte von Elternzeit auf die Gesundheit sind oft heterogen: Sozioökonomisch weniger privilegierte Familien und Eltern mit einem tiefen Bildungsniveau profitieren gesundheitlich mehr von Elternzeit als solche, die sozioökonomisch besser gestellt sind und einen hohen Bildungsabschluss haben. Ergebnisse bezüglich der Auswirkungen auf die längerfristige kognitive Entwicklung und die Bildungsverläufe der Kinder zeigen entweder keine oder positive Effekte (tiefere Schulabbruchquote, bessere schulische Leistungen). Ein positiver Zusammenhang wird vor allem bei einem stärkeren Engagement der Väter nachgewiesen, insbesondere ab einer Bezugsdauer von mindestens zwei Monaten.

ERWERBSTÄTIGKEIT DER ELTERN Eine gleichstellungspolitisch relevante Wirkung erreicht die Elternzeit dann, wenn sie dazu führt, dass Mütter ihre Erwerbstätigkeit nach der Elternzeit weiterführen. Elternzeit, die weniger lang als zwei Jahre dauert, hat einen positiven Effekt auf die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit der Mütter. Am stärksten ist dieser bei einem Urlaub von zirka 28 Wochen, verringert sich mit zunehmender Dauer und wirkt sich ab zwei Jahren negativ aus. Frauen mit höheren Einkommen kehren in der Regel früher an den Arbeitsplatz zurück als Frauen mit tieferen Einkommen. Väter verändern ihren Beschäftigungsgrad kaum aufgrund von Elternzeit. Tun sie es dennoch, verschlechtern sich die Erwerbssituation und Karrierechancen in der Regel auch für sie.

AUFGABENTEILUNG ZWISCHEN DEN ELTERN Elternzeit führt kurzfristig zu einer grösseren Beteiligung der Väter an der Haus- und Familienarbeit und somit zu einer egalitäreren Aufgabenteilung zwischen den Paaren. Die Wirkung von Elternzeit im Sinne einer ausgeglicheneren Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zeigt sich jedoch erst ab einer längeren Elternzeit der Väter (ab zwei Monaten) – wenn überhaupt. Der Egalisierungseffekt wird gemäss skandinavischen Studien verstärkt, wenn Elternzeit Teil einer umfassenden Gleichstellungspolitik ist, zu der insbesondere auch ein gut ausgebautes und erschwingliches Kinderbetreuungsangebot gehört.

LOHNGLEICHHEIT  Je länger die Elternzeit dauert, desto grösser sind tendenziell die Lohnunterschiede zwischen den Paaren. Diese Tendenz geht deutlich zulasten der Mütter, die ihre Karrierechancen vermindern, indem sie die Elternzeit in viel grösserem Umfang beanspruchen als die Väter.

PAARBEZIEHUNG UND GEBURTENRATE In den Studien sind nur wenige Hinweise zu den Auswirkungen von Elternzeit auf die Paarbeziehung zu finden. Dabei zeigte sich kein Zusammenhang zwischen Elternzeit und Scheidungsrate. Elternzeit hat einen positiven Einfluss auf individuelle Entscheide zur Familiengründung (Mikroebene). Hohe Erwerbs­ersatzquoten fördern den Entscheid für ein oder mehrere Kinder. Die wenigen Studien, die den Einfluss von Elternzeit auf die aggregierte Geburtenrate (Makroebene) analysierten, fanden keine entsprechende Wirkung von Elternzeit. Es ist zu vermuten, dass verschiedene Einflussfaktoren die aggregierte Geburtenrate unterschiedlich und gegensätzlich beeinflussen, sodass sie sich letztlich gegenseitig aufheben.

UNTERNEHMEN Bezahlte Elternzeit wirkt sich eher positiv auf die Produktivität, den Umsatz und die Arbeitsplatzmoral in Unternehmen aus. Insbesondere im Zusammenhang mit gut qualifizierten Mitarbeitenden führt sie in der Tendenz zu Kosteneinsparungen, weil sie die Mitarbeiterfluktuation senkt. Mütter kehren dank Elternzeit vermehrt zu ihrem alten Arbeitgeber zurück. Viele Studien hierzu stammen aus den USA, die wie die Schweiz über einen liberalen Arbeitsmarkt verfügen.

VOLKSWIRTSCHAFT Zur Gesamtproduktivität und den volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen der Elternzeit äussern sich vergleichsweise wenige Studien. Diese weisen jedoch mehrheitlich positive Effekte nach: Die volkswirtschaftliche Arbeitsproduktivität wird durch bezahlte Elternzeit erhöht. Die Ausgaben des Staates lassen sich durch höhere Steuererträge infolge einer erhöhten Erwerbstätigkeit der Mütter kompensieren.

HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Die durch die Literaturanalyse gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass der Modellvorschlag der EKFF aus dem Jahr 2010 hinsichtlich der Gestaltung, Erwerbsersatzquote und Länge der Elternzeit angemessen ist. Daran orientiert, lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten:

  • Erstens wäre es aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz sinnvoll, wenn die Schweiz der allgemeinen Tendenz im OECD-Raum folgte, den Mutterschaftsurlaub durch eine Elternzeit zu ergänzen, bei der ein Teil für die Mutter und ein Teil für den Vater bestimmt ist, wobei die verbleibende Zeit frei zwischen Mutter und Vater aufgeteilt werden kann. Der Anspruch des Vaters sollte mindestens vier Wochen betragen – idealerweise mehr. Denn der individuelle Anspruch auf Elternzeit, insbesondere für Väter, erweist sich als wirksam. So liegt die Rate der Inanspruchnahme in Ländern, die seit langem über ein Modell mit individuellem Anspruch für die Väter verfügen, bei über 80 Prozent (Beispiele hierfür sind Schweden, Island und Norwegen). Gerade zusammen mit einer gut ausgebauten Kinderbetreuung kann eine längere Elternzeit der Väter die Arbeitsmarktintegration der Mütter stärken. Denn nach wie vor wird die Doppelbelastung von Beruf und Familie hierzulande fast ausschliesslich von den Frauen getragen (BFS 2016).
  • Zweitens ist eine hohe Einkommensersatzrate, wie sie auch im EKFF-Modell vorgesehen ist, wichtig. Dadurch steigt der Anreiz insbesondere für Väter, Elternzeit auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Da das Einkommen der Väter in der Regel höher ist als der Verdienst der Frauen, sind die Familien auf ihr Einkommen angewiesen.
  • Drittens empfiehlt sich das EKFF-Modell auch bezüglich Dauer der Elternzeit. Mit deutlich unter zwei Jahren weist sie klar eine Länge auf, die sich positiv auf die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit durch die Mütter auswirkt.
  • Viertens gilt es für die Schweiz zu prüfen, ob ein individueller Urlaubsanspruch für die Mutter vor der Niederkunft zweckmässig wäre, um ihre Gesundheit und diejenige des Ungeborenen zu schonen. Im Gegensatz zu vielen OECD-Ländern haben werdende Mütter in der Schweiz keinen Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub bereits vor der Niederkunft.
  • Die Analyse der Elternzeitmodelle anderer Länder zeigte fünftens weitere Entwicklungen, die auch für ein Schweizer Modell von Interesse sind: Zu erwähnen ist insbesondere die Möglichkeit für Mütter und Väter, während der Elternzeit Teilzeit zu arbeiten, ohne dabei den Anspruch auf Elternzeit zu verlieren.

Abschliessend gilt es zu bemerken, dass in keinem der untersuchten Länder eine einst eingeführte Massnahme aufgehoben wurde und sich das Konzept der Elternzeit in den meisten OECD-Ländern etabliert hat. Es ist anzunehmen, dass auch in der Schweiz das Bedürfnis und der Nutzen gross genug sind, die Elternzeit nach dem Modell der EKFF langfristig zu verankern.

  • 1. ESR 834.1.
  • 2. Für den Vergleich mit den OECD-Ländern wurde die Tabelle «Trends in leave entitlements around childbirth» der OECD-Family Database verwendet. In dieser Tabelle nicht enthalten sind folgende fünf OECD-Länder: Chile, Israel, Estland, Lettland, Slowenien.
  • 3. Die Studien untersuchen diese Auswirkungen nicht kurzfristig, sondern 
über einen längeren Zeitraum. Sie kontrollieren unter anderem Einfluss­faktoren, die Auswirkungen auf das Geburtsgewicht, die Rate der Früh­geburten und die Kindersterblichkeit haben können, und isolieren somit 
den Effekt von Elternzeit auf diese Wirkungsdimensionen.
Bereichsleiterin, Interface – Politikstudien Forschung Beratung
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PhD, collaboratrice scientifique, Interface Politik­studien Forschung und Beratung.
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