Beurteilung der Leistungspflicht mithilfe der WZW-Kriterien

Gesundheitsleistungen, die im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
vergütet werden, müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Opera­tio­nalisierung dieser Kriterien dient den beratenden ausserparlamentarischen Kommissionen
 als Arbeitsinstrument.
Stefan Otto
  |  07. September 2018
  • Krankenversicherung

Artikel 32 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) hält fest, dass alle Leistungen, die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) übernommenen werden, wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen (WZW-Kriterien). Die Wirksamkeit muss mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein. Die für die Beratung des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) oder des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zuständigen ausserparlamentarischen Kommissionen haben die Kriterien und deren Anwendung konkretisiert bzw. operationalisiert. International wird für die systematische Bewertung von Gesundheitstechnologien der Begriff des Health Technology Assessment (HTA) verwendet. Die Operationalisierung der WZW-Kriterien orientiert sich an den international angewendeten HTA-Methoden.

Überarbeitete Operationalisierung der WZW-Kriterien Schon in den 1990er-Jahren wurde ein Handbuch zur Standardisierung der medizinischen und wirtschaftlichen Bewertung medizinischer Leistungen erstellt, das als Grundlage für die Antragstellung und die Arbeiten der Kommissionen diente. Als Weiterentwicklung wurde 2011 ein Arbeitspapier zur Operationalisierung der Begriffe WZW veröffentlicht, das die WZW-Kriterien zur Beurteilung aller Leistungen der OKP definiert und beschreibt. Seine Überarbeitung, die 2015 begonnen und im Herbst 2018 abgeschlossen werden soll, stützt sich auf die Erfahrungen aus den Antragsverfahren in den ausserparlamentarischen Kommissionen sowie die nationalen und internationalen Entwicklungen im Bereich HTA.

Das überarbeitete Grundlagendokument soll den Antragstellern, den ausserparlamentarischen Kommissionen sowie den Entscheidungsträgern als Leitlinie dienen. Zusätzliche vertiefende Dokumente konkretisieren die Anwendung der WZW-Kriterien auf spezifische Leistungstypen. Solche Unterlagen sind ­teilweise bereits vorhanden (z. B. Prozesse und Kriterien für die ärztliche Komplementärmedizin, Handbuch betreffend der Spezialitätenliste [SL], CED1-Checklisten), werden weiterentwickelt oder neu erstellt. Insbesondere der Umgang mit neuen teuren oder seltenen Leistungen fordert die Gesundheitssysteme heraus und bedarf auch in der Schweiz einer weitergehenden Operationalisierung.

Die Definitionen von Wirksamkeit, Zweckmässig­keit und Wirtschaftlichkeit Die drei Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit befassen sich einerseits mit den spezifischen Merkmalen einer Leistung, haben anderseits aber auch eine hohe gegenseitige Abhängigkeit, was sich auch in ihren Definitionen niederschlägt:

  • Wirksamkeit: Eine Leistung ist wirksam, wenn sie geeignet ist, die angestrebten diagnostischen oder therapeutischen Ziele zu erreichen, wenn der Nutzen in klinischen Studien nachgewiesen ist, wenn ein günstiges Verhältnis von Nutzen und Schaden im Vergleich zu alternativen diagnostischen oder therapeutischen Verfahren vorliegt und wenn die Übertragbarkeit der Studienresultate auf das schweizerische Anwendungssetting angenommen werden kann.
  • Zweckmässigkeit: Eine Leistung ist zweckmässig, wenn sie im Vergleich zu Alternativen relevant und für die Patientenversorgung geeignet ist, wenn sie mit den rechtlichen Bedingungen, den sozialen und ethischen Aspekten oder Werten vereinbar ist und die Qualität sowie die angemessene Anwendung in der Praxis gewährleistet sind.
  • Wirtschaftlichkeit: Eine Leistung ist wirtschaftlich, wenn sie im Vergleich zu den Alternativen ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist oder den Mehrkosten ein entsprechender Mehrnutzen gegenübersteht.

Bewertungsgrundlagen zur Ermittlung von WZW In der Aufbereitung der Informationen und wissenschaftlichen Grundlagen zu einer Leistung (Assessment) sind die folgenden Inhalte zu berücksichtigen:

Medizinischer Hintergrund der Leistung

  • Zielpopulation
  • Indikationsgebiet
  • epidemiologische Aspekte
  • Beschreibung der Leistung
  • Relevante Outcomes (Indikatoren zum Therapieergebnis, z. B. Überlebensverlängerung, Schmerzfreiheit)
  • Position der Leistung im Behandlungspfad (Position innerhalb einer Abfolge von verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Massnahmen)
  • Verbreitung der Leistung in der Schweiz
  • Involvierte Fachpersonen/Leistungserbringer
  • Marktzulassung
  • Vergütungssituation in anderen Ländern

Wirksamkeitsaspekte

  • Studienwirksamkeit (efficacy), Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness)
  • Sicherheit
  • laufende Studien, Evidenzlücken

Zweckmässigkeitsaspekte

  • Qualitätsanforderungen/Qualitätssicherung
  • Stellung in der Anwendungspraxis
  • Erwartete Zukunftsentwicklungen (medizinisch-technologisch, Stellenwert im Behandlungspfad), bezogen auf die Leistung
  • Aspekte hinsichtlich angemessener Anwendung (z. B. Risiko­faktoren für eine Überversorgung)
  • Ethische Aspekte
  • Soziale Aspekte
  • Rechtliche Aspekte

Wirtschaflichkeitsaspekte

  • Kosten der Leistung (im Vergleich mit Alternativen und Kosten im Ausland)
  • Kostenauswirkungen: Berücksichtigung der Kostenauswirkungen auf die Finanzierer der OKP (Versicherer, Kantone), Bilanz der zusätzlichen und eingesparten Kosten.
  • Kosten-Nutzen-Verhältnis

Die Auswirkungen auf Kosten ausserhalb der OKP (indirekte Kosten, z. B. Arbeitsausfall) können unter den sozialen Aspekten im Kriterium der Zweckmässigkeit berücksichtigt werden. Sie werden nicht als Teil der Wirtschaftlichkeits­beurteilung verwendet. Auch lassen sie sich meist nicht genügend verlässlich bestimmen, weisen einen grossen Ermessensspielraum sowie Bandbreite auf und betreffen andere Budgets.

WZW-Bewertung und Empfehlung hinsichtlich Leistungspflicht Aufgrund der im Assessment aufbereiteten Informationen wird von den ausserparlamentarischen Kommissionen die Erfüllung der Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit bewertet und eine Empfehlung hinsichtlich Leistungspflicht abgegeben (Appraisal). In der Bewertung der Erfüllung gibt es nicht einfach ein «Ja» oder ein «Nein», sondern es werden Stufen der Erfüllung innerhalb der Kriterien (z. B. ist der klinische Nutzen kleiner, gleich oder grösser als die Therapiealternativen; ist die Übertragbarkeit der Studienresultate auf die Schweiz nicht, teilweise oder vollständig gegeben; ist eine Leistung insgesamt wirksam, teilweise wirksam oder nicht wirksam) berücksichtigt. Die verschiedenen Stufen der Erfüllung innerhalb der einzelnen Kriterien wirken sich auf die Gesamtbetrachtung der Erfüllung der WZW-Anforderungen aus. Folglich kann beispielsweise eine Leistung mit einem geringen Mehrnutzen bei mittlerer Qualität der Evidenz, geringer Relevanz bei vorhandenen Alternativen und grossen Kostenauswirkungen zu einer gesamthaft negativen Einschätzung führen. Eine Leistung hingegen, die zwar einen kleineren therapeutischen Nutzen hat als gewisse Alternativen, deren Relevanz infolge einfacherer Anwendung und geringeren Kosten gegeben ist, kann eine positive Beurteilung erhalten. Lassen sich die WZW-Kriterien nur lückenhaft beurteilen oder bestehen grosse Unsicherheiten, ob sie erfüllt sind, kann die Vergütung einer Leistung befristet empfohlen ­werden – unter der Auflage, dass der Leistungserbringer sie wissenschaftlich evaluiert oder evaluieren lässt.

  • 1. Coverage with Evidence Development; die CED-Checklisten dienen der systematischen Beurteilung medizinischer Leistungen auf ihre Eignung für eine «Leistungspflicht in Evaluation».
Dr. med., Co-Leiter Sektion Medizinische 
Leistungen, BAG.
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