Die Hürden von vor 15 Jahren sind auch noch die Hürden von heute

Mein Sohn David wird heuer 20 Jahre alt. Er ist ein aufgestellter junger Mann, steckt voller Lebensfreude, ist neugierig und offen für alle möglichen Aktivitäten und auch fähig, Beziehungen zu den Mitbewohnern und Betreuern in der Einrichtung einzugehen, in der er wohnt. Aber das war nicht immer so.
Cécile Bachmann
  |  07. Juni 2019
  • Behinderung
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Als wir im Alter von knapp drei Jahren die Diagnose «atypischer Autismus» erhielten, zeigte David ein äusserst schwieriges Verhalten, sprach kein einziges Wort, konnte sich nicht auf andere Menschen einlassen und brachte mich mit seiner destruktiven Art an meine persönlichen Grenzen. Nach dem ersten Schock raffte ich mich dazu auf, nach Hilfe zu suchen. Diese fand ich aber nicht etwa bei den diagnostizierenden Ärzten oder sonstigen offiziellen Stellen, sondern bei betroffenen Eltern in einer ähnlichen Situation.

Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich über ein Programm zur intensiven Frühintervention erfuhr, mit dem betroffene Kinder grosse Fortschritte erzielten. Als ich 2003 bei einer privaten Beratungs- und Therapiestelle um Unterstützung anfragte, wurde mir mitgeteilt, dass aufgrund knapper personeller Ressourcen kein weiteres Kind in das Programm aufgenommen werden konnte. Zum Glück hatte genau in jener Zeit Dr. Ronnie Gundelfinger am KJPD Zürich ein entsprechendes Programm ins Leben gerufen. Wir durften als eine von vier Familien mit der ABA-Therapie (Applied Behavior Analysis) beginnen. Während rund zweieinhalb Jahren arbeiteten wir jeweils 35 Stunden in der Woche mit David und steuerten dafür knapp 50 000 Franken pro Jahr aus unserer eigenen Tasche bei.

Als David fünf Jahre alt wurde, stellte sich uns die Frage, wo wir ihn einschulen sollten. Wir entschieden uns für eine integrative Schulung im Kindergarten an unserem Wohnort, damit er von Kontakten mit neurotypischen Kindern profitieren könne. Der Kanton Luzern bewilligte uns dafür zwölf Stunden Begleitung durch eine Heilpädagogin – mit dem Ergebnis, dass unser Sohn genau zwölf Stunden pro Woche im Kindergarten verbringen durfte und die restliche Zeit zu Hause war. Nach knapp einem Jahr brachen wir das Projekt «Integration» ab, weil wir der Meinung waren, dass echte Integration anders aussehe.

Auch die Schulzeit war von Schwierigkeiten, vielen Betreuerwechseln und einem Zusammenbruch geprägt, der nach einem von der Schule veranlassten eintägigen Kurzaufenthalt in der psychiatrischen Klinik in einen Schulwechsel mündete.

Vor gut zwei Jahren standen wir dann vor der Herausforderung, wie wir das Leben von David als Erwachsenen gestalten sollten. Aufgrund der Familienkonstellation war schon immer klar, dass David nicht zu Hause leben würde, sondern in seiner eigenen Umgebung. Die Suche nach einer passenden Institution erwies sich dann aber als weiterer Hürdenlauf. Für einige war David zu wenig stark betroffen, andere wiederum konnten die klaren Strukturen, die er benötigt, nicht bieten. Einige weitere hatten schlicht und ergreifend keine freien Plätze zur Verfügung. So suchten wir über ein Jahr, bis wir die Einrichtung fanden, in der David heute lebt und glücklich ist. Unterstützung von offizieller Seite während dieser Phase? Keine Spur davon!

Wo wir in der Schweiz stehen Was lässt sich aus diesen konkreten Beispielen erkennen? Unser Land ist nicht wirklich darauf vorbereitet, Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu integrieren und ihnen ein adäquates Umfeld zu bieten.

Dies fängt schon bei der Beratung an: Es kann nicht sein, dass Familien mit einer Neudiagnose sich selbst überlassen werden. Denn dadurch verstreicht wertvolle Zeit, die das Kind für seine Entwicklung benötigt. Zudem ist es vor allem bei Übergängen, wie jenem von der Schule ins Erwerbs- und Erwachsenenleben, wichtig, dass professionelle Unterstützung zur Verfügung steht. Nicht alle Eltern sind in der Lage, sich für ihre Kinder zu wehren und dafür zu sorgen, dass sie einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Arbeits- oder Wohnplatz erhalten.

Ähnlich sieht es bei der intensiven Frühintervention aus. Zwar hat der Bund 2014 ein fünfjähriges Pilotprojekt an fünf Interventionszentren in der Schweiz bewilligt, doch diesem droht nun die Luft auszugehen, da sich die Kantone bisher nicht bereit erklärt haben, ihren Teil mitzufinanzieren. Als schweizweiter Verein für Selbstbetroffene, Angehörige und Fachpersonen sind wir ganz klar der Meinung, dass es einem reichen Land wie der Schweiz nicht ansteht, sich hier aus der Verantwortung zu stehlen. Die Wirksamkeit der Therapie ist wissenschaftlich erwiesen und die Erfahrungen der Familien, die mit einem solchen Programm gearbeitet haben, durchs Band positiv. Es wäre ein beschämendes Zeichen für die Schweiz, wenn sich künftig nur noch jene Familien das Programm leisten könnten, die selbst über genügend finanzielle Mittel dafür verfügen!

Auch das Thema der schulischen Integration hat nichts von seiner Brisanz verloren – insbesondere nach einem Artikel, der am 9. März 2019 in der «NZZ am Sonntag» erschienen ist. Die Stadt Zürich hat offensichtlich entschieden, die Begleitung von Kindern mit einer ASS durch schulische Heilpädagogen in der Regelschule einzustellen. Begründet wird dieser Entscheid damit, dass die Heilpädagogische Schule der Stadt ausgelastet sei und keine Kapazität für Integrationsprojekte mehr habe. Alle Kinder mit einer ASS ohne zusätzliche geistige Behinderung bleiben so auf der Strecke, denn sie werden in der Regelschule ab sofort nicht mehr von schulischen Heilpädagogen unterstützt.

Was zu tun wäre Diese zugegebenermassen willkürliche Auswahl von Beispielen zeigt: In der Schweiz herrscht dringender Handlungsbedarf. Das hat auch der Bund erkannt: In seinem im Oktober 2018 veröffentlichten Bericht (Bundesrat 2018) legt der Bundesrat den Fokus auf drei zentrale Aspekte: 1. Früherkennung und Diagnostik; 2. Beratung und Koordination; 3. Frühintervention.

Damit deckt sich die Prioritätensetzung des Bundes mit den Anliegen der Selbstbetroffenen und Angehörigen. Nun geht es darum, für diese Massnahmen auch die nötige Akzeptanz zu schaffen. Insbesondere die Kantone müssen ins Boot geholt werden. Zu diesem Zweck hat Autismus Schweiz zusammen mit den drei Sektionen Autismus deutsche Schweiz, Autisme Suisse romande und Autismo Svizzera italiana die politische Arbeit auf kantonaler Ebene intensiviert. Mit gezielten politischen Vorstössen sollen die Kantone dazu angehalten werden, die vom Bundesrat geforderte Situa­tionsanalyse und eine Auslegeordnung zum Thema «Autismus» vorzunehmen. Es freut uns sehr, dass es uns bereits in zahlreichen Kantonen gelungen ist, entsprechende Vorstösse zu lancieren. Denn wir kommen nur vorwärts, wenn der Bund und die Kantone aufhören, sich gegenseitig den Ball zuzuspielen, und sie beginnen, Hand in Hand nach Lösungen zu suchen, die die Lebensbedingungen von Menschen mit einer ASS nachhaltig verbessern.

Meine andere Wahrnehmung der Welt und meiner Umgebung – Stimmen von Selbstbetroffenen

Autismus-Spektrum-Störungen können wir besser begreifen, wenn wir die Betroffenen zu Wort kommen lassen. Aus ihren Schilderungen erfahren wir, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen. Damit kann bewirkt werden, dass die Verständigung zwischen Neurotypischen und Menschen aus dem Autismus-Spektrum stressfreier wird. Die folgenden Aussagen von Selbstbetroffenen wurden von Regula Buehler, Geschäftsleiterin Autismus deutsche Schweiz, zusammengetragen:

– Das sollte man über meinen Autismus wissen

Ich sehe ganz gesund und normal aus. Man sieht mir meinen Autismus nicht an. Und das ist das Handicap an meinem Handicap: Es nicht zu sehen heisst nicht, dass es nicht da ist!

Mir sieht und merkt man meinen Asperger-Autismus auf den ersten Blick nicht an. Jedoch ermüde ich sehr schnell bei Lärm, (unnützen) Diskussionen und ­nervöser Umgebung. Ebenfalls habe ich Mühe mit meiner Selbstwahrnehmung; heisst konkret, ich verstehe meine Gefühle und Körperwahrnehmung meistens nicht intuitiv.

Stimmen sind mir viel zu laut und sich bewegende Objekte wie Verkehr oder Menschen überlasten mein Gehirn, da ich alle diese Wahrnehmungen verarbeiten muss. Menschen und soziale Interaktionen beschäftigen mich sehr, gehen mir noch stundenlang nach. Dadurch bin ich nach kurzer Zeit ausser Haus restlos erschöpft und muss mich im Anschluss zum Herunterkommen stundenlang zurückziehen.

– So erlebe und sehe ich die Welt

Manchmal sehe ich alles zweidimensional, wie in einem Traum, unwirklich, so als ob ich nicht da wäre oder alles andere nicht existierte; besonders in der Dämmerung passiert das oder wenn ich gerade total gestresst bin. Wenn in einer Gruppe mehrere Menschen um mich herum stehen und jemand auf mich einredet, sehe ich sein Gesicht plötzlich anders in Form und Farbe; mein Hirn kann das Gesehene nicht mehr richtig zusammensetzen. Das ist jedes Mal furchterregend, obschon ich es doch kenne – als Kind hatte ich deshalb die meiste Zeit schreckliche Angst. Die Welt ist wie ein Karussell, das zu bunt, zu schnell, zu laut, zu geruchsvoll ist. Wo ich manchmal verwirrt auf dem Trittbrett stehe und manchmal ganz aufs Pferd aufsteige. Meine Auffassungsgabe ist eher auf Details und sachlich fokussiert. Wie verschoben im Vergleich zur Mehrheit, sodass ich mich fühle, als trage ich eine falsche Brille.

– So kann man mich unterstützen

Ich brauche eine ruhige Umgebung, um meine Energie zu schonen. Grossraumbüros sind dabei sehr kontraproduktiv und ich brauche die Möglichkeit, mich visuell und akustisch abzuschirmen. Homeoffice ist eine grossartige ergänzende Möglichkeit, die viel stärker unterstützt werden sollte.

Im Alltag helfen mir klare Ansagen und strukturierte Abläufe.

Fragt mich, ob ich mitkomme oder mitmache, aber bitte lasst mich auswärts nicht alleine stehen!

Menschen sollten ehrlich zu mir sein und sich genau erklären, manche Aktionen und Reaktionen verstehe ich nicht oder falsch.

– So kann mein Umfeld von mir und meinem Autismus profitieren

Ich erkenne eine Abweichung im Umfeld sofort. Ich bin sehr mitfühlend. Ich sehe die Dinge von einem originellen Blickwinkel.

Weil ich mir Dinge sehr gut merken kann, kenne ich alle Richtlinien, Medikamente und Krankheiten, die wir für unsere Arbeit brauchen. Mich kann man immer fragen, wenn man unsicher ist, ob und wie man etwas erfassen soll. Mein Team schätzt diese zuverlässigen Angaben sehr.

Ich verstehe auch komplexe Zusammenhänge sehr schnell und kann so schnell Lösungen zu Problemen finden. Auch ist es einfach für mich, Situationen oder Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen und zu beurteilen, ohne starken Einfluss meiner persönlichen Gefühle.

  • Literatur
  • Bundesrat (2018): Bericht Autismus-Spektrum-Störungen. Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz: 
www.bsv.ch > Publikationen & Services > Bundesratsbericht > 2018.
Präsidentin von Autismus Schweiz
[javascript protected email address]

Weitere Beiträge zum Thema