ATSG: Ausreichende gesetzliche Grundlagen für Observationen

Ausgehend von einem EGMR-Entscheid, der die Rechtsgrundlagen der Unfallversicherung für Observationen als ungenügend beurteilte, wurde während der 50. Legislatur mit Art. 43a ATSG eine ausreichende Grundlage geschaffen, aufgrund derer alle Sozialversicherungen seit dem 1. Oktober 2019 bei begründetem Verdacht Observationen durchführen können.
Isabelle Rogg
  |  11. März 2020
    Recht und Politik
  • Versicherungsmissbrauch

Observationen dienen in den Sozialversicherungen der Anspruchsprüfung und der Missbrauchsbekämpfung (vgl. CHSS 2/2013). Zwischen 2010 und 2016 führte die Invalivenversicherung (IV) bei Verdacht auf Versicherungsmissbrauch in rund 150 Fällen pro Jahr Observationen durch. Im Oktober 2016 hielt der Europäische Gerichtshof für ­Menschenrechte (EGMR) fest, dass es im schweizerischen Sozial­versicherungsrecht (im konkreten Fall in der Unfallversicherung) an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für Observationen fehle (EGMR, 18.10.2016 – 61838/10 in Sachen Vukota-Bojić gegen die Schweiz). Dies wurde im Juli 2017 vom Bundesgericht auch für die IV bestätigt (BGer 9C_806/2016 vom 14.7.2017). Somit entfiel für die Sozialversicherer die Möglichkeit, legal Observationen durchführen zu lassen.

Um bei begründetem Verdacht auf Versicherungsmissbrauch schnellstmöglich wieder observieren zu können, sah der Bundesrat vor, die gesetzliche Grundlage für Observationen in die anstehende Revision des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) zu integrieren (EDI 2017). Mit dem gleichen Ziel hatte die SGK-S unmittelbar nach dem EGMR-Urteil eine parlamentarische Initiative (16.479) lanciert. Nach der Auswertung der Vernehmlassungsergebnisse zur ATSG-Revision beschloss das Parlament, die Observationsartikel aus der Revision herauszulösen und im Rahmen der erwähnten parlamentarischen Initiative zu diskutieren. Damit konnte die Behandlung des Themas einerseits beschleunigt werden, andererseits erkannte das Parlament mit einer parlamentarischen Initiative im Gegensatz zum normalen Gesetzgebungsprozess vermutlich eine, wenn auch nicht grössere, so doch frühere inhaltliche Einflussnahme und Gestaltungsmöglichkeit. Geregelt wurden u. a. Fragen, wie die Anforderungen an den Observationsgrund, der Ort, an dem (oder von dem aus) observiert werden darf, die zulässigen (technischen) Mittel für Observationen und die Kompetenz, Observationen anzuordnen.

Gegen die Gesetzesänderung wurde das Referendum ergriffen. Am 25. November 2018 wurden die Observationsartikel an der Urne mit 64,7 % Ja-Stimmen deutlich gutgeheissen. Kurz vor und nach der Abstimmung wurden beim Bundesgericht drei Beschwerden eingereicht, was die Inkraftsetzung von Art. 43a ATSG (SR 830.1) und der Ausführungsbestimmungen, die der Bundesrat im Juni 2019 via die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts ATSV, 830.11) erlassen hatte, verzögerte. Nachdem das Bundesgericht am 8. August 2019 die drei Beschwerdeverfahren vereinigt und die Beschwerde zur Informationspolitik der SUVA sowie des BSV (BGer 1C_389/2018) abgewiesen hatte und auf die beiden anderen Beschwerden (Verfahren 1 C_543/2018, Erläuterungen des Bundesrats sowie 1 C_649/2018, Aufhebung der Abstimmung) nicht eingetreten war, setzte der Bundesrat die Gesetzes- und Verordnungsgrundlagen für die Überwachung von Versicherten auf den 1. Oktober 2019 in Kraft (AS 2019 2829). Damit können die Sozialversicherungen in begründeten Fällen wieder Observationen durchführen. Hierbei haben sie sich an die Weisung über die Observation in den Sozialversicherungen (WOS, Observationsweisung 2019) zu halten.

Rechtsanwältin, Leiterin Bereich Recht, Bundesamt für Sozialversicherungen
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