Gewalt und Vernachlässigung im Alter verhindern

Jährlich sind in der Schweiz zwischen 300 000 und 500 000 Menschen ab 60 Jahren von Gewalt und Vernachlässigung betroffen. Eine aktuelle Studie hat das Phänomen und existierende Präventionsmassnahmen untersucht.
Paula Krüger, Cécile Bannwart
  |  24. September 2020
    Forschung und Statistik
  • Alter
  • Gesellschaft

Ende März 2020 provozierte der Oberbürgermeister von Tübingen und Grünen-Politiker Boris Palmer mit dem Satz «’Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären’» (NZZ 2020). Damit zielte er auf Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, wie die «räumliche Distanzierung», die u. a. zum Schutz älterer Menschen und anderer Risikogruppen eingeführt wurden, weil diese häufiger schwerere Krankheitsverläufe erleben als andere Bevölkerungsgruppen. Diese Äusserung kommt einer Diskriminierung älterer Menschen gleich, die damit implizit als nicht schützenswert deklariert werden. Doch auch Massnahmen wie die «räumliche Distanzierung» selbst können diskriminierend sein, wenn älteren Menschen damit die Fähigkeit abgesprochen wird, sich im sozialen Raum frei zu bewegen und sich gleichzeitig vor einer Infektion mit dem Coronavirus schützen zu können. Hier stellt sich die Frage, welches Bild wir von älteren Menschen und dem Alter haben.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt Altersdiskriminierung zu den spezifischen Formen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. Zu diesem komplexen Thema ist in der Schweiz bisher wenig bekannt. Beispielsweise ist unklar, wie viele der 2,1 Mio. hier lebenden älteren Menschen (ab 60 Jahren) (Bundesamt für Statistik 2019) davon betroffen sind. Darüber hinaus fehlt ein Überblick über bestehende Massnahmen, die Gewalt und Vernachlässigung im Alter verhindern oder Betroffene unterstützen können. Im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) wurde in einer umfassenden Studie (Krüger et al. 2020) untersucht,

  • was man unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht,
  • wie viele Menschen in der Schweiz davon betroffen sind,
  • welche Präventionsmassnahmen es in Fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter gibt,
  • was über ihre Wirksamkeit bekannt ist und
  • welche Lücken es diesbezüglich allenfalls in der Schweiz gibt.

Zur Untersuchung der Fragestellungen wurde ein multimethodisches und multiperspektivisches Studiendesign gewählt. Bestandteile waren eine Übersicht über die internationale Literatur, eine Internetrecherche und Dokumentenanalyse. Ferner wurden relevante Statistiken (z. B. Polizeiliche Kriminalstatistik, institutionelle Statistiken) sowie in der Schweiz erhobene Daten von Opfer- und Zeugenbefragungen mit Blick auf Fälle von Gewalt gegen ältere Menschen analysiert. Ergänzend zur Auswertung dieser verschiedenen Dokumente und Daten wurden folgende Befragungen durchgeführt: 27 Vertreterinnen und Vertreter relevanter Akteure (u. a. Schweizerisches Rotes Kreuz, verschiedene Bundesämter) wurden telefonisch befragt, Mitarbeitende von 32 einschlägigen Fachstellen füllten einen Online-Fragebogen aus. Beiden Gruppen wurden Fragen zu ihnen bekannten Statistiken und Präventionsmassnahmen gestellt. Bei einer repräsentativen Stichprobe stationärer und ambulanter Alters- und Pflegeeinrichtungen (inkl. Spitäler) sowie Spitex-Diensten (N=149) wurde telefonisch abgeklärt, ob sie Statistiken zu Fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter führen. 89 dieser Einrichtungen und Dienste nahmen zusätzlich an einer Online-Umfrage zu ihnen bekannten und in den Institutionen eingesetzten Präventionsmassnahmen teil. Die Analyse der so zusammengetragenen Dokumente und Daten mündete in der Formulierung erster Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Diese wurden abschliessend in sechs Fokusgruppen in allen drei Sprachregionen von Vertreterinnen und Vertretern zentraler Einrichtungen in Fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter (u. a. Spitex, Polizei, Erwachsenenschutzbehörden) diskutiert und validiert. In zwei weiteren Fokusgruppen diskutierten Personen, die sich stellvertretend für ältere Gewaltopfer äusserten. Im Folgenden werden die wichtigsten Studienresultate kurz zusammengefasst.

Verständnis und Verbreitung von Gewalt und Vernachlässigung im Alter Bis heute gibt es keine einheitliche, international gültige Definition von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. Strittig sind z. B. die folgenden Fragen: Ab wann gilt man als alt? Muss ein Vertrauensverhältnis zwischen gewaltausübender und -betroffener Person bestehen? Muss absichtlich gehandelt bzw. nicht gehandelt worden sein? Muss dem Opfer ein Schaden entstanden sein? Zwar gibt es verschiedene Definitionen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter, in der einschlägigen Literatur wird jedoch häufig auf die Definition der WHO Bezug genommen. Hiernach meinen Gewalt und Vernachlässigung im Alter eine einmalige oder wiederholte Handlung oder Unterlassung angemessener Handlungen innerhalb einer Vertrauensbeziehung, die einer älteren Person (ab 60 Jahren) Verletzungen oder Leid zufügt (WHO 2015). Diese Definition erscheint insofern gut geeignet, als sie breit genug ist, um verschiedene Formen und Kontexte von Gewalt und Vernachlässigung im Alter zu fassen. So berücksichtigt die WHO neben Altersdiskriminierung, d. h. der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters, folgende Gewaltformen: körperliche, psychische, sexuelle und finanzielle Gewalt (z. B. Verwendung von Vermögen gegen den Willen des älteren Menschen) sowie Vernachlässigung (z. B. Unterlassen notwendiger Pflege) und schwerwiegende Verletzungen der Würde und des Respekts. Für diese Definition spricht zudem, dass sie mit dem Verständnis von Gewalt gegen Frauen sowie häuslicher Gewalt nach der Istanbul-Konvention vereinbar ist. Will man ältere Menschen mit Präventionsmassnahmen erreichen, muss jedoch auch berücksichtigt werden, was diese selbst unter Gewalt und Vernachlässigung verstehen (Krüger et al. 2020).

Auf Bundesebene gibt es bisher ebenfalls keine einheitliche Definition von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. Konzeptuelle Unterschiede erschweren jedoch den Diskurs über das Thema sowie die Erfassung konkreter Fälle. So liegen für die Schweiz denn bisher auch keine aussagekräftigen Daten vor, die Auskunft über alle genannten Gewaltformen geben könnten. Legt man jedoch internationale Schätzungen sowie die analysierten nationalen Daten zugrunde, muss davon ausgegangen werden, dass jährlich etwa 300’000 bis 500’000 ältere Menschen (ab 60 Jahren) Opfer von Gewalt und/oder Vernachlässigung werden. Altersdiskriminierung ist dabei noch nicht berücksichtigt. International wie national zählen finanzielle und psychische Gewalt zu den häufigsten Gewaltformen im Alter (Krüger et al. 2020). Dabei gilt: Je höher der Unterstützungsbedarf einer Person, desto vulnerabler ist diese. Entsprechend gelten u. a. ein höheres Alter (ab 75 Jahre), körperliche, kognitive und/oder psychische Beeinträchtigungen sowie ein geringer sozioökonomischer Status und soziale Isolation zu den bekannten Risikofaktoren für Gewalt und Vernachlässigung im Alter (WHO 2015). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass beides insbesondere im Kontext häuslicher und stationärer Pflege diskutiert wird. Als Erklärung für Gewalt in diesem Kontext wird häufig die Überforderung der Pflegenden genannt. Im privaten Umfeld kann Gewalt aufgrund der Pflegesituation in der Beziehung neu auftreten oder sich im Alter fortsetzen, wobei es hierbei zu einer Rollenumkehr kommen kann: Die zuvor von der Gewalt betroffene Person wird nun zur gewaltausübenden Person. Dies kann in Partnerschaften ebenso wie in Eltern-Kind-Beziehungen vorkommen.

Breite Palette an Präventionsmassnahmen Für die Betroffenen sind Gewalt und Vernachlässigung nicht allein mit körperlichen Verletzungen bis hin zum Tode verbunden. Sie führen auch zu psychischen Beeinträchtigungen und zu einem höheren Risiko für eine Heimplatzierung (u. a. WHO 2015). Entsprechend wichtig sind Präventionsmassnahmen, die von der allgemeinen Vorbeugung (Primärprävention) über die Früherkennung (Sekundärprävention) bis zur gezielten Verhinderung wiederholter Gewalt und Vernachlässigung (Tertiärprävention) reichen müssen. In der Schweiz gibt es bereits heute auf verschiedenen Ebenen Massnahmen, die gewaltpräventiv wirken können, die aber nur selten Gewalt und Vernachlässigung explizit adressieren. Das sind zum einen Grundlagen (Konzepte, Richtlinien, Rechtsgrundlagen etc.), zum anderen konkrete Massnahmen (z. B. Schulungen, Beratungsangebote, Qualitätssicherung in der Pflege), die sich an verschiedene Zielgruppen wie Betroffene, gewaltausübende Personen oder Zeuginnen und Zeugen richten.

Zu den Grundlagen, die gewaltpräventiv wirken können, zählen eine Reihe politischer Aktionspläne, Strategien und Programme des Bundes, der Kantone und der Gemeinden, die auf bekannte Risikofaktoren wie die Überlastung von Pflegenden zielen. Zu nennen sind hier beispielsweise die bundesrätliche Strategie Gesundheit2020 oder das Förderprogramm Entlastungsangebote für betreuende Angehörige. Überdies gibt es auf Ebene der Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie der Spitex-Dienste Konzepte oder Leitlinien zur Gewaltprävention. Diese Vorgaben gehen zum Teil auf kantonale Massnahmen zurück. In verschiedenen Bereichen des öffentlichen und privaten Rechts gibt es zudem rechtliche Normen, die gewaltpräventiv wirken können. Beispielsweise kann ein Vorsorgeauftrag nach Art. 360–369 ZGB helfen, sich vor finanzieller Gewalt im Alter zu schützen. Mit einem solchen Vertrag können ältere Personen u. a. bestimmen, wer für ihre Finanzen verantwortlich zeichnet, wenn sie das nicht mehr alleine machen können. Für das Ziel einer möglichst frühzeitigen Entdeckung und Intervention in Fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter sind besonders Regelungen zu Melderechten und -pflichten relevant. So besteht für Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz nach Art. 443 Abs. 1 ZGB ein Melderecht in (Verdachts)-fällen von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. In einigen Kantonen ist sogar eine Meldepflicht unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen (z. B. im Tessin). Im Kanton Waadt wurden zudem gesetzliche Massnahmen ergriffen, die zu mehr Sicherheit auf Seiten der Meldenden führen und so Hindernisse für eine Meldung abbauen sollen. So wird, wer einen Verdacht auf Gewalt oder Vernachlässigung meldet, u. a. vor rechtlichen Konsequenzen einer Meldung geschützt, z. B. durch einen Kündigungsschutz von zwei Jahren nach einer Meldung (Krüger et al. 2020). Als Hilfestellung bei der Umsetzung gewisser rechtlicher Bestimmungen haben verschiedene Akteure Informationsmaterialien und Vorlagen erstellt. Zu nennen sind hier etwa die Hilfen zur Erstellung eines Vorsorgeauftrages von Pro Senectute oder Alzheimer Schweiz. Curaviva Schweiz informiert u. a. über den Umgang mit bewegungseinschränkenden Massnahmen.

Neben solchen Grundlagen wird in der internationalen Literatur die Wissensvermittlung als zentrale konkrete Präventionsmassnahme diskutiert. Dazu gehören einerseits Informationskampagnen, die sich an die Bevölkerung richten (z. B. «16 Tage gegen Gewalt an Frauen»), andererseits Bildungsmassnahmen, die sich in erster Linie an Vertreterinnen und Vertreter der wesentlichen Berufsgruppen richten. In der Schweiz stehen Fachpersonen bereits heute eine Reihe solcher Bildungsangebote teilweise kostenlos zur Verfügung. Bund und Kantone finanzieren zum Teil entsprechende Massnahmen. Solche Bildungsmassnahmen dienen einerseits der Primärprävention, andererseits der Früherkennung, insofern relevante Akteure für die Problematik sensibilisiert werden und ihnen aufgezeigt wird, wie sie im Verdachtsfall vorgehen können. Unterstützend fassen Broschüren entsprechende Informationen zusammen. In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Wissensvermittlung für die Gewaltprävention ist es erfreulich, dass 63 Prozent der befragten Mitarbeitenden von stationären und ambulanten Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie Spitex-Diensten mindestens eine Schulung zu einem in diesem Kontext relevanten Thema besucht hatten. Dies traf vor allem auf Pflegefachpersonen aus der lateinischen Schweiz zu. Bei anderen relevanten Berufsgruppen, wie etwa den Hausärzten und Hausärztinnen, muss jedoch von einer geringeren Schulungsquote ausgegangen werden. Einerseits ist das Thema innerfamiliäre Gewalt allgemein nicht systematisch in den Aus-, Fort- und Weiterbildungscurricula von Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz implementiert, andererseits ist das Bildungsangebot unter den Fachpersonen zu wenig bekannt (Krüger et al. 2020).

Weitere Massnahmen, mit denen Gewalt und Vernachlässigung bei älteren Menschen in der Pflege verhindert werden sollen, betreffen die Qualitätssicherung beispielsweise durch Qualifizierungsmassnahmen beim Personal, das Einstellungsverfahren von Pflegefachkräften durch eine Überprüfung des Strafregisterauszugs sowie die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals (z. B. Meldesystem für Überlastung). Hier hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie der Spitex-Dienste bereits entsprechende Massnahmen getroffen hatte. Zur Unterstützung der gewaltbetroffenen älteren Menschen selbst stehen ebenfalls eine Reihe von Angeboten, wie Opferhilfeberatungs- oder Ombudsstellen, zur Verfügung. Auf nationaler Ebene gründeten Alter Ego, Pro Senectute Ticino e Moesano sowie die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter 2019 die nationale Anlaufstelle «Alter ohne Gewalt». Weniger verbreitet sind bisher hingegen aufsuchende und familienorientierte Angebote sowie zugehende Beratungen. Ihnen kommt jedoch eine grosse Bedeutung zu, da die Kontaktaufnahme mit Hilfsangeboten für viele ältere Menschen eine Hemmschwelle darstellt. Darüber hinaus fehlt es an flächendeckenden niederschwelligen Angeboten für gewaltausübende Personen. Unterschätzt ist zudem sicherlich die mögliche gewaltpräventive Wirkung von Massnahmen zur Gestaltung des räumlichen und sozialen Umfeldes älterer Menschen (Krüger et al. 2020).

Kein Grund, sich zurückzulehnen Es gibt bereits heute auf verschiedenen Ebenen Massnahmen für verschiedene Zielgruppen, die von öffentlichen und privaten Akteuren entwickelt wurden und die zumindest das Potenzial haben, gewaltpräventiv zu wirken. Nur in wenigen Bereichen gibt es Lücken. Dieser Befund ist jedoch kein Grund, sich zurückzulehnen. Denn zum einen adressiert kaum eine der identifizierten Strategien oder Massnahmen das Thema Gewalt und Vernachlässigung im Alter explizit. Das Thema bleibt unsichtbar. Dies gilt selbst für Strategien, die der Bekämpfung von interpersoneller Gewalt im Allgemeinen oder häuslicher Gewalt im Besonderen dienen sollen. Die besonderen Dynamiken von (häuslicher) Gewalt gegen ältere Menschen und die Bedürfnisse der Betroffenen werden hier entsprechend nur selten berücksichtigt. Die Betroffenen werden hierdurch weniger gut erreicht. Zum anderen bestehen grosse Wissenslücken: Es fehlt an Wissen zur Thematik allgemein, zum Fallaufkommen in der Schweiz sowie zur Wirksamkeit der bekannten Massnahmen im Bereich der Prävention von Gewalt und Vernachlässigung im Alter. Gerade zu Letzterer liegen auch international kaum belastbare Daten vor. Darüber hinaus müssen die bestehenden Angebote und Akteure besser koordiniert werden. Bei der Beurteilung der Versorgungssituation muss ferner berücksichtigt werden, dass sich die getroffenen Massnahmen und das zur Verfügung stehende Angebot von Kanton zu Kanton unterscheiden. Hier zeigen sich insbesondere deutliche Unterschiede zwischen der deutschsprachigen und der lateinischen Schweiz. So wird das Thema Gewalt und Vernachlässigung gegen ältere Menschen in der lateinischen Schweiz politisch und in der pflegerischen Praxis stärker thematisiert, wodurch die Anstrengungen der beteiligten Akteure stärkere Wirkkraft entfalten können. Für diese regionalen Unterschiede lassen sich zwei Erklärungen finden: Zum einen liegt in der lateinischen Schweiz der Fokus auf der bientraitance. Es wird also darauf fokussiert, was es heisst, jemanden «gut» zu behandeln verknüpft mit dem Thema der «Miss»handlung. Hierdurch fühlen sich Pflegende vermutlich eher angesprochen, als wenn sie als potenzielle Täterinnen oder Täter angesprochen werden. Zum anderen könnten die Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweiz darauf zurückzuführen sein, dass das Thema interpersonelle Gewalt aus unterschiedlicher politischer Perspektive betrachtet wird: Wird in der Deutschschweiz eher ein sicherheitspolitischer Zugang gewählt, wird in der Westschweiz stärker ein gesundheits- und sozialpolitischer Ansatz verfolgt. Diese unterschiedlichen Perspektiven beeinflussen den gesellschaftlichen Diskurs über (häusliche) Gewalt ebenso, wie die Entwicklung entsprechender Präventionskonzepte. So wurden diese in der Westschweiz häufig unter Beteiligung von Gesundheitsfachpersonen entwickelt. In der Deutschschweiz entwickeln Kantone und praktizierende Gesundheitsfachpersonen entsprechende Konzepte hingegen häufiger unabhängig voneinander, was die Nutzung von Synergien verhindert (Krüger et al. 2020).


Braucht es ein gemeinsames Präventionsprogramm?

In Erfüllung des Postulats Glanzmann-Hunkeler (15.3945) hat der Bundesrat am 18. September 2020 den Bericht «Gewalt im Alter verhindern» verabschiedet. Dieser stützt sich auf die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie und liefert eine Bestandsaufnahme zu Gewalt im Alter. Der Bundesrat hat zudem das Eidgenössische Departement des Innern damit beauftragt, bis im Herbst 2021 zusammen mit den Kantonen und den zuständigen Akteuren zu beurteilen, ob ein gemeinsames Präventionsprogramm nötig ist.


Ausblick Gewalt und Vernachlässigung im Alter ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, das nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels noch an Bedeutung gewinnen wird. Mit Blick auf die Schweiz zeigt die Studie eindeutig, dass wir bisher sowohl wenig über Gewalt und Vernachlässigung im Alter an sich wissen als auch über die Wirksamkeit bekannter Präventionsmassnahmen. Für eine nachhaltige Prävention ist jedoch mehr als nur Wissen über das Phänomen nötig. Vielmehr sollte ein gesellschaftlicher Diskurs über Gewalt und Vernachlässigung im Alter, über die existierenden Bilder des Alters und des Alterns sowie über das Generationenverhältnis in Gang gesetzt werden. Diese Themen sollten künftig bei politischen und strategischen Entscheidungen im Sinne eines Mainstreamings mitgedacht und langfristig verankert werden. Zusammenfassend zielen die aus den Befunden abgeleiteten Empfehlungen somit auf folgende Schwerpunkte:

    • Wissensgenerierung und -vermittlung über das Phänomen insbesondere innerhalb bestimmter Berufsgruppen sowie Schaffen eines Bewusstseins für das Thema in der Gesellschaft;
    • Koordination, verbessertes Zusammenspiel und Stärkung bestehender Angebote auf allen drei Präventionsebenen und
    • Ausbau bestimmter Angebote und Massnahmen (z. B. ambulanter und zugehender Angebote).

Als Rahmen für die Umsetzung der Empfehlungen sollte ein nationaler Aktionsplan «Gewalt und Vernachlässigung im Alter» lanciert werden.

  • Literatur
  • NZZ, 4.5.2020.
  • Krüger, Paula; Bannwart, Cécile; Bloch, Lea; Portmann, Rahel (2019): Gewalt im Alter verhindern; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 2/2020: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
  • Bundesamt für Statistik (2019): Ständige Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeitskategorie, 2010–2019: www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > 01 – Bevölkerung > Stand und Entwicklung > Alter, Zivilstand, Staatsangehörigkeit
  • SR 0.311.35 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), abgeschlossen in Istanbul am 11. Mai 2011, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. April 2018.
  • World Health Organization (WHO 2015): World Report on Ageing and Health; Genf: WHO.
Dozentin und Projektleiterin, Institut Sozialarbeit und Recht, Hochschule Luzern
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MA, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
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