Integrationsmassnahmen unterstützen berufliche Eingliederung

Die mit der 5. IV-Revision eingeführten Integrationsmassnahmen (IM) sind ein geeignetes Instrument in der Vorbereitung auf die berufliche (Wieder-)Eingliederung. Mittel- bis längerfristig gelingt es knapp zwei Fünfteln der Versicherten, sich nach Abschluss der IM nachhaltig ins Erwerbsleben zu integrieren.
Sabina Schmidlin, Cyrielle Champion
  |  05. März 2021
    Forschung und Statistik
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung wurden mit der 5. IV-Revision 2008 die Integrationsmassnahmen (IM) eingeführt. IM richten sich an Versicherte, die seit mindestens sechs Monaten zu weniger als 50 Prozent arbeits­fähig sind und ein Eingliederungspotenzial im Hinblick auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt aufweisen (Art. 14a Abs. 1 IVG). Ziel der IM ist der Aufbau der Arbeitsfähigkeit und die schrittweise Heranführung an die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes. Eine vertiefte Analyse der IM und deren Wirkung fehlte bisher. Mit der vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 2019 in Auftrag gegebenen Evaluation wird diese Lücke geschlossen. Der Fokus der Evaluation lag auf der Entwicklung der IM seit 2012 und inwiefern sich Zielgruppe, Durchführung, Kosten und erzielte Wirkung verändert haben.

Nutzung und Entwicklung der IM bei den IV-Stellen Nach einer vierjährigen Einführungsphase sind die IM seit 2012 in allen IV-Stellen etabliert. Allerdings gibt es hinsichtlich Entwicklung und Nutzung der IM Unterschiede: Einzelne IV-Stellen versuchen, möglichst schnell eine Entscheidung in Bezug auf die Eingliederungschancen zu fällen und nutzen die IM aktiv, um die Versicherten möglichst früh im Krankheitsverlauf abzuholen und mit IM zu begleiten. Andere IV-Stellen setzen sie vor allem bei Versicherten ein, die seit längerer Zeit nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt waren. Diese IV-Stellen nutzen IM hauptsächlich, um Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit der Versicherten abzuklären. Sie greifen dann auf andere Massnahmen als IM – vor allem berufliche Massnahmen – zurück, um die Personen an den regulären Arbeitsmarkt heranzuführen.

Das Verhältnis der Anzahl neu zugesprochener IM zu allen IV-Neuanmeldungen gibt einen Hinweis, welche Bedeutung die IM bei den IV-Stellen haben. Bei neun IV-Stellen ist dieses Verhältnis seit dem Jahr 2012 markant gestiegen. Diese IV-Stellen kennzeichnen folgende Merkmale:

  • Ein relativ hoher Anteil der IM findet im regulären Arbeitsmarkt statt (über 25 %).
  • Die Erfolgsquoten sind überdurchschnittlich hoch: Bei diesen IV-Stellen erreichen über 70 Prozent der Versicherten mit Unterstützung der IM eine berufliche Eingliederungsfähigkeit von mindestens 50 Prozent.
  • Die Fallkosten (ohne Taggelder) sind seit 2012 entweder gesunken oder nur leicht angestiegen.
  • Zusätzlich haben die IV-Stellen mit einem überdurchschnittlichen Anstieg neu zugesprochener IM (plus 100 % und mehr) die Zusprachepraxis teilweise gelockert und/oder Massnahmen zur Förderung der IM ergriffen.

Versichertenprofile Die soziodemografische Zusammensetzung und die gesundheitlichen Merkmale der Zielgruppe blieben in den letzten Jahren weitgehend konstant: Etwas mehr als die Hälfte der Personen in IM sind Frauen (52,7 %). Gut zwei Drittel (68,5 %) haben als Haupterkrankung eine psychische Beeinträchtigung. Der Bildungsstand der Personen in den IM ist zwar etwas tiefer als jener der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz ab 15 Jahren. Dennoch verfügen drei Viertel der Versicherten über einen Berufs- oder Tertiärabschluss. Der grösste Teil hat einen Beruf, der zum Dienstleistungssektor zählt. Die Eingliederungsfachpersonen der IV-Stellen stellen zudem fest, dass sie es zunehmend mit komplexeren Fällen zu tun haben: Über 80 Prozent der Versicherten haben zusätzlich zur Haupterkrankung mindestens eine Nebenerkrankung, häufig handelt es sich um multiple psychische Störungen. Neben solchen Komorbiditäten kommen immer öfter auch finanzielle, familiäre und soziale Probleme hinzu, was zu einem steigenden Koordinationsbedarf mit anderen Stellen und Hilfsangeboten führt.

Soziodemografische Merkmale, gesundheitliche Beeinträchtigung und Erwerbssituation vor Zusprache der IM haben einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Massnahmen. Die besten Chancen auf eine berufliche Eingliederung haben Schweizer und Schweizerinnen ohne psychische Haupterkrankung und wenn sie nicht länger als ein Jahr aus dem Erwerbsleben ausgestiegen sind. IV-Renten­bezüger und -bezügerinnen im Wiedereingliederungsverfahren oder Personen, die vor Beginn der IM nicht erwerbstätig sind oder schon mehr als ein Jahr nicht mehr im Erwerbsleben stehen, haben signifikant geringere Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss. Je nach Zusammensetzung der Versichertenprofile unterscheiden sich auch die Erfolgsquoten zwischen den IV-Stellen: IV-Stellen mit einer weniger restriktiven Zusprachepraxis, die seit dem Jahr 2016 – oder bereits vorher – versuchen, die Versicherten möglichst früh im Krankheitsverlauf abzuholen und mit IM zu begleiten, weisen auch höhere Erfolgsquoten aus. Wie entscheidend nach der IV-Erstanmeldung ein möglichst zeitiger Start mit IM für eine erfolgreiche Eingliederung ist, untermauern auch die Zahlen: Dauert es nach der IV-Anmeldung mehr als ein halbes Jahr, bis die IM beginnt, halbieren sich auch die Erfolgschancen.

Umsetzungsmodalität und Dauer der IM Im Vergleich zu den Jahren zuvor tendieren die IV-Stellen in jüngerer Zeit vermehrt dazu, verschiedene aufeinander auf­bauende IM oder die Verlängerung einer IM zu gewähren. Dies kommt der schrittweisen Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung entgegen. Im Durchschnitt werden pro versicherte Person zwei IM (ohne Verlängerung) zugesprochen. Bei bis zu drei IM steigt mit jeder zusätzlichen IM auch die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Abschlusses; ab vier IM erhöhen sich indessen diese Chancen nicht mehr signifikant. Die besten Chancen auf Erfolg bestehen, wenn mindestens ein Teil der IM im regulären Arbeitsmarkt stattfindet und die versicherte Person von einem Job Coach begleitet wird. Mit zunehmender Anzahl IM steigt auch die Dauer, die eine Person in den IM verbringt. Die «klassische» Kombination mit Belastbarkeitstraining und anschliessendem Aufbautraining dauert durchschnittlich gut neun Monate. Startet die IM bereits in der Frühinterventionsphase, werden die Versicherten in der Regel während knapp einem Jahr mit IM begleitet. Verlängert sich die Dauer der IM um einen Monat, steigen die Erfolgschancen nur marginal um den Faktor 1,01.

Abbrüche vor allem im Belastbarkeitstraining Etwa ein Fünftel der IM wird abgebrochen. In der Regel erfolgt der Abbruch bereits im Belastbarkeitstraining. Diese Massnahme der IM wird auch am häufigsten erfolglos abgeschlossen, d. h., nach Abschluss folgen keine weiteren Eingliederungsmassnahmen mehr. Deutlich seltener werden IM abgebrochen, wenn sie als wirtschaftsnahe Integration mit Unterstützung am Arbeitsplatz stattfinden. Dass sich die Abbruchquoten zwischen den fünf in den Fallstudien untersuchten IV-Stellen teilweise deutlich unterscheiden, hängt u. a. auch mit der Zusammensetzung der Zielgruppe in den IM zusammen. IV-Stellen mit einem hohen Anteil an Ver­sicherten, die schon längere Zeit nicht mehr am Arbeitsleben teilhaben, haben höhere Abbruchquoten. Am häufigsten werden IM abgebrochen, weil sich der Gesundheitszustand verschlechtert hat, Fortschritte fehlen oder die Kooperation und Motivation der Versicherten mangelhaft sind.

Steigende Ausgaben für IM bei steigenden Fallzahlen Die Ausgaben für IM stiegen seit dem Jahr 2012 kontinuierlich an, was in erster Linie damit zusammenhängt, dass auch die Versichertenzahl in IM im gleichen Tempo zunahm. Bei einigen IV-Stellen haben sich die Ausgaben trotz steigender Fallzahlen bis ins Jahr 2018 reduziert. Dabei fällt auf, dass diese IV-Stellen IM früher im Krankheitsverlauf einsetzen und die IM häufiger im regulären Arbeitsmarkt in Form einer wirtschaftsnahen Inte­gration mit Support am Arbeitsplatz stattfinden. Ebenfalls in unterschiedlichem Ausmass sind die Fallkosten (ohne Taggelder) zwischen den IV-Stellen gestiegen. Die Höhe der Fallkosten ist eng mit der Dauer und Anzahl der absolvierten IM verknüpft. Der bei einigen IV-Stellen erfolgte Wechsel von der Tages- zur Monatspauschale bei der Finanzierung der Leistungserbringer hat indes keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Fallkostenentwicklung. Es hat sich aber gezeigt, dass Tagespauschalen vor allem bei komplexen Fällen mit vielen Absenzen flexibler einsetzbar sind.

Anschlusslösungen und Übergang in den regulären Arbeitsmarkt Im Durchschnitt erreichen knapp zwei Drittel der Versicherten nach Abschluss der IM eine berufliche Eingliederungsfähigkeit von mindestens 50 Prozent. Die Erfolgsquote der IM ist um neun Prozentpunkte gestiegen. In Kantonen mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote treten die Versicherten signifikant häufiger nach Abschluss der IM nicht direkt in den regulären Arbeitsmarkt ein, sondern absolvieren eine berufliche Massnahme der IV. Welche Anschlusslösung nach Ende der IM gewählt wird, hängt teilweise auch von der Auslegung der IM durch die IV-Stelle ab: IV-Stellen, welche die IM zur Abklärung der Belastbarkeit und zum Aufbau einer Arbeitsfähigkeit von maximal 50 Prozent einsetzen, nutzen anschliessend berufliche Massnahmen, um die Arbeitsfähigkeit der Versicherten weiter zu steigern. Wie gut die Rückkehr in eine Arbeitsstelle in der freien Wirtschaft gelingt, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Erstens kehren Personen, die vor Zusprache der IM weniger als ein Jahr nicht mehr erwerbstätig waren, schneller in den Arbeitsmarkt zurück. Zweitens haben Personen, welche die letzte IM im regulären Arbeitsmarkt absolvierten, bessere Chancen, in eine Arbeitsstelle zurückzukehren.

Mittel- bis längerfristige Wirkung der IM Drei Jahre nach der letzten IM sind 37 Prozent der Absolventen und Absolventinnen in den regulären Arbeitsmarkt integriert. Ein Viertel der Versicherten bezieht eine ganze IV-Rente, 16 Prozent eine Teilrente. Zwei Prozent sind arbeitslos gemeldet, und neun Prozent erhalten Sozialhilfe. Ein Zehntel verfügt drei Jahre nach Abschluss der IM weder über ein Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit noch erhalten diese Personen Leistungen aus dem System der sozialen Sicherheit (vgl. Grafik G1).

Schlussfolgerungen und Empfehlungen Die IM haben sich bei den IV-Stellen als ein geeignetes Instrument in der schrittweisen Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung etabliert. Im Jahr 2018 wurden insgesamt 4172 ver­sicherte Personen im Rahmen der beruflichen Eingliederung neu in eine IM aufgenommen. Im Vergleich zum Jahr 2012 entspricht dies einer Zunahme um 68,8 Prozent. Zugleich ist die Chance, mit Unterstützung der IM eine Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent zu erreichen, um 5 Prozentpunkte angestiegen. Mittel- bis längerfristig können sich knapp zwei Fünftel der Versicherten nach Abschluss der IM nachhaltig ins Erwerbsleben integrieren.

Der Erfolg von IM hängt sowohl vom Profil der Versicherten als auch von den Umsetzungsmodalitäten der Massnahme ab. Darüber hinaus spielen bei der Durchführung der IM auch «weiche» Faktoren wie Zusammenarbeit der beteiligten Akteure, Zielformulierung, Wahl der IM, Begleitung der Versicherten sowie soziale Aspekte (z. B. familiäres Umfeld) eine wesentliche Rolle.

Die Autorinnen des Evaluationsberichts formulieren zehn Empfehlungen für eine Verbesserung der IM:

  • IM sollten möglichst früh im Krankheitsverlauf unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Stabilität und entsprechender Abklärung eingesetzt werden.
  • Werden IM im Rahmen der Wiedereingliederung von IV-Rentenbezügern und -bezügerinnen eingesetzt, sind vorab die reellen Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt sorgfältig zu klären. Dafür sind andere Abklärungsinstrumente als IM einzusetzen.
  • Im Sinne einer umfassenden und koordinierenden Fallführung sollen die verantwortlichen Eingliederungsfachpersonen die Ziele gemeinsam mit den Leistungserbringern, den Versicherten und, wo sinnvoll, mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen definieren.
  • Die Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung im Rahmen einer IM soll schrittweise erfolgen, indem in Phasen gearbeitet wird und die verschiedenen IM-Arten sinnvoll kombiniert werden. Mindestens ein Teil der IM sollte im regulären Arbeitsmarkt stattfinden.
  • Die Ausgestaltung der IM soll sich an flexiblen Modellen orientieren, die auch ein Alternieren zwischen den Durchführungsorten Institution – Arbeitsmarkt erlauben oder intermediäre Arbeitsformen zwischen Institution und Arbeitgebern des regulären Arbeitsmarkts unterstützen und eine enge Begleitung der versicherten Person und des Arbeitgebers gewährleisten.
  • Im Kreisschreiben zu den IM fehlt derzeit eine Regelung, um die versicherten Personen, nachdem sie eine Arbeits­fähigkeit von 50 Prozent erreicht haben, weiter zu fördern – wie dies teilweise von beruflichen Massnahmen oder vom Arbeitsmarkt gefordert wird. Diese Lücke sollte geschlossen werden.
  • Die proaktive Unterstützung der Arbeitgeber soll weiter intensiviert werden, beispielsweise in Form eines regelmässigen Austausches, eines transparenten Informationsflusses oder in Form von Netzwerkveranstaltungen.
  • Die IV-Stellen sollten künftig noch stärker auf eine umfassende Situationsklärung setzen und dabei auch externe Faktoren berücksichtigen bzw. die Koordination und Vernetzung mit den für diese Probleme zuständigen Stellen herstellen.
  • In der Fallführung ist Kontinuität in der Ansprechperson anzustreben – auch über die IM hinaus. Ein besonderes Augenmerk ist zudem auf die Vermittlung von bedarfsgerechten Arbeitsplätzen zu legen, damit diese zu den individuellen Fähigkeiten/Möglichkeiten der versicherten Personen passen.
  • Es ist zu überlegen, in welcher Form die versicherten Personen nach Abschluss der IM auf dem regulären Arbeitsmarkt weiter durch die IV unterstützt und begleitet werden können, beispielsweise während der Probezeit.
Lic. phil. I, Leiterin nationale IIZ-Fachstelle
[javascript protected email address]
Dr. rer. pub., Projektleiterin, Socialdesign.
[javascript protected email address]