Sozialhilfe: Handlungsbedarf bei Rechtsschutz und -beratung?

Um Sozialhilfebeziehenden vollumfänglichen Rechtsschutz zu gewährleisten, müssen die Rechtsberatungsstellen gestärkt, die unentgeltliche Rechtspflege ausgebaut und die Sozial­dienste personell besser ausgestattet werden. So das Fazit einer Studie, die die Zugangs­möglichkeiten zu unabhängiger Rechtsberatung und effektivem Rechtsschutz untersuchte.
Gesine Fuchs, Melanie Studer
  |  05. März 2021
    Forschung und Statistik
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  • Sozialhilfe

Haben Armutsbetroffene in der Schweiz als Sozialhilfebeziehende Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung? Wie tragen Rechtsberatungsstellen zu deren Rechtsschutz bei, d. h., wie verhelfen sie ihnen zu ihrem Recht, in angemessener Zeit von einer unabhängigen staatlichen Instanz eine Entscheidung zu erhalten? Und besteht schliesslich der Bedarf, den Rechtsschutz und die Rechtsberatung für Armutsbetroffene zu stärken? Die Hochschule Luzern und die Universität Basel sind im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen diesen Fragen aus einer umfassenden rechtssoziologischen Perspektive nachgegangen.

Einflussfaktoren auf den Rechtsschutz in der Sozialhilfe Verschiedene strukturelle, prozedurale und situative Faktoren können den Zugang zum Recht einschränken. Dabei kann es sich um administrative, soziale oder ökonomische Hürden handeln und/oder das Wissen, das Rechtsbewusstsein oder die Verfügbarkeit unabhängiger Beratung und Rechtsvertretung betreffen.

In der Untersuchung wurden die Einflussfaktoren, die die Forschung bislang herausgearbeitet hat (vgl. insbesondere Marchiori 2016, de Langen/Barendrecht 2008 und Sandefur 2008), in ein Modell integriert und unter die Lupe genommen (vgl. Grafik G1):

  • Was sind die rechtswissenschaftlichen Grundlagen?
  • Wie ist das Prozessrecht ausgestaltet und welche Auswirkungen hat es?
  • Was wissen Betroffene über ihre Rechte und wie kommen sie zu Informationen und Beratung?
  • Wie arbeiten die Beratungsstellen?

Dazu wurden Rekursinstanzen befragt und eine Zufalls­auswahl von Gerichtsurteilen analysiert sowie Rechtsdienste der Sozialbehörden interviewt. Letztere haben mit ihrer rechtlichen Expertise und Information ebenfalls wesentlichen Einfluss auf den Rechtsschutz ihrer Klientinnen und Klienten. In einer Online-Umfrage wurden Beratungs- und Ombudsstellen sowie Anwältinnen und Anwälte mit Spezialisierung auf Sozialversicherungs- oder Sozial­hilferecht befragt. Ergänzt wurde dies mit Interviews von Betroffenen und Beratungsstellen. Die Online-Umfragen wurden in der ganzen Schweiz durchgeführt, die anderen Erhebungen in den vier Fallstudienkantonen Genf, Fribourg, Zürich und St. Gallen. Die Kantone unterscheiden sich sprachlich, sozialstrukturell und im Differenzierungsgrad ihrer Sozialhilfegesetze und -verordnungen.

Die Studie zeigt, dass Beratungsstellen mit Rechtsberatung besonders wichtig sind, weil sie einen tatsächlichen Zugang zum Recht auf Rechtsschutz schnell und unmittelbar ermöglichen. Aber auch die Klarheit der Formulierung des Sozialhilferechts (Normenklarheit) und die Abläufe bei Beschwerden sind hier relevant, ebenso wie juristisches Fachwissen und angemessene Informationen aufseiten der Sozialdienste. Aus den Resultaten ergeben sich drei wichtige Handlungsfelder:

  • die Beratungsstellen,
  • die unentgeltliche Rechtspflege sowie
  • die professionelle Arbeit in den Sozialdiensten.

Gezielte Stärkung von Rechtsberatungs­stellen Die Beratungsstellenlandschaft in der Schweiz ist ausgesprochen vielfältig und breitgefächert. Dies reicht von generellen Anlaufstellen für Armutsbetroffene (etwa der Caritas) über themenspezifische Stellen (wie z. B. Pro Infirmis oder Frauenberatungsstellen) bis zu solchen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft (z. B. Sozialdienste grosser öffentlicher Spitäler). Unter den gut 100 befragten Stellen mit Rechtsberatung konnten 34 identifiziert werden, die eine detaillierte sozialhilferechtliche Beratung anbieten, also eine (auch mehrmalige) Beratung zum Einzelfall (im Folgenden: Beratungsstellen SHR). Ausserdem zeigte sich, dass auch die allgemeine Beratung zu Sozialhilfefragen immens wichtig ist. Allgemeine Beratungsstellen zeigen Rechte und Pflichten auf oder geben Informationen zu weiteren Sozialleistungsansprüchen. Dies bieten 29 Stellen an und sie sind der erste Zugang, um nötigenfalls zu detaillierter Rechtsberatung zu gelangen. 80 Prozent dieser Stellen leiten weiter, vereinzelt holen sie sich auch spezifischen Rat, etwa durch Vereinbarungen mit der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). In etwa einem Drittel der 34 Stellen mit detaillierter Sozialhilferechtsberatung arbeiten weder Juristinnen oder Juristen noch Personen mit juristischer Weiterbildung. Dies kann ein Problem sein, wenn z. B. nicht alle sinnvollen rechtlichen Möglichkeiten und Ansprüche erkannt werden. Dabei ist die Finanzierung der Beratungsstellen SHR komplex – am häufigsten finanzieren sie sich über Spenden, Beiträge privater Organisationen, Eigenmittel und staatliche Subventionen. Viele Stellen mit detaillierter Rechtsberatung haben Wartezeiten, sehr strenge Triageregeln und kurze Öffnungs- oder Telefonzeiten, damit nicht mehr Leute anfragen, als effektiv beraten werden können. Die Nachfrage übersteigt das Angebot somit deutlich.

Eine gezielte Stärkung von Rechtsberatungsstellen in ihren Ressourcen und Kompetenzen ist daher nötig, und zwar für den Ausbau ihrer Beratungskapazitäten, aber auch für ihre Vernetzung und den fachlichen Austausch. Diese Stärkung sollte mittels öffentlicher Finanzierung erfolgen: Das Recht auf Rechtsschutz ist in verfassungs- und völkerrechtlichen Normen niedergelegt. Damit es effektiv gewährleistet wird, ist der Staat verpflichtet, aktiv tätig zu werden. Dazu kann die Finanzierung von Rechtsberatungsstellen beitragen. Zudem ist Rechtsberatung auch im Sinne des Rechts auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) als Teil der zu bietenden «Hilfe und Betreuung» zu sehen. Ein Recht auf Rechtsberatung hat in anderen schweizerischen Rechtsbereichen schon erfolgreiche Vorbilder – etwa im Sozialversicherungs- oder Opferhilferecht.

Ausbau der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege umfasst einen Anspruch auf ein kostenloses Verfahren (keine Gerichtskosten) und auf eine unentgeltliche anwaltliche Vertretung. Dieser Anspruch untersteht jedoch Bedingungen:

  • die Antragstellenden müssen bedürftig sein;
  • die Sache darf nicht aussichtslos sein;
  • die Vertretung muss wegen rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten erforderlich sein (Art. 29 Abs. 3 BV).

Die Anwendung und Auslegung dieser Voraussetzungen in sozialhilferechtlichen Streitigkeiten führt dazu, dass unentgeltliche Rechtspflege, insbesondere unentgeltliche Verbeiständung, nur restriktiv gewährt wird: Weil Gerichte den Sachverhalt selber feststellen müssen (Untersuchungsgrundsatz) und das Recht von Amtes wegen anwenden, verneinen sie häufig, dass eine Sache die erforderliche Komplexität aufweist, die für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand notwendig ist. Auch die fehlende Aussichtslosigkeit wird in der Praxis oft verneint, d. h., die Sache wird als aussichtslos beurteilt. In den Analysen gab es ein eindrucksvolles Beispiel eines Urteils (Urteil VB 2017.0066 vom 12. Dezember 2018, Verwaltungsgericht Zürich), das sich in einem komplexen Fall auf 17 Seiten differenziert mit den Argumenten des Rechtsanwalts auseinandersetzte, mit der Abweisung der Klage jedoch beschied, die Aussichtslosigkeit sei von vornherein klar gewesen und die unentgeltliche Rechtsverbeiständung sei daher abzulehnen.

Diese Praxis führt dazu, dass Sozialhilfebeziehende bei Einsprachen, Beschwerden oder Gerichtsverfahren häufig auf sich allein gestellt sind. Dabei ist das Sozialhilferecht an sich schon sehr komplex (worin sich Betroffene, Beratungsstellen, Gerichte und Anwaltschaft einig sind) und auch die Einsprachewege sind je nach Kanton sehr unterschiedlich.

In der befragten Anwaltschaft vertreten 84 Personen (37 %) in sozialhilferechtlichen Streitigkeiten, doch nur 27 von ihnen bezeichnen sich als darauf spezialisiert. Die meisten von ihnen setzen sich aktiv dafür ein, Armutsbetroffenen den Zugang zu erleichtern (Kosten gering halten, Vernetzung mit sozialen Organisationen, Mandate in Fremdsprachen), obwohl ein hohes Risiko besteht, die eigenen Aufwendungen nicht ersetzt zu bekommen. Entsprechend deutlich und ausführlich ist die Kritik der Anwaltschaft an der restriktiven Praxis.

Anwältinnen und Anwälte sind unverzichtbar für den Rechtsschutz, wenn es zu juristischen Schritten kommt; spezialisierte Anwältinnen und Anwälte werden von der Gegenseite auch geschätzt, da sie Konflikte versachlichen, keine aussichtslosen Schritte unternehmen und sie in diesem Sinne für die Rechtsberatung (und nicht nur Vertretung) der Sozial­hilfebeziehenden zentral sind. Anwältinnen und Anwälte reichen Beschwerden und Klagen ein, in einem Grossteil der Fälle suchen sie aber zur einvernehmlichen Klärung nochmals das Gespräch mit dem Sozialdienst.

Unentgeltliche Rechtsverbeiständung sollte daher für einen effektiven Rechtsschutz deutlich häufiger gewährt werden, und zwar auch bereits in verwaltungsinternen Einspracheverfahren. Auf dieser Verfahrensstufe wird die Angemessenheit einer Entscheidung geprüft, was später nur noch sehr zurückhaltend geschieht, weshalb hier ein Rechtsbeistand besonders hilfreich sein kann. In diesem und auch den weiteren Verfahrensschritten könnten vermehrt mündliche Verhandlungen durchgeführt werden. Viele Betroffene fanden es hinderlich und irritierend, ihre persönlichen Verhältnisse nie direkt mündlich darlegen zu können, sondern auf ein verwaltungsrechtliches schriftliches Verfahren zu treffen. Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert einen Anspruch auf mündliche Verhandlungen. Dieser Anspruch muss jedoch explizit geltend gemacht werden.

Genügend personelle und fachliche Ressourcen für wirkungsvolle Arbeit in den Sozialdiensten Betroffene berichten in den Interviews detailliert von der als despektierlich empfundenen Behandlung durch die Sozialdienste, die ihnen «Vorschussmisstrauen» entgegenbrächten. Zu rechtlichen Konflikten führen insbesondere fehlende persönliche Gespräche zwischen Klientinnen und Klienten und fallführender Person (eine Betroffene hatte ihre neue Sozialarbeiterin, die seit über einem Jahr für sie zuständig war, nur per Mail und Telefon erlebt). Aber auch fehlendes Eingehen auf die persönliche Lebenssituation, die nicht einem Standardfall entspricht (und zu grossen existenziellen Nöten führen kann), sowie eine ambivalente Informationspolitik wirken konfliktschürend: Einerseits fühlen sich viele Betroffene nur unzureichend über Rechte und Pflichten aufgeklärt, andererseits werden zu viele (schriftliche) Informationen als belastend erlebt. Dazu passt, dass 85 Prozent der befragten Beratungsstellen regelmässig Ratsuchenden die Schreiben der Sozialdienste erklären. Sozialdienste gewährleisten dann einen chancengerechten Zugang zum Recht, wenn sie ihre heterogene Klientel spezifisch, umfassend und verständlich über ihre Rechte und Pflichten sowie die unabhängigen Beratungsmöglichkeiten und -angebote informieren.

Die oftmals prekären Situationen der Armutsbetroffenen erfordern von den Mitarbeitenden der Sozialdienste ein reflektiertes Handeln, das sich an der Leitidee und dem Menschenbild der sozialen Arbeit orientiert, sich also auf die Menschenrechte, die Stärkung der Fähigkeiten der ­Klientel und deren individuelle Situation bezieht. Hierfür müssen Arbeitsbedingungen gegeben sein, die dies ermög­lichen. Prägnant formuliert: Mehr Zeit für Sozialarbeit in den Sozial­diensten verbessert nicht nur die Reintegration, sondern beugt Konflikten vor. Eine durchgehende Professionalisierung und gegebenenfalls Regionalisierung der Dienste ist hierfür notwendig.

  • Literatur
  • Fuchs, Gesine; Abbas, Marina; Studer, Melanie; Koschmieder, Nikola; Pärli, Kurt; Meier, Anne; Blanchet, Nathalie; Ruch, Marion (2020): Rechts­beratung und Rechtsschutz von Armutsbetroffenen in der Sozialhilfe; [Bern: BSV]. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 18/20: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
  • Marchiori, Teresa (2016): Measuring Women’s and Children’s Access to Justice [Präsentation anlässlich der Konferenz «Zugang zur Justiz für alle: Ein zentrales Menschenrecht. Aktuelle Herausforderungen für die Schweiz im Bereich Frauen- und Kinderrechte»]; Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte. Bern: www.skmr.ch > Schwerpunkte > Zugang zur Justiz > Bericht der Tagung vom 30. August 2016 > Dokumentation.
  • Langen, Maaike de; Barendrecht, Maurits (2008): «Legal Empowerment of the Poor: Innovating Access to Justice», in: Brookings Institution (Hg.); The State of Access: Success and Failure of Democracies to Create Equal Opportunities, Washington D. C.: Brookings Institution Press, S. 250–271.
  • Sandefur, Rebecca L. (2008): «Access to Civil Justice and Race, Class, and Gender Inequality», in Annual review of sociology 34, S. 339–358.
  • SR 0.101 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, abgeschlossen am 4. November 1950, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. November 1974.
PD Dr. phil., Prof. und Projektleiterin, Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
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Dr. iur., Rechtsanwältin, Projektmitarbeiterin der juristischen Fakultät der Universität Basel, Lehrstuhl für Soziales Privatrecht; unterdessen wissenschaftliche Mitarbeiterin Berner Fachhochschule, Soziale Arbeit.
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