Eingliederungsdispositiv im Genfer Baugewerbe

Wie können die Eingliederungschancen von Arbeitnehmenden im stark von Invalidität ­betroffenen Baugewerbe verbessert werden? Mit dem Accord paritaire genevois haben die Sozialpartner der Genfer Baubranche eine innovative Lösung gefunden, die sich bewährt.
Emilie Flamand-Lew, Neil Ankers
  |  15. Dezember 2017
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Der Accord paritaire genevois ist eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern und Versicherern des Baugewerbes und wurde 2009 im Kanton Genf ins Leben gerufen. Unterzeichnet haben die Vereinbarung der Genfer Baumeisterverband (FMB, Dachverband), 18 dem Dachverband angeschlossene Berufsverbände (UNIA, SIT1 und Syna), die Genfer IV-Stelle, die meisten der in dieser Branche tätigen Krankentaggeldversicherer und die Suva. Das übergeordnete Ziel besteht darin, Arbeitnehmende des Baugewerbes, die krankheits- oder unfallbedingt vorübergehend arbeitsunfähig sind, durch eine rasche und koordinierte Intervention weiter zu beschäftigen. Einmal pro Monat trifft sich eine aus Vertreterinnen und Vertretern der wichtigsten Partner bestehende Analysegruppe, um gemeldete Einzelfälle und ihre weitere Betreuung zu besprechen. Allfällige von der IV-Stelle gewährte Massnahmen der Frühintervention (FI) werden von den Partnern gemäss einem fixen Verteilschlüssel mitfinanziert.

Der Accord paritaire genevois wurde als Wiedereingliederungslösung für und durch eine gesamte Branche entwickelt und ist in der Schweiz bisher einzigartig. Deshalb hat das BSV das Dispositiv evaluieren lassen.

Evaluation des Accord paritaire genevois Mit der Evaluation wurden die beiden Büros «evaluanda» und «serdaly&ankers» beauftragt. In erster Linie ging es darum, die Entstehungsgeschichte und die Funktionsweise der Vereinbarung aufzuzeigen und darzulegen, welche Leistungen im Rahmen der Vereinbarung erbracht werden. Ausserdem sollte die Evaluation die Vorteile und Herausforderungen für die beteiligten Partner aufzeigen, die Zielerreichung messen und mögliche Verbesserungsansätze identifizieren. Ferner sollte allgemein beurteilt werden, welchen Beitrag die Vereinbarung zu den Zielen des IVG leistet, und zwar sowohl für die Partnerinstitutionen als auch für die berufliche Wiedereingliederung der Versicherten. Die statistische Analyse basierte auf einem Vergleich zwischen den Personen, die im Rahmen der Vereinbarung betreut wurden (N = 294), und einer Kontrollgruppe aus Erwerbstätigen des Genfer Baugewerbes, die sich zwischen Juni 2009 (Beginn der Vereinbarung) und Februar 2016 (Beginn der Evaluation) bei der IV angemeldet haben (N = 2071), deren Fall jedoch nicht von der Analysegruppe behandelt wurde.

Die Genfer Vorgehensweise ist neuartig und innovativ. Deshalb fokussierte die Evaluation auf die Besonderheiten in Bezug auf die bestehende interinstitutionelle Zusammenarbeit2 und identifizierte die Erfolgs- und die Einflussfaktoren sowie die Voraussetzungen für die Übertragbarkeit des Dispositivs oder von Teilen davon.

Eine zweckmässige, kohärente Lösung Die Genfer Vereinbarung wurde als massgeschneiderte Lösung konzipiert, die den folgenden Herausforderungen gerecht wird:

  • Weiterbeschäftigung oder Wiedereingliederung eines spezifischen Zielpublikums. Die Angestellten im Bausektor verfügen oft über ein tiefes Bildungsniveau und geringe Kenntnisse der französischen Sprache. Zu den Hauptzielen der Vereinbarung gehören raschere Eingliederungsprozesse, der Einbezug der Sozialpartner und damit der Arbeitgeber sowie zusätzliche finanzielle Mittel zu jenen der IV, um das Potenzial der FIM zu erhöhen. Die Vereinbarung ist so konzipiert, dass sie den Bedürfnissen des Zielpublikums in geeigneter Weise gerecht wird.
  • Steuerung des Eingliederungsprozesses in einer Branche mit vielen KMU und sehr kleinen Betrieben. Die Baubranche in Genf zeichnet sich durch ein sehr zersplittertes Wirtschaftsgefüge aus. Deshalb basiert die von den Initianten der Vereinbarung konzipierte einheitliche Lösung auf einem für die gesamte Branche geltenden Ansatz. Das Ziel war es, die durch die geringe Betriebsgrösse bedingten Hindernisse zu umgehen (beispielsweise fehlende Personaldienste für die Fallbetreuung oder Schwierigkeit, im gleichen Betrieb eine Stelle zu finden).
  • Entwicklung der institutionellen Rahmenbedingungen in die Eingliederung einbeziehen. Die Genfer Vereinbarung wurde zur gleichen Zeit und mit den gleichen Leitgedanken wie die 5. IV-Revision eingeführt: «Eingliederung vor Rente» sowie Ausbau und Intensivierung der interinstitutionellen Zusammenarbeit, die Synergien zwischen den verschiedenen Partnern – ob privat oder öffentlich – schaffen soll. In diesem Sinn ist auch die externe Kohärenz der Vereinbarung mit dem institutionellen und gesetzlichen Kontext zu begrüssen.

Besonderheiten des Accord paritaire genevois  Die Besonderheit der Vereinbarung besteht in erster Linie darin, dass sie als Branchenlösung gut 1200 Unternehmen und 14 000 Arbeitnehmende direkt erfasst – dies in einem Sektor, der zu 86 Prozent aus Mikrounternehmen (null bis zehn VZÄ) besteht und damit sehr zersplittert, aber dennoch stark organisiert und vollständig durch allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge (GAV) abgedeckt ist. Die 1200 Unternehmen haben die Vereinbarung nicht selbst unterzeichnet, sondern sind durch die 18 Berufsverbände angeschlossen, die die Vereinbarung ihrerseits über ihren Branchendachverband unterzeichnet haben. Genau darin besteht die Einzigartigkeit der Genfer Vereinbarung: Alle anderen Formen von bilateraler oder multilateraler Zusammenarbeit in der Schweiz gelten für mittlere und grosse Betriebe, jedoch separat und ohne Gesamtlösung, die für und durch eine gesamte Branche entwickelt wurde.

Alle betroffenen Unternehmen sind für die Unfallversicherung der Suva angeschlossen. Bei der Krankentaggeldversicherung (gemäss GAV obligatorisch) ist die Diversität aufgrund der Vertragsfreiheit grösser. Die Vereinbarung kommt nur jenen Arbeitnehmenden zugute, deren Arbeitgeber dem Branchenverband FMB und einem der unterzeichnenden Versicherer angeschlossen sind.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Vereinbarung einen Bottom-up-Ansatz verfolgt: Sie entstand auf Wunsch der Sozialpartner und Versicherer, die den spezifischen Bedürfnissen ihrer eigenen Institutionen gerecht werden wollten.

Rascherer Eingliederungsprozess, gross­zügigere Massnahmen Die Evaluation macht deutlich, dass bei den Bearbeitungsfristen sowie bei Anzahl und Kosten der gewährten FIM statistisch signifikante Unterschiede zwischen den von der Analysegruppe betreuten Versicherten und der Kontrollgruppe bestehen. Diese Vergleiche zeigen bei den Versicherten der Analysegruppe eine raschere Dossierbetreuung und eine grosszügigere FI. Ausserdem dauert die Frühinterventionsphase im Rahmen der Vereinbarung länger. Dieser letzte Aspekt stimmt mit dem Leitgedanken der Vereinbarung überein: Die Dauer der Frühinterventionsphase soll so weit wie möglich ausgedehnt werden, damit die Versicherten die Möglichkeit haben, eine neue Stelle zu finden, ohne berufliche Massnahmen zu durchlaufen – zu denen manche Versicherte aufgrund ihrer begrenzten Französischkenntnisse oder ihres tiefen Bildungsstandes überdies gar keinen Zugang haben.

Das Zusatzbudget aus der Mitfinanzierung, das bei Einführung der Vereinbarung im Hinblick auf eine verstärkte Nutzung der Frühinterventionsphase ausgehandelt worden war, wurde hingegen nicht ausgeschöpft. Nur sehr wenige Versicherte (3 %) erhielten Massnahmen, die über der von der IV vorgesehenen Höchstsumme von 20 000 Franken lagen.

Weniger Renten, mehr Versicherte im Unternehmen halten Gemäss Aussagen aller befragten Partner haben die raschere Dossierübernahme im Rahmen der Vereinbarung, die individuelle Fallbetreuung und die Suche nach personenspezifischen Einzellösungen positive Auswirkungen auf den Eingliederungsprozess. Die Analyse der statistischen Daten bestätigt diese Wahrnehmung mit signifikanten Unterschieden sowohl in Bezug auf die IV-Berentungen (19,4 % der von der Analysegruppe betreuten Versicherten schliessen ihren Wiedereingliederungsprozess mit einer Berentung ab, verglichen mit 29,4 % in der Kontrollgruppe) als auch auf die vermittelten Stellen (33,7 % der von der Analysegruppe betreuten Versicherten behalten ihren Arbeitsplatz oder werden an einen anderen Arbeitsplatz vermittelt, verglichen mit 23,4 % in der Kontrollgruppe). Insbesondere die Vermittlung von anderen Stellen innerhalb desselben Unternehmens und von neuen Stellen in anderen Unternehmen sind bei den im Rahmen der Vereinbarung betreuten Versicherten statistisch häufiger und bestätigen die Annahme, dass der Accord paritaire genevois günstige Rahmenbedingungen für die Verhandlungen mit den Arbeitgebern schafft.

Mehrwert aus Sicht der Partnerinstitutionen  Die Kosten und der finanzielle Nutzen, die den Partnerinstitutionen durch ihre Teilnahme an der Vereinbarung entstehen, lassen sich nicht genau beziffern (abgesehen von ihrer finanziellen Beteiligung an FI-Massnahmen). Die Mitarbeit in der Analysegruppe nimmt für die meisten Mitglieder einen halben Tag pro Monat und ebenso viel Vorbereitungszeit in Anspruch, ermöglicht aber an anderen Stellen wertvolle Zeitgewinne, da sich dank der gemeinsamen Diskussionen bilaterale Kontakte im Einzelfall erübrigen. Bisweilen wollen die Krankentaggeldversicherer die Taggelder während der Frühinterventionsphase nicht fortzahlen, was Spannungen mit der IV-Stelle verursacht.

Neben den finanziellen Aspekten geht aus den Befragungen hervor, dass jeder Partner einen spezifischen Mehrwert aus seiner Beteiligung an der Vereinbarung ziehen kann.

Übertragbarkeit des Genfer Modells Durch die Evaluation konnten die folgenden Voraussetzungen identifiziert werden, die den Weg für den Aufbau und die Weiterführung der Genfer Vereinbarung ebneten; diese können als begünstigende Voraussetzungen für die Übertragung auf andere Branchen (im Kanton Genf oder in anderen Kantonen) betrachtet werden:

  • Branche, die stark von Invalidität, von deren finanziellen Folgen (finanzielles Gleichgewicht der Pensionskassen), persönlichen Konsequenzen (soziale Desintegration der Betroffenen) und vom Verlust von Fachkompetenzen innerhalb der Branche betroffen ist.
  • Branche mit einer begrenzten Anzahl Pensionskassen: Den Anstoss zu den Überlegungen, die zur Genfer Vereinbarung geführt haben, gab eine der drei Pensionskassen des Baugewerbes in Genf, die stark von der Zunahme der Invaliditätsfälle betroffen war (mehr BVG-Invalidenrenten und parallel dazu weniger BVG-Beiträge).
  • Auf Verbandsebene stark strukturierter Sektor wie das Genfer Baugewerbe mit einem Dachverband.
  • Sozialpartnerschaftliche Tradition und Kultur, die sich im gemeinsamen Engagement des Branchendachverbands und der Gewerkschaften für die Vereinbarung widerspiegeln.
  • Begrenzte Anzahl Krankentaggeldversicherer im betreffenden Sektor erleichtern die Koordination. Im Accord paritaire genevois hat die Suva das «Monopol» für das Unfalltaggeld, ausserdem teilen sich drei Versicherer den Krankentaggeldmarkt, einer davon mit starker Mehrheit.
  • Flexible und ergebnisorientierte IV-Stelle, die individuelle Lösungen bereitstellen kann.
  • Adäquates Change-Management: Die Umsetzung einer solchen Vereinbarung erfordert Zeit und Ausdauer seitens der beteiligten Akteure. Eine solche Vereinbarung kann nur durch ein partizipatives Vorgehen entstehen. Diesem Umstand ist bei den Umsetzungsfristen und Ressourcen Rechnung zu tragen.

Die folgenden Elemente wurden als Faktoren identifiziert, die die Übertragung des Genfer Modells erleichtern, jedoch nicht zwingend notwendig sind:

  • Branche ist durch allgemeingültige GAV gedeckt, wobei aber die Vereinbarung selbst vollkommen von den GAV unabhängig ist. Bei einer solchen Vereinbarung handelt es sich um ein «Gentlemen’s Agreement» und nicht um einen rechtlich verbindlichen Text. Dennoch erleichtern allgemeinverbindliche GAV die Entstehung und Weiterführung von Vereinbarungen nach dem Genfer Modell: Einerseits bilden sie die Grundlage für ein sozialpartnerschaftliches Vorgehen in einer Branche, andererseits enthalten sie die Verpflichtung der Arbeitgeber zum Abschluss einer Krankentaggeldversicherung für ihre Arbeitnehmenden. Basierend auf einer solchen Verpflichtung können wichtige Kollektivverträge entwickelt werden, die die Anzahl Versicherer in diesem Bereich begrenzen.
  • Branche mit relativ hohem Lohnniveau: Aufgrund der Berechnungsmethode bei der Invaliditätsbemessung eröffnen hohe Löhne tendenziell mehr Chancen auf einen IV-Rentenanspruch, was Pensionskassen, Sozialpartner und Versicherer für die Entwicklung von Branchenlösungen mobilisieren könnte.
  • Finanzielle Beteiligung der Partner an FI-Massnahmen: Auch wenn die FI in der Evaluation nicht als Erfolgsfaktor der Vereinbarung hervortritt, könnte sich die Situation in Branchen mit tieferen Löhnen als das Baugewerbe (z. B. Gastgewerbe/Hotellerie) anders präsentieren. Wenn aufgrund der Berechnungsmethode bei der Invaliditätsbemessung seltener Umschulungsmassnahmen gewährt werden, könnten sich zusätzliche Mittel für die Frühintervention (die nicht von einem bestimmten Invaliditätsgrad abhängen) als besonders nutzbringend erweisen.

Werden das Invaliditätsrisiko, die Anzahl Pensionskassen und die Dichte der Sozialpartnerschaft zusätzlich zu diesen Kriterien berücksichtigt, so scheinen das Baugewerbe und die Beherbergung/Gastronomie am besten geeignet, um vom Accord paritaire genevois inspirierte Branchenlösungen zu entwickeln. Potenzial besteht auch bei den industriellen Tätigkeiten (davon bestimmte Tätigkeiten in der Uhrenindustrie), in der Landwirtschaft, im Coiffeurgewerbe sowie in der Reinigungs- und Gartenbaubranche.

In Bezug auf die Form einer auf dem Genfer Modell beruhenden Vereinbarung sind mehrere Varianten vorstellbar. Bei den auf die GAV abgestützten Vereinbarungen scheinen die Westschweizer Kantone eine stärker ausgeprägte Sozialpartnerschaft aufzuweisen (mehr lokale allgemeinverbindliche GAV), während in der Deutschschweiz die nationalen oder überkantonalen GAV überwiegen. Dennoch wäre eine nationale, vom Accord paritaire genevois inspirierte Branchenvereinbarung mit kantonalen Analysegruppen denkbar. Ein anderer Ansatz könnte darin bestehen, diese Vereinbarungsart auf bestimmte Branchenlösungen im Bereich Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu übertragen.

Das innovative und – wie die Ergebnisse beweisen – erfolgreiche Modelle des Accord paritaire genevois birgt für besonders anfällige Zielgruppen grosses Eingliederungs­potenzial und könnte somit zur Entwicklung ähnlicher Dispositive anregen.

  • 1. Syndicat interprofessionnel de travailleuses et travailleurs (nur in Genf tätig).
  • 2. Die Weiterentwicklung der interinstitutionellen Zusammenarbeit auf nationaler und auf kantonaler Ebene war Schwerpunktthema der letzten Ausgabe Soziale Sicherheit CHSS: CHSS 3/2017, S. 7–33.
Lic. ès sciences politiques, Teilhaberin von evaluanda SA, Genf.
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Dipl. Agr. Ing. ETHZ, MPA IDHEAP, Berater und Sozialunternehmer, serdaly & ankers, Genf.
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