Gezielte Entlastung von Krankenkassen mit kostenintensiven Versicherten

Der Risikoausgleich ist ein Kernelement des Solidaritätsprinzips in der Grundversicherung. Er schafft einen finanziellen Ausgleich zwischen Krankenversicherern mit unterschiedlicher Risikostruktur. Mit dem neuen Indikator «Pharmazeutische Kostengruppe» soll die Berechnung dieses Ausgleichs verfeinert werden.
Monika Schmid-Appert
  |  05. Juni 2020
  • Gesundheitspolitik
  • Krankenversicherung

Das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) führte mit seinem Inkrafttreten 1996 für alle in der Schweiz wohnhaften und/oder erwerbstätigen Personen die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) ein. Diese garantiert allen Versicherten eine nach Kanton und Region abgestufte einheitliche Prämie, unabhängig von den zu erwartenden Gesundheitskosten aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder allfälliger Vorerkrankungen. Der damit vollzogene Wechsel zu risikounabhängigen Einheitsprämien schaffte für die Krankenversicherer jedoch Anreize, möglichst gesunde und damit kostengünstige Versicherte zu gewinnen. Um eine solche Risikoselektion zu vermeiden, wurde der prospektive Risikoausgleich gesetzlich verankert: Dabei wird der zu erwartende Leistungsbedarf der einzelnen Versicherten vorausberechnet und ein finanzieller Ausgleich zwischen Krankenkassen mit unterschiedlich teuren Versichertenbeständen geschaffen. Die Organisation des Risikoausgleichs wurde der Gemeinsamen Einrichtung KVG übertragen. Sie ist auch für die Erhebung der Daten zuständig, die zur Berechnung der Ausgleichszahlungen dienen.

Der Schweizer Risikoausgleich Das finanzielle Risiko jeder einzelnen versicherten Person soll anhand von geeigneten Faktoren eingeschätzt werden. Bis 2011 wurden mit «Alter» und «Geschlecht» rein demografische und damit nur indirekte Indikatoren für das Kostenrisiko herangezogen. Ab 2012 stand mit «Aufenthalt in einem Spital oder Pflegeheim im Vorjahr» dann erstmals auch ein direkter Hinweis auf den Gesundheitszustand der Versicherten zur Verfügung. Dieser Krankheitsindikator erfasst Personen, die im Vorjahr hospitalisiert waren, unter der Bedingung, dass der Aufenthalt in einem Spital oder Pflegeheim mindestens drei aufeinanderfolgende Nächte dauerte. Dies soll sicherstellen, dass vornehmlich schwerere Krankheitsfälle mit einem bestehenden Risiko für hohe Folgekosten berücksichtigt werden. Viele kostenintensive Erkrankungen gehen aber nicht zwingend mit einem stationären Aufenthalt einher, was im besonderen Masse auf chronische Krankheiten zutrifft, die häufig lediglich im ambulanten Bereich behandelt werden und für welche die medikamentöse Therapie eine zentrale Rolle spielt. Deshalb wurde ab 2017 mit «Arzneimittelkosten im Vorjahr» und einer zugehörigen Kostenschwelle von 5000 Franken ein zusätzlicher direkter Krankheitsindikator festgelegt. Damit werden auch kostenintensive Versicherte ausserhalb des stationären Bereichs erfasst. Da hierfür die Arzneimittelkosten als Ganzes berücksichtigt werden, ist nicht ausgeschlossen, dass dadurch auch Versicherte mit akuten Krankheiten und einmalig teuren Medikamentenbezügen erfasst werden, die kein Risiko für hohe Folgekosten aufweisen. Mit dem Ziel, Personen mit teuren Diagnosen und einem damit verbundenen dauerhaft hohen Arzneimittelbedarf besser identifizieren zu können, wird der Indikator «Arzneimittel im Vorjahr» ab 2020 durch den Indikator «Pharmazeutische Kostengruppen» ersetzt. Dieser auch «PCG» (Pharmaceutical Cost Groups) genannte Indikator ist weitaus differenzierter und darüber hinaus auch weniger anfällig für Manipulationen.

Identifikation von individuellen Krankheits­risiken Ausgehend von der Definition kostenintensiver chronischer Erkrankungen fassen die PCG die zu deren Behandlung eingesetzten Arzneimittel in Gruppen zusammen. Für jedes dieser Arzneimittel wird eine standardisierte Tagesdosis, eine sogenannte DDD (defined daily dosis), des darin enthaltenen Wirkstoffs festgelegt, die sich so weit wie möglich an dem internationalen Klassifikationssystem für Arzneistoffe (ATC-System) und der DDD-Festlegung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert. Die Zuteilung der Versicherten an eine PCG erfolgt aufgrund einer Mindestmenge von im Vorjahr bezogenen Tagesdosen. Für die Mehrheit der PCG liegt dieser Schwellenwert bei 180 Tagesdosen. Er gewährleistet, dass nur Personen berücksichtigt werden, welche die betreffenden Arzneimittel über einen längeren Zeitraum benötigten und folglich zur Behandlung eines dauerhaften chronischen Leidens erhielten. Grundsätzlich kann eine Person mehreren PCG zugeordnet werden. Um jedoch Mehrfachentschädigungen für die gleiche oder eine verwandte zugrundeliegende Erkrankung zu vermeiden, werden sich überschneidende PCG nach dem Schweregrad der dazugehörigen Krankheit und des damit einhergehenden Leistungsbedarfs hierarchisiert. Für die Zuteilung wird dann nur jeweils die teuerste Gruppe berücksichtigt (vgl. Grafik G1). Erfüllt ein Versicherter zum Beispiel die Kriterien für die PCG «Herzerkrankungen» und «Hohes Cholesterin», so wird er nur der PCG «Herzerkrankungen» zugeteilt. Tritt eine Grunderkrankung häufig mit einer bestimmten nicht PCG-relevanten Begleiterkrankung auf und führt dadurch zu höheren Ausgaben als die Grunderkrankung allein, werden die betroffenen Versicherten in eine kombinierte PCG eingeteilt. Bezieht ein Versicherter Arzneimittel gegen «Diabetes Typ 2» sowie auch «Bluthochdruck» im Umfang von 180 Tagesdosen oder mehr, wird er der PCG «Diabetes Typ 2 mit Bluthochdruck» zugeordnet.

Das Eidgenössische Department des Innern erlässt jährlich eine Liste mit den PCG-relevanten kassenpflichtigen Arzneimitteln und den zugehörigen DDD. Das PCG-Modell basiert auf einem in den Niederlanden bereits seit 2002 erfolgreich angewandten System (vgl. Bill et al. 2019) und umfasst aktuell 34 PCG (vgl. Tabelle T1).

Der neue Risikoausgleich mit PCG, der die Arzneimittelbezüge jedes einzelnen Versicherten miteinbezieht, erhöht massgeblich die Anforderungen an die Krankenkassen bezüglich der zu übermittelnden Daten. Bislang genügte es, wenn jede Krankenkasse ihre Versicherten selbstständig anhand der geltenden Risikofaktoren einteilte und für die Berechnung des Risikoausgleichs aggregierte Daten zu Kosten, Kostenbeteiligung und Beständen der jeweiligen Risikogruppen lieferte. Mit der Einführung des Indikators PCG werden von jeder versicherten Person, neben den Angaben zu den bisherigen Merkmalen Alter, Geschlecht und Spital- oder Pflegeheimaufenthalt, auch die Art und Anzahl der über die Grundversicherung vergüteten Medikamentenpackungen im Vorjahr benötigt. Der Übergang von aggregierten Datenlieferungen zur ungleich komplexeren Übermittlung von anonymisierten Einzeldaten stellt nicht nur höhere Anforderungen an den Datenschutz und die Datenqualität, sondern erfordert auch einen bedeutend grösseren Aufwand für deren Aufbereitung. Durch den Wechsel zur Verwendung von Individualdaten erhöht sich die Datenmenge um ein Vielfaches. Liess sich der Risikoausgleich bislang anhand von rund 170 000 Datensätzen bestimmen, fliessen neu um die 200 Millionen Eintragungen in die Berechnung ein. Die Berechnung der Risikoausgleichszahlungen kann nicht mehr wie bisher mittels einfacher Aggregationsoperationen erfolgen, sondern bedarf einer komplexen Methode. Diese muss die Versicherten zunächst aufgrund ihres Arzneimittelkonsums und der übrigen Risikofaktoren einteilen, die jeweiligen Abgabe- und Beitragssätze für die Risikogruppen bestimmen sowie die erforderlichen Zuschläge für die einzelnen PCG berechnen können; schliesslich muss es auch noch die seit 2019 geltende Entlastung der jungen Erwachsenen beziffern können. Die Gemeinsame Einrichtung KVG, die mit der Durchführung des Risikoausgleichs beauftragt ist, hat zu diesem Zweck eine individuelle Anwendungssoftware entwickeln lassen.

Revision des Risikoausgleichsmodells im Testverfahren Die durch den Einbezug der PCG entstehenden komplexen Anforderungen werden vor der Berechnung des ersten Risikoausgleichs mit PCG im Frühjahr 2021 in drei Probeläufen getestet. Diese dienen einerseits dazu, die Auswirkungen des neu hinzukommenden Krankheitsindikators auf die Risikoausgleichszahlungen abzuschätzen, andererseits bieten sie auch die Möglichkeit, die Qualität der Datenlieferungen und die Funktionsweise der neuen Berechnungssoftware zu überprüfen. Für den zweiten Probelauf, den die Gemeinsame Einrichtung KVG 2019 durchführte und an dem sich 50 von 52 möglichen Krankenversicherern beteiligten, wurden Daten der Behandlungsjahre 2016, 2017 und 2018 von rund 99 Prozent aller für den Risikoausgleich relevanten Versicherten erhoben.

Die Resultate aus diesem Probelauf zeigen, dass der Wechsel von der bisherigen Arzneimittelkostenschranke zu den PCG eine weitere Erhöhung der für den Risikoausgleich zu leistenden Ausgleichszahlungen zwischen den Krankenversicherern bewirkt. Betrug das Umverteilungsvolumen des Risikoausgleichs 2018 mit «Arzneimittelkosten im Vorjahr» 2 Mrd. Franken, steigt dieses durch die Umstellung auf PCG um rund 10 Prozent auf 2,2 Mrd. Franken.

Der neue Indikator erfasst eine weitaus grössere Anzahl von Personen. Während das Merkmal Arzneimittelkosten von über 5000 Franken nur auf rund 2,7 Prozent aller Versicherten zutrifft, liegt der Anteil von Versicherten mit mindestens einer PCG-Zuordnung bei rund 20 Prozent, wobei die Mehrheit (15 %) nur einer PCG, 4 Prozent zwei und 1 Prozent drei oder mehreren PCG zugeordnet sind.

Die Anzahl der Versicherten, die einer PCG zugeordnet werden können, unterscheidet sich je nach Erkrankung stark. Dabei treten «Hohes Cholesterin» und «Depression» mit Abstand am häufigsten auf. Die geringsten Prävalenzen werden dagegen für «Psoriasis», «Pulmonale Hypertonie» und «Wachstumsstörungen» verzeichnet (vgl. Grafik G2).

Die Höhe der Entschädigung, die eine PCG im Risikoausgleich erzielt, gilt schweizweit und wird aufgrund der zu erwartenden Mehrkosten ermittelt, die betroffene Versicherte im Vergleich zu Personen mit gleichem Risikoprofil ohne die entsprechende PCG-Zuordnung aufweisen. Die errechneten Zuschläge zeigen eine hohe Bandbreite. Mit 86 Franken pro Monat wird für «Hohes Cholesterin» der geringste Beitrag, am anderen Ende mit monatlich 5188 Franken für «Nierenerkrankungen» der höchste Zuschlag erreicht (vgl. Grafik G3).

Ein Vergleich der Vorhersagegenauigkeit des neuen Risikoausgleichsmodells mit dem bisherigen Verfahren zeigt, dass sich die Kostenunterschiede zwischen einzelnen Versichertengruppen durch den Wechsel von der Arzneimittelkostenschranke zu PCG besser abschätzen lassen. Der Fehlanreiz zur Risikoselektion lässt sich durch den Einbezug des weitaus spezifischeren Indikators für kostenintensive chronische Erkrankungen also wie erwartet weiter verringern.

Wartung und Weiterentwicklung des Ausgleichsmodells Der ab diesem Jahr geltende Risikoausgleich mit PCG wird im Frühjahr 2021 zum ersten Mal für das Ausgleichsjahr 2020 durchgeführt werden. Die Liste mit den PCG-relevanten Arzneimitteln wird bis dahin wie anschliessend im jährlichen Abstand an das aktuelle Arzneimittelangebot angepasst werden müssen. Die Eidgenössische Arzneimittelkommission EAK wird das Eidgenössische Departement des Innern bei Neuaufnahmen in die Spezialitätenliste in Bezug auf die Zuordnung zu einer PCG und die Festlegung von DDD-Werten beraten. Um dem medizinischen Fortschritt und dem damit einhergehenden stetigen Wandel der Therapien gerecht zu werden, soll das PCG-Ausgleichsmodell anhand der Erfahrungswerte aus dem Risikoausgleich darüber hinaus periodisch überprüft und weiterentwickelt werden. Dies wird in grösseren Zeitabständen von drei bis fünf Jahre nötig sein und den Beizug von zusätzlichen Experten erfordern.

Gleichzeitig wird die Diskussion zur Verbesserung des Risikoausgleichsmodells fortgeführt. Im Fokus stehen hierbei verschiedene Aspekte, wie beispielsweise der Umgang mit der zunehmenden Anzahl an hochspezialisierten und extrem teuren Medikationen.

Dr. sc. nat., wissenschaftliche Mitarbeiterin, 
Direktionsbereich Kranken- und Unfallver­sicherung, Abteilung Versicherungsaufsicht, 
Sektion Prämien und Solvenzaufsicht, BAG.
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