Förderung von Menschen mit Autismus in England

Als wohl einziges europäisches Land kennt England ein Gesetz, das die Förderung und 
den Schutz von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) spezifisch regelt. Mit einer persönlichen Perspektive auf das Thema diskutiert der Autor das Potenzial des eng­lischen Ansatzes.
Thomas Ihde
  |  07. Juni 2019
  • Behinderung
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es jeweils war. Ich sass in irgendeiner Sitzung, mein Natel vibrierte. Und da war er schon da, dieser Schreckensgedanke. Was war wieder passiert? Was hatte «er» wohl wieder gemacht? Was hatten aber auch «sie» gemacht? Ob es sich lohnen würde zu intervenieren? Oder nicht gleich wieder die Zelte abbrechen? Aber was dann? Viel blieb nicht mehr übrig.

Ein Kind mit besonderer Wahrnehmung «Er» – das war und ist unser Sohn; lange erwartet, ein Wunschkind. Viel zu früh kam er, dank der modernen Medizin entwickelte er sich aber bestens. Durchschnittlich war er nie. Er selbst sagte immer, er sei in Alaska zur Welt gekommen, da sei man halt einfach anders und trage halt auch im Winter nur ein T-Shirt. Wir dachten immer, seine Eltern sind ja auch nicht gerade durchschnittlich und irgendwie wurde das halt potenziert. Er liebte Märklin-Kataloge. Daraus schnitt er die Lokomotiven und Bahnwagen aus, klebte sie aneinander und fertigte so Züge an, meterlange Züge. Wenn einer fertig war, kam der nächste; geschätzte 17 485 Züge. Das hatte etwas Meditatives, auch für uns Eltern. Er liebte die Niederlande, oder zumindest deren Fussballtrikots. Wir wissen nicht, ob es die orange Farbe war oder die Weichheit des Stoffs. Aber über zweieinhalb Jahre lang war es das einzige, was er trug. Schwieriger waren die Wechsel, vor allem wenn sie von aussen kamen. Ein einfaches «es ist jetzt Zeit, zur Schule zu gehen» konnte zu einer zweieinhalbstündigen Blockade führen, in der absolut nichts mehr ging. Sehr schwierig war das Soziale. Mochte er ein anderes Kind, schubste er es. Das kam nicht gut an beim Kind, noch weniger bei dessen Eltern. Unser Sohn zog sich immer mehr zurück. Wir Eltern uns auch.

«Das Netz gehörte aber der Institution, nicht unserem Sohn» «Sie» – das waren die Schulen und Institutionen. Ganz tolle hatten wir erlebt, mit Lehrerinnen, die Inklusion wirklich verstanden und lebten, die in jedem Kind Stärken und ein Potenzial sahen. Gelebte Vielfalt. Es gab aber auch die anderen. Sie waren Experten im Sehen von Defiziten. Und sie waren gut im Mitleid: «Es ist so schade, dass ihr Sohn Autist ist, er hätte so viel Potenzial und wäre so intelligent,» hiess es jeweils. Und sie waren ebenfalls gut in Schulausschlüssen. Aber auch dies natürlich verbunden mit Mitleid: «Es tut uns so leid, dass wir leider die Bedürfnisse ihres Sohnes nicht abdecken können.» Mit jedem Ausschluss wurde es schwieriger. Es gab immer weniger Möglichkeiten. Unser Sohn und auch wir verloren den Mut. Und wir fühlten uns sehr alleine. Es gab Institutionen, da hatten wir ein tolles Team und ein gutes Sicherheitsnetz. Das Netz gehörte aber der Institution, nicht unserem Sohn. Mit dem Wegfall der Institution fiel auch das jeweilige Sicherheitsnetz weg. Freier Fall und nach der Landung jeweils ein Neubeginn bzw. die Suche an einem neuen Ort. Ich kann mich noch gut an die Szene erinnern, als unser elfjähriger Sohn auf der Treppe vor der Wohnung sass und weinte. Er wolle einfach diesen Autismus nicht, sagte er. Ein paar Tage später brach er sich auf genau derselben Stufe den grossen Zeh. Die Operation misslang, er erhielt einen Riesengips und einen Rollstuhl; dies am Vortag einer grösseren Reise. Die Reise war eine unserer schönsten. Der Ort war voller Treppen. Die Menschen packten aber einfach den Rollstuhl und trugen unseren Sohn die Treppe rauf oder runter. Der Rollstuhl war zwar ein Handicap; aber nicht nur. Indirekt ermöglichte er unserem Sohn Kontakte und Erfahrungen, die ohne nie stattgefunden hätten. Er liebte diesen Rollstuhl, hätte ihn am liebsten behalten. Der Rollstuhl machte ein Handicap sichtbar und förderte dadurch die Bereitschaft der Menschen, situationsgerecht auf unseren Sohn einzugehen; eine Erfahrung, die er als Autist bislang allzu selten gemacht hatte. Der Rollstuhl gab ihm ein Gefühl von Sicherheit und Distanz. Auf dieser Reise zogen wir Bilanz.

Eine Bilanz Unser Sohn hatte mittlerweile sechs verschiedene Schulen besucht, war durch zwei Institutionen betreut worden mit wiederum sechs verschiedenen Bezugspersonen, und es hatten sich sechs verschiedene Psychiater um ihn gekümmert. Dazu hatte er innerhalb von sechs Monaten sechs Institutionen besichtigt, wo er nicht hinpasste. Und niemand wusste recht, wie weiter. Autismus Approach schätzten wir sehr, sie waren kompetent, aber sehr überlastet: Eine Stunde Privatunterricht, mehr lag nicht drin, den Rest der Zeit war unser Sohn zu Hause. Eine vorbildliche autismusspezifische Privatschule am Genfersee lag ausserhalb unserer finanziellen Möglichkeiten. In aller Not waren wir aber auch privilegiert. Unser Sohn sprach Englisch und wir waren mobil. Wir entschieden uns, über den Tellerrand zu blicken – nach England.

Komplexe Strukturen auch anderswo

Das Vereinigte Königreich von Grossbritannien und Nordirland gilt zwar als Einheitsstaat, dennoch weisen die vier Länder England, Schottland, Wales und Nord­irland in unterschiedlichen Politikbereichen unterschiedliche Autonomiegrade auf. Der im Text beschriebene «Autism Act» mit seinen Massnahmenplänen gilt beispielsweise nur für England. Dies führt zu grossen Versorgungsunterschieden etwa zwischen England und dem angrenzenden Wales, was wiederum zur Folge hat, dass Waliser mit ASS-betroffenen Kindern nach England ziehen.

Erfahrungs- und Erkenntnisvorsprung in ­England In den uns wichtigen Themen hatte England einen Vorsprung der Schweiz gegenüber. Die nationale Autismusstiftung (NAS) war vor über 50 Jahren gegründet worden, in der Medizin wurden ASS Mitte der Neunzigerjahre zu einem grossen Thema, also fast 20 Jahre früher als in der Schweiz. Auch die inklusiven Schulformen wurden im Vereinigten Königreich vor 30 Jahren umgesetzt. Gleichzeitig entwickelten sich Strukturen für Kinder und Jugendliche, die nicht inkludiert beschult werden konnten, weil es ihre Reizverarbeitung bzw. die Reizüberflutung nicht zuliessen. Trotz all dieser Massnahmen wurde man sich aber im Jahr 2005 bewusst, dass noch mehr getan werden musste, gerade in Bezug auf die so genannten versteckten oder unsichtbaren Behinderungen (hidden disabilities). Autismus galt als das eindrücklichste Beispiel einer versteckten oder unsichtbaren Behinderung, und dies in doppelter Hinsicht. Erstens erkannte man die Beeinträchtigung nicht auf den ersten Blick, was zu Problemen führen konnte. Und zweitens war keine andere Gruppe in der eng­lischen Öffentlichkeit so unsichtbar, wie die autismusbe­troffenen Menschen. Betroffene lebten im Jahr 2005 sehr marginalisiert und zurück­­gezogen. Nur 15 Prozent waren mit einer Vollzeitanstellung im ersten Arbeitsmarkt berufstätig, etwas über 30 Prozent mit einer Teilzeitanstellung. Nur 25 Prozent absolvierten nach den elf obligatorischen Schuljahren eine weiterführende Ausbildung. Die Hauptbetreuung erfolgte durch die Familie und die wenigsten Menschen lebten unabhängig in einer eigenen Wohnung. Kinder und Jugendliche wie unseren Sohn gab es auch in England. Kinder und Jugendliche, die nicht nur ihr Potenzial nicht ausschöpfen konnten, sondern Jahr für Jahr mehr an Boden verloren. Man spricht hier von den sogenannten Sekundärphänomenen der Autismus-Spektrum-Störungen. Dabei verlieren die betroffenen Jugendlichen an Selbstvertrauen und an jeglichem Gefühl für Selbstwirksamkeit. Sie beginnen sich zurückzuziehen, ihre Stressresistenz sinkt, sie werden depressiv, geben auf und zeigen noch mehr Verhaltensauffälligkeiten. Folglich gab es auch in England eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr im Schulsystem waren und von den Eltern zu Hause betreut wurden. Und ähnlich wie ein Kanton Bern noch vor wenigen Jahren, wusste auch England nicht, für wie viele Kinder und Jugendliche das Schul- und Sonderschulsystem keine Lösung hatte. Man wusste einzig, dass es bei der Hälfte aller Kinder und Jugendlichen im ASS-Spektrum zumindest zu einem temporären Schulausschluss gekommen war.

Ein Gesetz zur Förderung und zum Schutz autistisch wahrnehmender Menschen Mit dem «Autism Act» von 2009 traf England erstmals gesetzliche Massnahmen zur Förderung und zum Schutz autistisch wahrnehmender Menschen. Ab 2010 wurde ein erster Massnahmenplan (fullfilling and rewarding lives) umgesetzt. 2014 erfolgte mit think autism der zweite. Noch 2019 folgt der nächste. Die beiden ersten Massnahmenpläne konzentrierten sich auf Erwachsene. Gleichwohl wurden dadurch auch die Schul- und Sonderschulverordnung mit wichtigen Punkten für Kinder und Jugendliche mit ASS ergänzt. Das reichte aber nicht aus, um deren Bedürfnisse gänzlich zu berücksichtigen, sodass ab 2019 nun erstmals ein spezifischer Massnahmenplan für Kinder und Jugendliche implementiert wird.

Frühe Diagnose, umfassende und bedürfnisgerechte Betreuung Eine frühe Diagnosestellung, interdisziplinäre, kontinuierliche Begleitung mit Finanzierungsentscheiden direkt am runden Tisch, Fachwissen und Fachlichkeit sowie gesellschaftliche Anpassungen sind die Eckpfeiler des englischen Systems.

Liegt das Alter bei der Diagnosestellung derzeit bei fünf Jahren, soll es dank eines entsprechenden Screenings durch Hausärzte auf zwei Jahre gesenkt werden. Aber auch bei Erwachsenen soll die Diagnostik schnell und standardisiert erfolgen. Nach der Diagnosestellung übernimmt ein interdisziplinär besetztes Autismusteam mit Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen die integrierte Betreuung. Geleitet wird die Gruppe von einer Case-Managerin, welche von der NAS oder einer auf ASS spezialisierten regionalen Stiftung angestellt ist. Dieses Team begleitet die Betroffenen und ihre Familien nicht über Monate, sondern über Jahre durch alle Settings hindurch. Das Team gehört zum Betroffenen, nicht zu einer Institution. Als interdisziplinäre Gremien umfassen sie Vertreter der Bereiche Gesundheit, Frühförderung/Schule, berufliche Massnahmen und Soziales. Die Treffen finden mindestens vier Mal im Jahr, am Anfang und bei Krisen einmal in der Woche statt. Alle sitzen immer gemeinsam am Tisch; Eltern haben also nicht Termine bei den verschiedenen Amtsstellen und müssen sich das geeignete Setting dann selbst zusammenpuzzlen. Es wird ein sogenannter EHC-Plan (education, health and care plan) erarbeitet, in dem Ziele und auch die nötigen Leistungen festgelegt werden. Am Tisch sitzt – in der Regel alle sechs Monate, aber mindestens einmal im Jahr und bei Finanzierungsentscheiden – ebenfalls die sogenannte Local Authority, die als eine Art Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Massnahmen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich autorisieren und deren Finanzierung sprechen kann. Sie genehmigt den EHC und bewilligt die Finanzen; dies sogleich und verbindlich, nicht erst nach drei Monaten mit einer Verzögerung von nochmals drei Monaten. Für die meisten Leistungen gibt es Richtlinien, zum Beispiel die verschiedenen NICE-Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence. Zugänge auch zu intensiven Behandlungsmöglichkeiten und frühen Interventionen sind gegeben.

70 Prozent aller Kinder im ASS-Bereich besuchen eine Regelklasse, 30 Prozent eine Sonderschule (specialist schools). Die Regelbeschulung erfolgt aber teilweise nicht inkludiert, sondern integriert in sogenannten autism hubs. Diese bieten Betroffenen die Möglichkeit, einzelne oder die meisten Lektionen in einer bedürfnisgerechten Umgebung zu absolvieren. Dazu gehören Reizabschirmung sowie Eins-zu-eins-Betreuung oder Kleingruppenunterricht durch spezialisierte Lehrkräfte. Letztere beraten die Lehrkräfte der Regelklasse zudem bei unterstützenden Anpassungen im Regelunterricht. Britische Schulen sind zentralisierter und somit auch viel grösser und können hier eher spezialisierte Angebote machen. Sonderschulen sind auf ASS und die verschiedenen Schweregrade spezialisiert. Die dortigen Lehrkräfte sind im ASS-angepassten Unterrichten kompetent und sie werden durch Entwicklungspsychologen unterstützt. Um nötigenfalls auch eine Eins-zu-eins-Betreuung garantieren zu können, wird zusätzlich mit Assistenzen gearbeitet. Im Gegensatz zur Schweiz können an einer ASS-Sonderschule oder Regelschule sowohl eine Anlehre als auch eine Lehre absolviert oder auch die Hochschulreife erlangt werden. Die Anlehre bzw. Lehre mit Unterstützung am Arbeitsplatz ist in England relativ neu (supported internship / apprenticeship) und entstand 2010. Der Arbeitgeber erhält laufend Unterstützung durch Job-Coaches. Um die beruflichen Integrationschancen ASS-Betroffener zu verbessern, entstand im Rahmen des ersten Massnahmeplans eine spezifische Initia­tive (undiscovered workforce). Diese rief vor allem Politiker dazu auf, runde Tische mit der Wirtschaft zu organisieren. So entstand in Bristol beispielsweise eine Partnerschaft zwischen einer Sonderschule und Airbus. Interessierte Schüler verbringen einen Nachmittag pro Woche bei Airbus, für deren Mitarbeiter die Zeit, die sie mit den Jugendlichen verbringen, als Sozialeinsatz gilt. Beide Seiten sind vom Projekt begeistert und Vorgesetzte finden plötzlich, dass man sehr wohl Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung einstellen könne.

Sensiblisierung Ein weiterer Schwerpunkt der Massnahmen in England (und Schottland) umfasst Schulungen. Jede Lehrkraft, jeder Polizist, jede Mitarbeiterin eines RAV muss heute einen kurzen Kurs zum Thema Autismus absolvieren. Geleitet werden die Kurse in der Regel von Menschen mit einer ASS und einer Erwachsenenbildnerin im Co-Teaching.

Autismus ist in England heute viel sichtbarer und die Stigmatisierung ist geringer als andernorts. In der Schweiz liegt ein Hauptschwerpunkt gerade auch der Inklusion darin, dass Autisten sich anpassen. In England wird dies auch erwartet. Es werden aber ebenfalls verhältnismässige Anpassungsleistungen (reasonable adjustments) von der Schule, vom Arbeitgeber und der Gesellschaft gefordert, eben analog zum situationsgerechten Umgang mit dem Kind im Rollstuhl. Auch Reizreduktion und Kommunikation sind grosse Themen. So werden heute Museen, Kinos oder auch Universitäten ausgezeichnet, die sich durch gezielte Massnahmen «autistentauglich oder -freundlich» zeigen. Oder der frequentierteste britische Bahnhof Bristol Templemeads beispielsweise informiert online darüber, wie reizempfindliche Menschen ihre Durchreise möglichst reizarm gestalten ­können.

Ein Kind wird verstanden und lernt ­verstehen Und unser Sohn – konnte er vom Blick und schliesslich vom Sprung über den Tellerrand profitieren? Ja. Ein eindeutiges Ja. Der heute Sechzehnjährige ist in seiner auf ASS spezialisierten Sonderschule förmlich aufgeblüht. Er hat vielleicht noch ein Fünftel der Schwierigkeiten, die er vor fünf Jahren hatte. Neulich wurde er im Rahmen einer von Schweizer Pädagogen durchgeführten Studie befragt und er konnte recht gut benennen, was ihm im englischen System hilft. So habe er zum ersten Mal verstanden, was Lehrkräfte von ihm wollen: also eine dem Autismus angepasste Kommunikation. Wenn es wegen ihm ein Problem gebe, zwinge ihn seine Bezugsperson nicht zu einer langwierigen Problemanalyse, sondern sie erkläre ihm einfach kurz, was man in der jeweiligen Situation macht: also dem Autismus angepasstes Lernen. Auch der tägliche Schauspielunterricht zeige ihm viel auf. Da habe er gelernt, die Rolle des Nicht-Autisten zu spielen und wisse seither, wie man das macht – das Grüssen, das Trösten oder den Small-Talk. Wichtig sei ihm auch sein Mentor gewesen, ein drei Jahre älterer Schüler, der ihn in den ersten Jahren unterstützt habe, zu dem er habe aufschauen können und der ihn auch vor Bullying beschützt habe. Schliesslich fordere man etwas von ihm, da wo er seine Stärken habe – bei ihm eben im Schulischen. Am wichtigsten sei wohl aber, dass er Lehrkräfte habe, die ihn achten würden und eigentlich mögen. Er wolle studieren, vielleicht Chemie oder Tiefbau.

Unser Sohn wechselt nun dieses Jahr auf ein College, um sich auf die Hochschulreife vorzubereiten, erstmals seit Verlassen der Schweiz wieder in einem inklusiven System mit massgeschneiderter Unterstützung.

Fazit Das englische System ist nicht perfekt. Erstens ist ASS die einzige Behinderung, deren Betroffene in England spezifischen gesetzlichen Schutz und Förderung erfahren. Zweitens scheinen die Fördermöglichkeiten in der Praxis dann doch nicht so selbstverständlich wie auf dem Papier. Als wir ankamen, meinte die Schule, dass die Kosten für unseren Sohn durch die Local Authority gesprochen würden. An besagter Sitzung mit allen Fachspezialisten und der Local Authority erklärte diese dann, er müsse zuerst einfach zweimal im inkludierten System scheitern und dann würde sie die Mittel für die autismusspezifische Sonderschule freigeben. Was wiederum für uns nicht in Frage kam, sodass wir entschieden, Schulkosten selbst zu tragen. Drittens ist England in der beruflichen Integration von Menschen mit einer ASS mit höheren Bildungsabschlüssen sehr erfolgreich. Bei allen anderen macht sich deutlich bemerkbar, dass die Berufslehre in England generell noch neu und ungenügend verbreitet ist. Hier verspricht man sich in England viel von der autismus­adaptierten Berufslehre oder -anlehre mit den vorerwähnten reasonable adjustments. Im bisherigen Ausbildungssystem mit praktischen Kursen an einem College haben viele Menschen im Autismusspektrum hingegen keine berufliche Perspektive, da die Vorbereitung sehr unspezifisch ist und der Sprung in den beruflichen Alltag gross.

Hier hat das schweizerische Bildungssystem mit dem Case-Management Berufsbildung sowie mit der breit angelegten beruflichen Bildung, die von der praktischen Anlehre (PrA) bis hin zur Berufsmatur alles umfasst, ein grosses Potenzial. Mit entsprechenden Anpassungen steht letztere auch Jugendlichen mit einer ASS offen. Die Schweiz ist ja meist nicht gerade die Schnellste im Aufnehmen neuer Entwicklungen. Wenn es ihr aber gelingt, solche in ihr System zu überführen, ist sie dann jedoch in der Umsetzung meist sehr nachhaltig.

Dr. med., Chefarzt Psychiatrie Spital fmi
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