Das Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen im Wandel

Das Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen hat in den letzten Jahren leicht ­zugenommen. Es gibt eine Entwicklung hin zu grösserer Vielfalt und dezentraleren, ­flexibleren Wohn- und Dienstleistungsformen. Die Unterschiede zwischen den Kantonen und Institutionen sind aber beträchtlich, das Finanzierungssystem ist – auch aufgrund ­mangelnder Daten – wenig transparent.
Tobias Fritschi, Matthias von Bergen, Franziska Müller
  |  10. März 2020
    Forschung und Statistik
  • Behinderung
  • Eingliederung
  • Gesellschaft
  • Invalidenversicherung

Durch die Umsetzung der IVG-Revisionen 4 und 6a sowie die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) im Jahr 2008 haben sich die Rollen der beteiligten Akteure und die Art der Finanzierung der Wohnformen für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz verändert. Unter anderem finanzieren seit der Inkraftsetzung des neuen Finanzausgleichs die Kantone die Wohnangebote für Menschen mit einer Behinderung. In der 4. Revision des IVG wurde das Pilotprojekt des Assistenzbudgets eingeführt und in der 6. Revision des IVG als Assistenzbeitrag fest verankert.

Mit der Ratifizierung (2014) und Umsetzung der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK, SR 0.109) wurde der Trend weg vom Heim hin zum (möglichst) selbständigen Wohnen bekräftigt. Kantonal unterschiedliche Abgrenzungen und die Kohärenz des Wohnangebots können sich auf die Wahl «institutionelles» oder «privates» Wohnsetting auswirken. Eine Bestandsaufnahme zum Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen (Fritschi/von Bergen et al. 2019) soll vor diesem Hintergrund Klarheit und Übersicht verschaffen.

In der Studie wurden verschiedene Datenquellen zum Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen analysiert, 14 Gespräche mit Experten und Expertinnen geführt und in Absprache mit kantonalen Verantwortlichen für alle Kantone Faktenblätter erstellt, die die wichtigsten Grundlagen in diesem Bereich zusammenfassen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie bezüglich Bestandsaufnahme, Kohärenz, Finanzierungsmodellen und Empfehlungen dargestellt. Die Erhebung von Daten zu Finanzflüssen wird nicht erläutert, dieser Bereich wird allerdings zur weiteren Untersuchung empfohlen.

Bestandsaufnahme der Struktur der Wohn­angebote in den Kantonen Aus der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass der Begriff Heim in der Praxis immer weniger verwendet wird. In der Regel ist heute die Rede von «Institutionen, die (Wohn-)Angebote für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stellen». Die Begriffe «betreutes Wohnen» oder «begleitetes Wohnen», auch etwa «Assistenzwohnen», werden in der Praxis unterschiedlich verwendet, teilweise als Synonyme, teilweise auch zur Abstufung der Intensität von Unterstützungsleistungen. Einige Akteure verzichten bewusst auf den Begriff «Betreuung», da dieser zu paternalistisch töne.

Vor diesem Hintergrund wurde eine Typologie der Wohnangebote für Menschen mit Behinderungen entwickelt, grob unterteilt in «Institutionelles Wohnen» und «Privates Wohnen» mit Wohnunterstützung. Innerhalb dieser Wohnformen kann weiter unterschieden werden zwischen

  • Typ A: Wohnen in einer institutionellen Wohnform mit 24-Stunden-Betreuung
  • Typ B: Wohnen in einer institutionellen Wohnform mit geringeren Betreuungszeiten und erhöhten Anforderungen an die Selbständigkeit
  • Typ C: Private Wohnung mit Betreuung (Wohnen mit Assistenz und/oder mit weiteren betreuenden Angeboten)
  • Typ D: Private Wohnung mit Begleitung (Begleitetes Wohnen finanziert gemäss Art. 74 IVG und/oder Wohnen mit weiteren Begleitangeboten)

Kernbereich der vorliegenden Untersuchung bilden Wohnangebote, die von Menschen mit einer Leistung der Invalidenversicherung genutzt werden. Dies betrifft Menschen mit Behinderungen, die eine IV-Rente (IVR), eine Hilflo­senentschädigung (HE), eine Ergänzungsleistung (EL) in einer Institution, eine Leistung gemäss Art. 74 IVG oder eine Wohnunterstützung im Rahmen einer beruflichen Massnahme BM erhalten. Menschen im AHV-Rentenalter sind also nicht Gegenstand der Studie.

Sowohl der Bereich des institutionellen Wohnens (Typologie A und B) wie der Bereich des privaten Wohnens (Typologie C und D) sind im betrachteten Zeitraum von 2011 bis 2017 gewachsen (vgl. Tabelle T1). Die Anzahl Plätze in Institutionen mit Erwachsenen mit IV-Leistung (IVR, HE) ist zwischen 2011 und 2015 um 4,8 Prozent gestiegen (auf 24 710 Plätze), was leicht über der Bevölkerungsentwicklung im gleichen Zeitraum (4,0 %) liegt.

Demgegenüber steigerte sich die Anzahl Personen mit einer IV-Leistung, die ein privates Wohnangebot in Anspruch nehmen, von 2011 bis 2017 um 20,5 Prozent (auf 23 780 Personen). Hinzuweisen ist dabei auf die Tatsache, dass Leistungen nach Art. 74 IVG aufgrund fehlender verknüpfbarer Individualdaten nicht berücksichtigt sind (1858 Personen im Jahr 2017). In den Jahren 2011 bis 2017 hat eine leichte Verschiebung vom institutionellen Wohnen zum privaten Wohnen mit Dienstleistungen stattgefunden. Entsprechend ist der Anteil des privaten Wohnens an der Gesamtheit der Personen mit Behinderungen mit Wohnunterstützung von 46,3 auf 50,5 Prozent angestiegen, ohne Personen mit Wohnunterstützung im Rahmen einer beruflichen Massnahme. Werden Letztere miteinbezogen, so überwiegt der Anteil von Menschen mit Wohnunterstützung im institutionellen Setting mit 51 Prozent im Jahr 2017 immer noch leicht.

Beim institutionellen Wohnen ist der Anteil der Wohnplätze mit Beschäftigung zugunsten von Plätzen ohne Beschäftigung zurückgegangen. Dabei zeigen sich deutliche regionale Unterschiede: Der Anteil Wohnplätze mit Beschäftigung schwankt zwischen 36,4 (Ostschweiz) und 50,6 Prozent (Zentralschweiz). Geschätzte 41,8 Prozent der Wohnplätze im institutionellen Bereich weisen einen höheren Autonomiegrad auf (Typ B, vgl. oben). Dieser Anteil schwankt zwischen den Regionen ebenfalls beträchtlich von einem Drittel (lateinische Schweiz) bis zu fast drei Fünftel (Zentralschweiz). Es kann daher festgestellt werden, dass in der lateinischen Schweiz private Wohnangebote stärker verbreitet sind, hingegen innerhalb der institutionellen Wohnangebote der Autonomiegrad geringer ist als in den Deutschschweizer Regionen.

Was die Förderung von Dienstleistungen für das private Wohnen in der eigenen Wohnung betrifft, steht die Mehrheit der Kantone jedoch noch am Anfang. Einige Kantone sind dabei, auch ambulante Angebote in ihre Konzepte und die Förderung einzubeziehen, was sich teilweise schon in den gesetzlichen Grundlagen spiegelt. Diese Entwicklung scheint in jenen Kantonen besonders ausgeprägt, die in der letzten Zeit neue Gesetze beschlossen haben oder ihr Abgel­tungssystem in Richtung einer Subjektfinanzierung entwickeln (BS und BL) beziehungsweise entsprechende Pilotversuche gestartet haben (BE, ZG).

Ergänzende Angebote im ambulanten Bereich bestehen in 13 von 26 Kantonen, sieben Kantone führen zudem kleinere Pilotprojekte durch (vgl. Tabelle T1; NE, LU: ausschliesslich kleinere Pilotprojekte). Allerdings ist eine kantonale Steuerung dieser Angebote und eine quantitative Erfassung von deren Nutzung in den wenigsten Kantonen umgesetzt. Daher sind die Angaben entsprechend spärlich. In vielen Kantonen der lateinischen Schweiz (5 von 7) und der Ostschweiz (4 von 8) existieren substanzielle ambulante Ergänzungsangebote. In der Nordwestschweiz kennen drei von fünf Kantonen solche Angebote, in der Zentralschweiz nur einer von sechs.

Überprüfung der Kohärenz des Wohn­angebots Als Kriterien für die Kohärenz des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen gelten hier Lücken oder Überschneidungen im Angebot sowie Übergänge und Anreize zwischen verschiedenen Angeboten. Aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Studie scheint die Kohärenz des Wohnangebots im institutionellen Bereich mehrheitlich gegeben zu sein. Lücken bestehen in einigen Kantonen für Menschen mit besonders starken Beeinträchtigungen und Mehrfachbehinderungen und einem entsprechend hohen Betreuungsbedarf. Ebenso mangelt es teilweise an rasch verfügbaren temporären Krisenplätzen. Die Wohnangebote scheinen sich zudem mehrheitlich eher in den Zentren und Agglomerationen zu befinden, ländliche Gebiete sind insgesamt weniger gut abgedeckt.

Im Weiteren ergeben sich aus den Gesprächen mit den Expertinnen und Experten klare Hinweise, dass – insbesondere in städtischen Gebieten – nicht genügend bezahlbare Wohnungen für Menschen mit Behinderungen, die selbständig wohnen möchten, zur Verfügung stehen. Menschen mit Behinderungen werden auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt, weil sie oft über weniger finanzielle Mittel verfügen, aber auch aufgrund von Vorurteilen von Vermieterinnen und Vermietern sowie von Nachbarn und Nachbarinnen oder weil nicht genügend Wohnungen behindertengerecht gebaut und eingerichtet sind.

Eher unübersichtlich und teilweise ungenügend abgestimmt präsentiert sich die Situation bei den ambulanten Dienstleistungen für das private Wohnen. Hier sind verschiedene Finanzierungsträger aktiv: die Invalidenversicherung IV mit Angeboten des begleiteten Wohnens nach Art. 74 IVG und dem Assistenzbeitrag sowie im Rahmen von beruflichen Massnahmen der IV, aber ebenso Kantone, die teilweise ambulante Angebote für Menschen mit Behinderungen finanzieren.

Aus den bestehenden Angeboten scheinen sich insofern Anreize zum Verbleib in einem institutionellen Setting beziehungsweise zum Eintritt in eine Institution zu ergeben, als derartige Angebote vorhanden sind und deren Finanzierung klar geregelt ist. Das private Wohnen mit Dienstleistungen muss von den Personen mit Behinderungen und deren Umfeld selbst organisiert werden. Die entsprechenden Angebote und deren Finanzierung sind weniger übersichtlich, zudem ist die Sicherheit in einem institutionellen Kontext grösser. Zudem fehlt es in den meisten Kantonen beim Übergang vom institutionellen zum privaten Wohnen an unabhängigen Beratungsstellen. Es bleibt deshalb insgesamt meist nur ein sehr begrenzter Spielraum für selbstbestimmte Entscheidungen über die Form des Wohnens.

Analyse der Finanzierungsmodelle Grundsätzlich finden sich in allen Kantonen die gleichen Finanzierungsträger, aber in unterschiedlichen Kombinationen und Ausprägungen. Die Wohnangebote im institutionellen Bereich werden hauptsächlich durch die Kantone finanziert, jeweils ergänzt durch einen Eigenanteil der Bewohnerinnen und Bewohner. Diese bezahlen die an sie verrechneten Taxen über ihre IV-Rente, allfällige weitere Einkommen und mittels Hilflosenentschädigung (HE) und gegebenenfalls Ergänzungsleistung (EL) sowie – in den sehr seltenen Fällen, wenn diese nicht ausreichen – durch weitere Quellen (Gemeinden, Private).

In dreizehn Kantonen werden die Institutionen leistungsorientiert abgestuft unterstützt, auf der Basis des Bemessungsinstruments Individueller Betreuungsbedarf IBB (subjektorientierte Objektfinanzierung). Hier wird in der Regel von Normkosten ausgegangen. Somit gilt das Prinzip des gleichen Preises für gleiche Leistungen. Die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass es im Rahmen von IBB teilweise schwierig ist, den Aufwand für Personen mit besonders grossem Unterstützungsbedarf adäquat abzubilden.

In jenen elf Kantonen, in denen noch eine reine (pauschale) Objektfinanzierung betrieben wird, sind die Beiträge der Kantone nicht leistungsorientiert. Die Abgeltungen der Institutionen sind weitgehend historisch gewachsen, und in der Folge davon besteht eine Ungleichbehandlung der Leistungserbringer in Bezug auf die Finanzierung durch den Kanton: Gleiche Leistungen werden vom Kanton zu unterschiedlichen Preisen abgegolten. In sechs dieser elf Kantone ist in den nächsten Jahren jedoch eine Änderung des Finanzierungsmodells in Richtung einer subjektorientierten Finanzierung geplant.

In den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft, in denen eine Umstellung auf die reine Subjektfinanzierung erfolgt ist, werden nicht nur die Institutionen mit Wohnangeboten für Menschen mit Behinderungen gleichbehandelt, sondern auch die übrigen Anbieter, die potenziell als Leistungserbringer auftreten können. In den Kantonen Bern und Zug laufen aktuell Pilotversuche mit Subjektfinanzierungssystemen («Berner Modell» bzw. «InBeZug»). Diese Finanzierungsform entspricht – im Sinn von Selbstverantwortung und Wahlmöglichkeiten – den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie wird im Moment von den Akteuren breit und kontrovers diskutiert.

Im privaten Wohnen stellen die Benutzer und Benutzerinnen selbst die Hauptfinanzierungsträger dar. Hierzu stehen ihnen die IV-Rente, eine gegenüber dem institutionellen Wohnen erhöhte HE und ergänzend auch die EL sowie gegebenenfalls ein Assistenzbeitrag der IV zur Verfügung. Zudem werden Leistungen von privaten Organisationen im Rahmen des begleiteten Wohnens nach Art. 74 IVG durch die IV finanziert. In einem je nach Kanton unterschiedlichen Ausmass werden zusätzlich spezifische ambulante Angebote unterstützt und damit vergünstigt. Die verschiedenen Instrumente sind historisch gewachsen und nicht durchgängig aufeinander abgestimmt.

Empfehlungen Die Autorinnen und Autoren leiten auf Basis der ausgewerteten Quellen Empfehlungen zur Diversifizierung der Angebote und zur Feststellung von Best Practice aus laufenden Pilotprojekten ab. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) sowie das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) sollten die Einführung der Subjektfinanzierung weiterhin aktiv verfolgen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Zusammenarbeit mit den Kantonen und der SODK könnte in Zukunft das private Wohnen mit ambulanten Dienstleistungen genauer beobachten und gegebenenfalls die Zuständigkeiten neu ­klären. Empfohlen wird zudem die Weiterführung einer verlässlichen Datengrundlage zu den institutionellen Wohnangeboten, die Durchführung einer Analyse zu den Finanzflüssen sowie eine Anpassung der Begrifflichkeiten im Bereich Wohnen von Menschen mit Behinderungen, die sich an der UN-Behindertenrechtskonvention orientiert.

  • Literatur
  • Fritschi, Tobias; von Bergen, Matthias; Müller, Franziska; Ostrowski, Gaspard; Kraus, Simonina; Luchsinger, Larissa (2019): Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 7/19: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschungspublikationen.
Dozent und Projektleiter, Departement Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule
[javascript protected email address]
Dozent und Projektleiter, Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit
[javascript protected email address]
Bereichsleiterin, Interface – Politikstudien Forschung Beratung
[javascript protected email address]