Die internationale Dimension der sozialen Sicherheit

Die soziale Sicherheit hat auch eine internationale Dimension. Eine gute Koordination mit den Systemen der sozialen Sicherheit anderer Staaten ist für die schweizerischen Sozial­versicherungen, für die Versicherten sowie für die Wirtschaft von grosser Bedeutung.
Stephan Cueni
  |  11. März 2020
    Recht und Politik
  • International

Personen, die sich ins Ausland begeben oder in die Schweiz einreisen, soll ein verhältnismässiger Sozialversicherungsschutz gewährleistet werden. Zu diesem Zweck wurden auch in der vergangenen Legislaturperiode Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen. Diese sollen die Ausgestaltung des schweizerischen Sozialversicherungssystems möglichst wenig tangieren und keine unverhältnismässigen finanziellen Folgen haben.

EU/EFTA-Staaten Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) koordiniert die Schweiz ihre Sozialversicherungen im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens (FZA) Schweiz–EU und des EFTA-Übereinkommens. Die Grundlage dafür bilden die innerhalb der EU geltenden multilateralen Koordinierungsbestimmungen, die Verordnung (EG) Nr. 883/2004, die mit einem multilateralen Sozialversicherungsabkommen vergleichbar ist, und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009, welche die Durchführungsbestimmungen enthält.

Anpassungen des europäischen Koordinations­rechts Die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 wurden in der vergangenen Legislatur nicht angepasst. Ihre Revision ist aber seit längerer Zeit in Vorbereitung. Sie enthält insbesondere auch einen für die Schweiz potenziell heiklen Punkt, der die Zuständigkeit für die Arbeitslosenversicherung der Grenzgänger betrifft. Der Gesetzgebungsprozess in der EU konnte bisher aber nicht abgeschlossen werden. Änderungen des EU-Rechts fliessen überdies nicht automatisch in das FZA und in das EFTA-Übereinkommen ein.

Kroatien Kroatien ist seit dem 1. Juli 2013 Mitgliedstaat der EU. Das FZA wurde allerdings erst nach der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, am 1. Januar 2017, auf Kroatien ausgedehnt. Die Schweiz koordiniert seither ihre Sozialversicherungen im Verhältnis zu diesem Staat auf der Grundlage der oben erwähnten EU-Verordnungen. Das bestehende bilaterale Sozialversicherungsabkommen wurde suspendiert. Die europäischen Koordinierungsbestimmungen sind umfassender und gelten für alle Sozialversicherungszweige.

Vereinigtes Königreich Das FZA und die damit einhergehende Koordinierung im Bereich der sozialen Sicherheit (Anhang II FZA) gelten für das Vereinigte Königreich beim Austritt aus der EU (Brexit) nach Ablauf einer Übergangsfrist nicht mehr.

Der Bundesrat hat festgelegt, dass die bestehenden Rechte und Pflichten zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich so weit möglich erhalten werden sollen (Mind-the-Gap-Strategie).

Die Schweiz hat mit dem Vereinigten Königreich ein bilaterales Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger abgeschlossen, um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem FZA zu regeln und die Rechte der Versicherten zu gewährleisten, die sie im Rahmen des FZA erworben haben. Das Abkommen wurde am 25. Februar 2019 unterzeichnet. Es befindet sich zurzeit in beiden Staaten in der parlamentarischen Genehmigungsphase. Das Abkommen tritt nur in Kraft, wenn das FZA zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich ausser Kraft ist, nach heutigem Kenntnisstand nach Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember 2020. Bis zu diesem Zeitpunkt gelten die Regeln des EU-Koordinationsrechts in den Beziehungen zwischen dem UK und der EU sowie der Schweiz unverändert weiter.

Die künftigen Koordinierungsregeln für die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich müssen noch festgelegt werden. Sobald das FZA nicht mehr anwendbar ist, würde das bilaterale Sozialversicherungsabkommen von 1968, welches durch das Inkrafttreten des FZA suspendiert wurde, erneut Anwendung finden. Das alte Abkommen ist zwar kein gleichwertiger Ersatz und gilt nur für die Rentenversicherung; es erlaubt aber, die Zuständigkeit für Beiträge und Leistungen zu bestimmen und den Rentenexport zu gewährleisten.

Die zukünftige Lösung wird im Wesentlichen von der Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU abhängen. Da die Übergangsfrist, während der die derzeitigen Regeln anwendbar bleiben, grundsätzlich am 31. Dezember 2020 endet, muss schnellstmöglich eine Lösung gefunden werden.

Elektronischer Datenaustausch (EESSI) Bei der Anwendung des europäischen Koordinationsrechts werden ab dem 1. Juli 2019 die für den grenzüberschreitenden Datenaustausch verwendeten Papierformulare schrittweise durch den elektronischen Datenaustausch (EESSI) abgelöst. Für diese Form des Datenaustauschs hat das Parlament am 21. Juni 2019 mit der Verabschiedung der ATSG-Revision eine gesetzliche Grundlage geschaffen, in der die Zuständigkeiten, die Errichtung von Informationssystemen, deren Finanzierung und die Datenbekanntgabe geregelt werden. Neu enthält das ATSG auch eine Rechtsgrundlage, welche es dem Bundesrat erlaubt, die heutigen internationalen Zuständigkeiten der verschiedenen schweizerischen Sozialversicherungsstellen durch innerstaatliche Regelungen explizit festzulegen. Das neue ATSG soll spätestens am 1. Januar 2021 in Kraft treten.

Bilaterale Sozialversicherungsabkommen Bilaterale Sozialversicherungsabkommen mit Staaten ausserhalb der EU/EFTA gelten im Wesentlichen für die Koordinierung der Rentenversicherung. Ziel dieser Standardabkommen ist primär die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsparteien, die Bestimmung der anwendbaren Gesetzgebung, die Anrechnung von im anderen Vertragsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten und die Zahlung der Leistungen ins Ausland. Die in der vergangenen Legislatur abgeschlossenen Standardabkommen enthalten weitergehende Rechtsgrundlagen zur grenzüberschreitenden Bekämpfung von Missbrauch durch bessere Kontrolle der im anderen Vertragsstaat wohnenden Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger.

Solche neue Abkommen sind mit Serbien und mit Montenegro am 1. Januar 2019, mit Kosovo am 1. September 2019 und mit Brasilien am 1. Oktober 2019 in Kraft getreten.

Der Abschluss eines Abkommens mit Kosovo stellte einen wichtigen sozialpolitischen Meilenstein der Legislatur dar. Seit dem 1.4.2010 bestand im Verhältnis zu diesem Staat ein vertragloser Zustand und die zahlreichen in der Schweiz versicherten kosovarischen Staatsangehörigen hatten während dieser Zeit keinen Anspruch auf AHV/IV-Renten bei Wohnsitz im Ausland.

Neue Standardabkommen wurden mit Bosnien und Herzegowina am 1. Oktober 2018 sowie mit Tunesien am 25. März 2019 unterzeichnet. Diese Abkommen müssen allerdings noch ratifiziert werden. Mit Albanien und Peru wurden Standardabkommen ausgehandelt, aber noch nicht unterzeichnet.

Mit asiatischen Staaten, deren Sozialversicherungssysteme mit dem schweizerischen auf Ebene der Leistungen nicht koordiniert werden können, wurden in der vergangenen Legislatur sogenannte vereinfachte Abkommen nach dem Muster des Abkommens mit Indien abgeschlossen. Diese enthalten Bestimmungen zu den anwendbaren Rechtsvorschriften, welche die Entsendung von Arbeitnehmenden sowie Bestimmungen betreffend die Beitragsrückerstattung regeln. Solche Abkommen sind am 1. Juni 2015 im Verhältnis zu Südkorea und am 19. Juni 2017 im Verhältnis zu China in Kraft getreten.

Der Bundesrat hat im Rahmen der ATSG-Revision vorgeschlagen, den Abschluss von Sozialversicherungsabkommen mit ähnlichem Inhalt entsprechend der langjährigen Praxis vom fakultativen Referendum auszunehmen und die Kompetenz ausschliesslich dem Parlament zu übertragen. Diese Kompetenzdelegation wurde jedoch von beiden Räten verworfen. Deshalb werden die Sozialversicherungsabkommen in Zukunft dem fakultativen Referendum unterstehen.

Fazit Besondere Herausforderungen stellten in der vergangenen Legislatur im Verhältnis zu den EU-Staaten der Austritt des Vereinigten Königreichs und die Modernisierung des Datenaustauschs dar. Diese werden uns auch in der neuen Legislatur begleiten.

Mit dem Abschluss eines neuen bilateralen Sozialversicherungsabkommens mit Kosovo konnte in der vergangenen Legislatur die Stellung der kosovarischen Versicherten massgeblich verbessert werden, sodass sie bei Verlassen der Schweiz ihren Rentenanspruch nicht mehr verlieren.

In der künftigen Legislaturperiode könnten Anpassungen der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 im Zusammenhang mit einer Übernahme ins FZA eine wichtige Rolle einnehmen.

Botschafter, Vizedirektor, Leiter des Geschäftsfelds Internationale Angelegenheiten, BSV.
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