Strategie des Bundes zur Langzeitpflege

In der Langzeitpflege ist künftig mit deutlich mehr Pflegebedürftigen zu rechnen. Dies hat Auswirkungen auf die Versorgung und auf die Kosten. Die öffentlichen Ausgaben ­werden sich bis 2045 verdreifachen. Ein Massnahmenpaket und Finanzierungsoptionen bilden erste Lösungsansätze.
Christian Vogt
  |  14. März 2019
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Im Jahr 2045 wird die Schweiz gut zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben. Davon werden knapp 2,7 Millionen 65 Jahre alt sein oder älter und gut eine Million wird zu den 80+ gehören. Heute ist jede sechste Person 65-jährig und älter, 2045 wird es jede vierte sein (vgl. Grafik G1).

Die prognostizierte Entwicklung der älteren Bevölkerung legt nahe, dass auch die Zahl der pflegebedürftigen Personen stark ansteigen wird, obschon die Zunahme der Lebenserwartung in der Schweiz bisher mit einer Ausdehnung der behinderungsfreien Lebenserwartung im Alter einherging (Höpflinger et al. 2011). Dadurch schwächen sich die Auswirkungen der demografischen Alterung etwas ab.

Auch im optimistischsten Szenario bleibt die Ausgangslage ähnlich: Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Nachfrage nach medizinischen Leistungen im allgemeinen und speziell nach Langzeitpflege im kommenden Vierteljahrhundert deutlich zunehmen. Dies wird sich insbesondere auch auf die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) und die Kantone auswirken, die heute die Hauptlast der Gesundheitsausgaben in der Schweiz tragen.

Bericht zur Langzeitpflege: Analyse Vor dem Hintergrund der fortschreitenden demografischen Alterung, des medizinischen Fortschritts, der Zunahme chronischer Erkrankungen, veränderter Erwartungen ans Altwerden, der Fortschritte in der Palliativpflege und steigender Kosten für den letzten Lebensabschnitt hat die damalige Nationalrätin Jacqueline Fehr im Jahr 2012 ein Postulat (12.3607) eingereicht, das den Bundesrat dazu aufforderte, dem Parlament eine Strategie zur Langzeitpflege vorzulegen. Der Bundesrat kam dem Auftrag im Mai 2016 mit der Verabschiedung des Berichts «Bestandesaufnahme und Perspektiven im Bereich der Langzeitpflege» nach (Bundesrat 2016). Darin zeigt der Bundesrat auf, dass sich die Situation in der Langzeitpflege verschärfen dürfte und die grössten Herausforderungen in der Sicherstellung von genügend und adäquat qualifiziertem Pflegepersonal, der bedarfsgerechten Gestaltung von Versorgungsstrukturen und einer nachhaltigen Finanzierung der Langzeitpflege zu erwarten sind.

Herausforderung Pflegepersonal Im Jahr 2014 arbeiteten in den Schweizer Gesundheitsinstitutionen rund 180 000 Pflegepersonen, verteilt auf 124 000 Vollzeitstellen. Knapp die Hälfte des Pflegepersonals arbeitete in Spitälern, ein gutes Drittel in Alters- und Pflegeheimen und knapp ein Fünftel in Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause (Spitex) (Merçay et al. 2016).

Die jüngsten Prognosen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan; vgl. Merçay et al. 2016) zeigen, dass im Jahr 2030 zusätzlich 65 000 Pflegepersonen (oder 43 000 Vollzeitstellen) benötigt werden, um den Personal­bedarf zu decken. Der erwartete Bedarf wird somit bei knapp einer Viertelmillion Pflegepersonen liegen. Der grösste Bedarf ist in Alters- und Pflegeheimen zu erwarten (zusätzlich 28 000 Pflegepersonen bzw. 21 000 Vollzeitstellen). Die Nachfrage erhöht sich zusätzlich, weil die Pflegepersonen selber auch älter werden: Bis 2030 müssen schätzungsweise 44 000 Pflegepersonen infolge von Pensionierung ersetzt werden.

Herausforderung Versorgung In den nächsten Jahren ist nicht nur damit zu rechnen, dass die Pflegekapazitäten ausgebaut werden müssen, sondern es zeichnen sich auch neue Anforderungen bei der Versorgung von Pflegebedürftigen ab. Der Wunsch, möglichst lange selbstbestimmt zu Hause zu leben, wird dazu führen, dass ambulante Pflege im Alter stärker nachgefragt werden wird. Folglich werden sich Pflege- und Betreuungsleistungen von den Heimen hin zu anderen Versorgungsformen (Spitex, intermediäre Strukturen) verschieben. Zudem wird die Pflege mit dem steigenden Alter der Patientinnen und Patienten anspruchsvoller werden, insbesondere weil damit zu rechnen ist, dass mehr Pflegebedürftige gleichzeitig mehrfach erkrankt sein werden (Multimorbidität) und auch, weil die Anzahl der Menschen mit Demenz kontinuierlich ansteigen wird.

Herausforderung Kosten und Finanzierung Der Bundesrat hat sich im erwähnten Bericht auf Projek­tionen der Eidgenössischen Finanzverwaltung gestützt, die die öffentlichen Gesundheitsausgaben1 bis zum Jahr 2045 modelliert hat (EFV 2017). Die Projektionen zeigen, dass sich die öffentlichen Ausgaben für die Langzeitpflege zwischen 2013 und 2045 verdreifachen und insbesondere bei den Kantonen deutlich stärker ansteigen werden als die Steuereinnahmen (vgl. Grafik G2).

GrafikG2 illustriert, wie beträchtlich sich die Finanzierungslast der Kantone und der OKP, die zusammen etwa die Hälfte der gesamten Gesundheitsausgaben tragen2, erhöhen wird:

Vergleicht man die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit (ohne Langzeitpflege) mit den öffentlichen Ausgaben für Langzeitpflege, zeigt sich, dass letztere stärker ansteigen, allerdings von einem tieferen Niveau aus.

Die Finanzierungsproblematik verschärft sich insgesamt, weil die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit (ohne Langzeitpflege) auch stark wachsen werden. Absolut gesehen werden sie wesentlich stärker wachsen als die öffentlichen Ausgaben für Langzeitpflege. Dieses Ausgabenwachstum ist deshalb grundsätzlich besorgniserregender. Die OKP wird nach wie vor die Hauptlast der öffentlichen Gesundheitsausgaben tragen.

Bericht zur Langzeitpflege: Massnahmen und Finanzierungsoptionen Ausgehend von der Bestandsaufnahme präsentierte der Bundesrat in seinem Bericht in erster Linie zwei Lösungsansätze, um den oben beschriebenen Herausforderungen zu begegnen: ein Massnahmenpaket, das 2015/2016 im Rahmen des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik (Dialog NGP) gemeinsam von Bund und Kantonen beschlossen worden war und sieben Handlungsbereiche umfasst (vgl. TabelleT1) sowie Optionen, wie die Aufgaben in der Langzeitpflege künftig finanziert werden könnten. Massnahmenpaket Langzeitpflege Eine bedarfs- und kosteneindämmende Wirkung erhoffen sich Bund und Kantone von den Massnahmen zur Prävention von Pflegebedürftigkeit im Rahmen der sog. NCD-Strategie. Zu nennen ist auch die Fachkräfteinitiative bzw. die Fachkräfte­politik als deren Nachfolgerin, mit der sichergestellt werden soll, dass genügend und adäquat qualifiziertes Pflegepersonal zur Verfügung steht. Massnahmen im Bereich E-Health und insbesondere die Einführung des elektronischen Pa­tientendossiers sollen Qualität und Effizienz der Leistungs­erbringung verbessern. Heute bestehen grosse Kostenunterschiede zwischen den einzelnen Leistungserbringern, die auf ein beträchtliches Potenzial zur Effizienzsteigerung und folglich auch zur Kosteneindämmung hindeuten. Schliesslich sollen Indikatoren sicherstellen, dass Entwicklungen insbesondere im Bereich Qualität systematisch be­­obachtet werden können.Finanzierungsoptionen Um der erwarteten Zusatzbelastung von Staat und Sozialversicherungen in der Finanzierung der Langzeitpflege zu begegnen, hat der Bundesrat Varianten skizziert, die aufzeigen, wie die finanziellen Lasten von Bund und Kantonen im Bereich der Langzeitpflege künftig verteilt werden könnten.

Finanzierung der Pflege durch die OKP

Die OKP übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. An Pflegeleistungen, die aufgrund einer ärztlichen Anordnung erbracht werden, leistet sie einen fixen, grundsätzlich nach Aufwand abgestuften Beitrag. Der Leistungsbereich der Pflegeleistungen ist dabei klar umschrieben: Es wird zwischen Massnahmen der Abklärung, Beratung und Koordination, Massnahmen der Untersuchung und Behandlung sowie Massnahmen der Grundpflege unterschieden (vgl. Krankenpflege-Leistungsverordnung des EDI). Nicht zulasten der OKP gehen weitere Leistungen, die mit der Pflegebedürftigkeit zusammenhängen, wie Betreuung oder die Pension im Pflegeheim.

MASSNAHMENPAKET LANGZEITPFLEGE Eine bedarfs- und kosteneindämmende Wirkung erhoffen sich Bund und Kantone von den Massnahmen zur Prävention von Pflegebedürftigkeit im Rahmen der sog. NCD-Strategie. Zu nennen ist auch die Fachkräfteinitiative bzw. die Fachkräftepolitik als deren Nachfolgerin, mit der sichergestellt werden soll, dass genügend und adäquat qualifiziertes Pflegepersonal zur Verfügung steht. Massnahmen im Bereich E-Health und insbesondere die Einführung des elektronischen Patientendossiers sollen Qualität und Effizienz der Leistungserbringung verbessern. Heute bestehen grosse Kostenunterschiede zwischen den einzelnen Leistungserbringern, die auf ein beträchtliches Potenzial zur Effizienzsteigerung und folglich auch zur Kosteneindämmung hindeuten. Schliesslich sollen Indikatoren sicherstellen, dass Entwicklungen insbesondere im Bereich Qualität systematisch beobachtet werden können.

FINANZIERUNGSOPTIONEN Um der erwarteten Zusatzbelastung von Staat und Sozialversicherungen in der Finanzierung der Langzeitpflege zu begegnen, hat der Bundesrat Varianten skizziert, die aufzeigen, wie die finanziellen Lasten von Bund und Kantonen im Bereich der Langzeitpflege künftig verteilt werden könnten.

Die Zusatzbelastung muss grundsätzlich über Steuern oder über Prämien aufgefangen werden. Denkbar ist auch eine Kombination von beidem – wie im aktuellen Finanzierungsregime, das neben einem begrenzten Beitrag der Patientinnen und Patienten einen fixen Beitrag der OKP und die steuerfinanzierte Restfinanzierung durch die Kantone vorsieht (vgl. auch Kasten, S. 31). Auch vorstellbar wäre eine obligatorische Pflegeversicherung. Dabei wäre insbesondere zu klären, inwiefern diese die OKP als Versicherung ablösen soll und ob sie auch die bislang privat finanzierten Betreuungskosten übernehmen würde. Zudem müsste bestimmt werden, welcher Personenkreis versicherungspflichtig würde (gesamte Bevölkerung oder Personen ab z. B. 50 Jahren etc.) und wie die Versicherung zu finanzieren wäre (Kopf­prämien, Lohnprozente etc.).

Der Bundesrat hat den Bericht zur Langzeitpflege am 25. Mai 2016 zuhanden des Parlaments verabschiedet. Die parlamentarische Debatte dazu wird zeigen, wie die Langzeitpflege in der Schweiz künftig finanziert wird.

  • 1. Summe der Ausgaben der öffentlichen Hand (Bund, Kantone und Gemeinden) und der OKP für stationäre und ambulante Behandlungen, Arzneimittel, therapeutische Apparate, Zahnbehandlung, Prävention und andere Leistungen wie Laborleistungen und Transport und Rettung (Gesundheit ohne Langzeitpflege) sowie für im Pflegeheim und durch die Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause erbrachte Leistungen für Personen ab 65 Jahren (Langzeitpflege).
  • 2. 2016 betrugen die gesamten Gesundheitsausgaben in der Schweiz 80,5 Milliarden Franken. Davon trugen die Kantone und die OKP 40,8 Milliarden Franken (vgl. BFS 2018).
Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter Direktionsbereich Kranken- und Unfallversicherung, Bundesamt für Gesundheit.
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